Abstract
Zu dieser heterogenen Gruppe von Entwicklungsstörungen mit Beginn in der Kindheit werden unterschiedliche Symptome und Symptomkomplexe gezählt, deren Gemeinsamkeit der Beginn in der frühen Kindheit ist. Am häufigsten ist die nichtorganische Enuresis, die als unwillkürlicher Harnabgang am Tag (Enuresis diurna) oder in der Nacht (Enuresis nocturna) definiert ist. Weiterhin wird eine primäre Enuresis (von Geburt an bestehend, ohne trockene Phase) von einer sekundären unterschieden, bei der es nach einer trockenen Phase von über 6 Monaten wieder zum Einnässen kommt. Häufig finden sich bei Kindern mit Enuresis ungünstige soziale und familiäre Verhältnisse und auch eine Assoziation mit psychiatrischen Störungen in der Kindheit (z.B. ADHS, Störung des Sozialverhaltens) ist typisch. Therapeutisch werden v.a. operante Konditionierungsverfahren eingesetzt, bei denen das Einnässen „bestraft“ und das Nicht-Einnässen belohnt wird. Weitere Störungen, die zu den anderen Entwicklungsstörungen in der Kindheit gezählt werden, sind z.B. nichtorganische Enkopresis, Fütterstörung im frühen Kindesalter und Pica.
Nichtorganische Enuresis (F98.0)
- Definition: Unwillkürlicher Harnabgang am Tag und/oder in der Nacht ohne organische Ursache
- Ätiologie
- Risikofaktoren
- Ungünstige soziale und familiäre Strukturen: Emotionale Belastungsfaktoren in der Kindheit
- Genetische Disposition
- Assoziationen: Andere psychiatrische Erkrankungen, z.B. ADHS, Störung des Sozialverhaltens, Autismus
- Risikofaktoren
- Enuresis nocturna: Nächtliches Einnässen über mind. 3 Monate und in mind. 2 Nächten pro Monat ab dem vollendeten 5. Lebensjahr
- Geschlecht: ♂ > ♀
- Definitionen
- Primäre Enuresis nocturna: Von Geburt an bestehendes nächtliches Einnässen ohne trockene Phasen ≥6 Monate
- Sekundäre Enuresis nocturna: Nächtliches Einnässen nach einer trockenen Phase von >6 Monaten
- Monosymptomatische Enuresis: Nächtliches Einnässen ohne Zeichen einer Blasendysfunktion
- Nicht-monosymptomatische Enuresis: Einnässen mit Zeichen einer Blasendysfunktion, das häufig zusätzlich auch tagsüber besteht
- Ursache: Reifungsverzögerung des Gehirns mit genetischer Disposition
- Enuresis diurna: Einnässen am Tag
- Therapie: Vor einem Therapiebeginn sollten organische Ursachen (z.B. Harnwegsinfekte oder -anomalien, Nierenerkrankungen etc.) ausgeschlossen werden
- Mittel der 1. Wahl: Apparative operante Konditionierung: z.B. Klingelhose, Klingelmatratze
- Feuchtigkeitssensor in Unterhose/Windelhose/Matratze → Beim Einnässen Klingelton oder Vibration → Das Kind wacht auf
- Nässt das Kind nicht ein, kann am Folgetag eine Belohnung erfolgen
- Mittel der 2. Wahl: Zusätzlich Pharmakotherapie mit Desmopressin
- Mittel der 1. Wahl: Apparative operante Konditionierung: z.B. Klingelhose, Klingelmatratze
Eine Enuresis vor Beginn des 6. Lebensjahres ist nicht behandlungsbedürftig! Eine unnötige Problematisierung kann vielmehr zur Traumatisierung führen.
Weitere Störungen
- Nichtorganische Enkopresis (F98.1): Willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Fäzes normaler oder fast normaler Konsistenz außerhalb der vorgesehenen Einrichtungen. Typisch ist dabei ein Wechsel zwischen Verstopfungs- und "Einkot-Phasen"
- Fütterstörung im frühen Kindesalter (F98.2): Nahrungsverweigerung bzw. extrem wählerisches Essverhalten im Kindes- und Kleinkindesalter ohne Nachweis eines organischen Korrelats
- Hinweise
- Nahrungsaufnahme wird mind. 1 Monat als problematisch erlebt
- Durchschnittliche Fütterzeit von mehr als 45 min
- Ursachen
- Interaktionsstörung zwischen Elternteil und Kind → Kind braucht mehr Zeit, um den Prozess des Essens zu erlernen → Die Verweigerung führt zu Schuldgefühlen bei den Eltern, die eine Angst vor dem Fütterprozess entwickeln → Dieses Verhalten verstärkt die Verweigerung von der Seite des Kindes
- Posttraumatisch: Bspw. nach postnatalen Operationen, Intubationen etc.
- Mögliche Ausprägungsformen
- Avoidant and restrictive Food Intake Disorder (ARFID) [1]
- Restriktives Essverhalten aufgrund starker Sensibilität bzgl. Nahrungsmittelsensorik (Aussehen, Geruch etc.)
- Starke Mangelernährung / Untergewicht möglich (ähnlich wie bei Anorexia nervosa)
- Erstmanifestation i.d.R. im frühen Kindesalter
- Ruminationsstörung [1]
- Repetitive, willkürliche Regurgitation bereits geschluckter Nahrung
- Anschließend: Erneutes Schlucken oder Ausspucken der Nahrung
- Ohne somatische Ursache (bspw. Übelkeit, Reflux)
- Erstmanifestation i.d.R. im frühen Kindesalter
- Repetitive, willkürliche Regurgitation bereits geschluckter Nahrung
- Avoidant and restrictive Food Intake Disorder (ARFID) [1]
- Hinweise
- Pica (F98.3) [1][2]
- Wiederholtes Essen ungenießbarer Substanzen, bspw. Lehm, Papier
- Konsum regulärer Nahrungsmittel i.d.R. ungestört
- Häufig bei: Kindern, Schwangeren, Menschen mit Intelligenzminderung, Autismus-Spektrum-Störung
- Stereotype Bewegungsstörungen (F98.4): Willkürliche, wiederholte und stereotype Bewegungen (nicht als Symptom einer anderen Erkrankung wie bspw. Tic-Störung)
- Typisch sind Schaukelbewegungen, Haarezupfen, Haaredrehen und selbstschädigende Bewegungen
Patienteninformationen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- F98.-: Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
- Dieser heterogenen Gruppe von Störungen ist der Beginn in der Kindheit gemeinsam, sonst unterscheiden sie sich jedoch in vieler Hinsicht. Einige der Störungen repräsentieren gut definierte Syndrome, andere sind jedoch nicht mehr als Symptomkomplexe, die hier aber wegen ihrer Häufigkeit und ihrer sozialen Folgen und weil sie anderen Syndromen nicht zugeordnet werden können, aufgeführt werden.
- Exklusive: Emotional bedingte Schlafstörungen (F51.‑), Geschlechtsidentitätsstörung des Kindesalters (F64.2), Kleine-Levin-Syndrom (G47.8), Perioden von Atemanhalten (R06.88), Zwangsstörung (F42.‑)
- F98.0-: Nichtorganische Enuresis
- Diese Störung ist charakterisiert durch unwillkürlichen Harnabgang am Tag und in der Nacht, untypisch für das Entwicklungsalter. Sie ist nicht Folge einer mangelnden Blasenkontrolle aufgrund einer neurologischen Krankheit, epileptischer Anfälle oder einer strukturellen Anomalie der ableitenden Harnwege. Die Enuresis kann von Geburt an bestehen oder nach einer Periode bereits erworbener Blasenkontrolle aufgetreten sein. Die Enuresis kann von einer schweren emotionalen oder Verhaltensstörung begleitet werden.
- Funktionelle Enuresis
- Nichtorganische primäre oder sekundäre Enuresis
- Nichtorganische Harninkontinenz
- Psychogene Enuresis
- Exklusive: Enuresis o.n.A. (R32)
- F98.00: Enuresis nocturna
- F98.01: Enuresis diurna
- F98.02: Enuresis nocturna et diurna
- F98.08: Sonstige und nicht näher bezeichnete nichtorganische Enuresis
- F98.1: Nichtorganische Enkopresis
- Wiederholtes willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Faeces normaler oder fast normaler Konsistenz an Stellen, die im soziokulturellen Umfeld des Betroffenen nicht dafür vorgesehen sind. Die Störung kann eine abnorme Verlängerung der normalen infantilen Inkontinenz darstellen oder einen Kontinenzverlust nach bereits vorhandener Darmkontrolle, oder es kann sich um ein absichtliches Absetzen von Stuhl an dafür nicht vorgesehenen Stellen trotz normaler physiologischer Darmkontrolle handeln. Das Zustandsbild kann als monosymptomatische Störung auftreten oder als Teil einer umfassenderen Störung, besonders einer emotionalen Störung (F93.‑) oder einer Störung des Sozialverhaltens (F91.‑).
- Funktionelle Enkopresis
- Nichtorganische Stuhlinkontinenz
- Psychogene Enkopresis
- Exklusive: Enkopresis o.n.A. (R15)
- F98.2: Fütterstörung im frühen Kindesalter
- Eine Fütterstörung mit unterschiedlicher Symptomatik, die gewöhnlich für das Kleinkindalter und frühe Kindesalter spezifisch ist. Im Allgemeinen umfasst die Nahrungsverweigerung extrem wählerisches Essverhalten bei angemessenem Nahrungsangebot und einer einigermaßen kompetenten Betreuungsperson in Abwesenheit einer organischen Krankheit. Begleitend kann Rumination - d.h. wiederholtes Heraufwürgen von Nahrung ohne Übelkeit oder eine gastrointestinale Krankheit - vorhanden sein.
- Rumination im Kleinkindalter
- Exklusive: Anorexia nervosa und andere Essstörungen (F50.‑), Fütterprobleme bei Neugeborenen (P92.‑), Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler (R63.3), Pica im Kleinkind- oder Kindesalter (F98.3)
- F98.3: Pica im Kindesalter
- Anhaltender Verzehr nicht essbarer Substanzen wie Erde, Farbschnipsel usw.. Sie kann als eines von vielen Symptomen einer umfassenderen psychischen Störung wie Autismus auftreten oder sie kann als relativ isolierte psychopathologische Auffälligkeit vorkommen; nur das letztere wird hier kodiert. Das Phänomen ist bei intelligenzgeminderten Kindern am häufigsten. Wenn eine solche Intelligenzminderung vorliegt, ist als Hauptdiagnose eine Kodierung unter F70–F79 zu verwenden.
- F98.4-: Stereotype Bewegungsstörungen
- Willkürliche, wiederholte, stereotype, nicht funktionale und oft rhythmische Bewegungen, die nicht Teil einer anderen psychischen oder neurologischen Krankheit sind. Wenn solche Bewegungen als Symptome einer anderen Störung vorkommen, soll nur die übergreifende Störung kodiert werden. Nichtselbstbeschädigende Bewegungen sind z.B.: Körperschaukeln, Kopfschaukeln, Haarezupfen, Haaredrehen, Fingerschnipsgewohnheiten und Händeschütteln. Stereotype Selbstbeschädigungen sind z.B.: Wiederholtes Kopfanschlagen, Ins-Gesicht-schlagen, In-die-Augen-bohren und Beißen in Hände, Lippen oder andere Körperpartien. Alle stereotypen Bewegungsstörungen treten am häufigsten in Verbindung mit Intelligenzminderung auf; wenn dies der Fall ist, sind beide Störungen zu kodieren. Wenn das Bohren in den Augen bei einem Kind mit visueller Behinderung auftritt, soll beides kodiert werden: das Bohren in den Augen mit F98.4 und die Sehstörung mit der Kodierung der entsprechenden somatischen Störung.
- Stereotypie/abnorme Gewohnheit
- Exklusive: Abnorme unwillkürliche Bewegungen (R25.‑), Bewegungsstörungen organischer Ursache (G20–G25), Daumenlutschen (F98.8), Nägelbeißen (F98.8), Nasebohren (F98.8), Stereotypien als Teil einer umfassenderen psychischen Störung (F00–F95), Ticstörungen (F95.‑), Trichotillomanie (F63.3)
- F98.40: Ohne Selbstverletzung
- F98.41: Mit Selbstverletzung
- F98.49: Ohne Angabe einer Selbstverletzung
- F98.5: Stottern [Stammeln]
- Hierbei ist das Sprechen durch häufige Wiederholung oder Dehnung von Lauten, Silben oder Wörtern, oder durch häufiges Zögern und Innehalten, das den rhythmischen Sprechfluss unterbricht, gekennzeichnet. Es soll als Störung nur klassifiziert werden, wenn die Sprechflüssigkeit deutlich beeinträchtigt ist.
- Exklusive: Poltern (F98.6), Ticstörungen (F95.‑)
- F98.6: Poltern
- Eine hohe Sprechgeschwindigkeit mit Störung der Sprechflüssigkeit, jedoch ohne Wiederholungen oder Zögern, von einem Schweregrad, der zu einer beeinträchtigten Sprechverständlichkeit führt. Das Sprechen ist unregelmäßig und unrhythmisch, mit schnellen, ruckartigen Anläufen, die gewöhnlich zu einem fehlerhaften Satzmuster führen.
- Exklusive: Stottern (F98.5), Ticstörungen (F95.‑)
- F98.8: Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität
- Daumenlutschen
- Exzessive Masturbation
- Nägelkauen
- Nasebohren
- F98.9: Nicht näher bezeichnete Verhaltens- oder emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.