Patientenvorstellung
Der 69-jährige Herr Hasler stellt sich in Deiner allgemeinchirurgischen Praxis aufgrund seit einigen Monaten bestehender, rezidivierender rechtsseitiger Schmerzen in der Leistengegend vor. Häufig strahle der Schmerz in den rechten Hoden aus. Vor drei Monaten habe er einen Urologen aufgesucht. Dieser habe eine urologische Ursache der beschriebenen Beschwerden ausgeschlossen und ihm die chirurgische Konsultation nahe gelegt. Da der Schmerz ihn jedoch nicht ununterbrochen plage (meist trete er beim Husten auf) und er nicht gerne zum Arzt gehe, habe er einen Besuch bis jetzt hinausgezögert. Im Freundes- und Bekanntenkreis erkrankten jedoch immer häufiger Personen an Krebs, sodass er sich nun doch Sorgen mache und eine Abklärung wünsche. Er rauche und habe einen etwas erhöhten, aber medikamentös therapierten Bluthochdruck. Im Kindesalter habe man ihm den Blinddarm herausgenommen. Ansonsten habe er mit Ärzten wenig zu tun und habe bisher keine Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen.
Nenne mindestens drei Differenzialdiagnosen von Leistenschmerzen
- Leistenhernie
- Urologische Ursachen: Nephrolithiasis , Epididymitis , Prostatitis
- Erkrankungen des Hüftgelenks: Arthrose, Frakturen, Hüftdysplasie
- Nervenkompressionssyndrome/Radikulopathien , u.a. Meralgia paraesthetica
- Intraabdominelle Ursachen: Divertikulitis, Appendizitis, Tumoren
- Abszess
Fortsetzung Fallbericht
Herr Hasler berichtet weiterhin, eine Schwellung in der rechten Leiste bemerkt zu haben. Als Du den Patienten bittest, sich vollständig auszuziehen, um zur körperlichen Untersuchung überzugehen, fällt Dir bei der Inspektion sofort die beschriebene Schwellung in der Leiste auf. Du stellst aus Zusammenschau der Anamnese und Inspektion eine Verdachtsdiagnose, da es sich um ein weit verbreitetes Krankheitsbild handelt. Du siehst ebenfalls die verblasste Narbe der konventionellen Appendektomie aus dem Kindesalter; diese sieht völlig reizlos und unauffällig aus und ist einige Zentimeter über der Leistenschwellung gelegen.
Wie lautet Deine Verdachtsdiagnose?
Leistenhernie. Insbesondere die typische klinische Symptomatik mit Beschwerdezunahme bei Belastung (z.B. Husten) und die körperliche Untersuchung (Vorwölbung der Leiste und Hustenanprall) sind für die Verdachtsdiagnose wegweisend. Die körperliche Untersuchung ist das wichtigste Kriterium zur Diagnosestellung einer Leistenhernie!
Was genau versteht man unter einer Leistenhernie?
Wie gehst Du nun zur Sicherung Deiner Verdachtsdiagnose bei der körperlichen Untersuchung nach erfolgter Inspektion vor?
- Palpation
- Auskultation der Schwellung: Hinweis auf Darmgeräusche?
- Abtasten der Gegenseite
- Weiterführend ggf. Sonografieuntersuchung
Wie genau würdest Du die Palpation durchführen?
Fortsetzung Fallbericht
Die klinische Untersuchung erhärtet Deine Verdachtsdiagnose. Du kannst mit dem Zeigefinger durch die Skrotalhaut am äußeren Leistenring beim Husten einen Anprall spüren.
Du empfiehlst dem Patienten einen operativen Eingriff. Da für ihn ein stationärer Aufenthalt ausgeschlossen ist, klärst Du ihn darüber auf, dass es gängige konventionelle Operationsverfahren gibt, die Du selbst mehrfach wöchentlich im Operationssaal in Anwesenheit eines Anästhesisten in Deiner Praxis durchführst. Um diese Herrn Hasler zu veranschaulichen, zeigst Du ihm eine Skizze des Leistenkanals und erläuterst die Anatomie. Dabei erklärst Du ihm, dass es auch viele Patienten mit einem solchen Krankheitsbild gibt, die keine Symptome aufweisen und bei denen man ggf. abwarten könne. In seinem Falle jedoch – da er bereits Beschwerden entwickelt hat und auch kein junger Mann mehr ist – sollte eine Operation erfolgen, da eine „Spontanheilung“ ausgeschlossen ist.
Erinnern wir uns an den lange zurückliegenden Anatomieunterricht. Welche Strukturen begrenzen den Leistenkanal?
- Boden: Ligamentum inguinale
- Dach: M. obliquus internus, M. transversus abdominis
- Hinterwand: Fascia transversalis, Peritoneum parietale
- Vorderwand: M. obliquus externus-Aponeurose
- Äußere Begrenzung: Anulus inguinalis superficialis
- Innere Begrenzung: Anulus inguinalis profundus
Welche Strukturen verlaufen im Leistenkanal?
Es gibt laterale und mediale Leistenhernien. Worin besteht der Unterschied?
Welche zwei gängigen konventionellen (offenen) Operationsverfahren sind Dir bekannt? Erläutere die Verfahren mit wenigen Worten.
Bekannte Herniotomien stellen die Verfahren nach Shouldice und Lichtenstein dar. Bei beiden Verfahren handelt es sich um offene Operationsverfahren.
- Shouldice: Spaltung und Dopplung der Fascia transversalis und Fixierung des M. obliquus int. und M. transversus an das Leistenband mittels Naht
- Lichtenstein: Verstärkung durch Einlage eines Kunststoffnetzes zwischen M. obliquus internus abdominis und Externusaponeurose
Wofür stehen die Abkürzungen TAPP und TEP/TEPP und welche Verfahren sind hierunter zu verstehen?
Welche Operationsform empfiehlst du welcher Patientengruppe?
Es gibt eine erworbene Hernienform, die ebenfalls mit Schmerzen in der Leistengegend einhergeht und häufiger ältere Frauen betrifft. Welche ist gemeint? Wie äußert sie sich weiterhin klinisch?
Hier ist die Rede von der Schenkelhernie. Neben einer Schwellung unterhalb des Leistenbandes äußert sich die Klinik eventuell durch unspezifische Leistenbeschwerden mit Ausstrahlung in den Oberschenkel. Wenn die Blasenwand Teil des Bruchinhalts ist, kann dies zu Dysurie und Hämaturie führen. Häufig ist die Schenkelhernie jedoch asymptomatisch und wird erst bei einer Einklemmung mit dem Bild eines mechanischen Ileus manifest. Bei Adipositas ist die Hernie oft kaum sicht- oder tastbar, sodass der Sonografie ein größerer Stellenwert zukommt.
Wo liegt die Bruchpforte bei dieser Hernienform?
Warum ist bei diesem Krankheitsbild fast immer eine Operationsindikation gegeben?
Fortsetzung Fallbericht
Zurück zu Herrn Hasler: Dieser vereinbart einen Operationstermin, den er dann aber kurzfristig absagt. In den kommenden Jahren wird er nicht wieder vorstellig, jedoch plagen ihn ab und zu die Leistenschmerzen mit Ausstrahlung in das Skrotum.
Sechs Jahre später wird Herr Hasler nachts mit Bauchschmerzen, heftigem Erbrechen, Übelkeit und Stuhlverhalt in die Notaufnahme einer Klinik gebracht. Du bist inzwischen nicht mehr in der Praxis, sondern zufällig genau in dieser Klinik tätig. Da die Notaufnahme sehr voll ist und du viele Patienten hast, schickst du Herrn Hasler nach einer orientierenden Untersuchung mit dem Hinweis „Verdacht auf Ileus“ zum Abdomen-Röntgen in Linksseitenlage. Im Röntgenbild bestätigt sich dein Verdacht eines Dünndarmileus: Neben zentralen Dünndarmspiegeln sind dilatierte Dünndarmschlingen zu erkennen.
Was können klinische Zeichen eines mechanischen Ileus sein? Nenne mindestens zwei!
- Meteorismus, Stuhl- und Windverhalt
- Übelkeit, Erbrechen
- Kolikartige Schmerzen (peristaltiksynchron)
- Schock
- Peritonismus
Wie klingen die Darmgeräusche bei einem paralytischen Ileus im Vergleich zu einem mechanischen Ileus?
Fortsetzung Fallbericht
Du gehst zur klinischen Untersuchung über. Bei der Auskultation des Abdomens vernimmst Du sehr rege Darmgeräusche. Das Abdomen ist diffus druckdolent. Die digital rektale Untersuchung empfindet der Patient als sehr unangenehm; die Rektumampulle ist leer. Bei näherer Inspektion siehst Du eine rötliche, druckdolente Schwellung über der rechten Leiste.
Wie lautet die Diagnose?
Die Diagnose ist ein Dünndarmileus auf dem Boden einer eingeklemmten Leistenhernie.
Besteht eine akute Operationsindikation? Sollte ein Repositionsversuch erfolgen?
Der sich im Hintergrund befindliche Oberarzt sagt Dir, dass er mindestens zwei Stunden benötige, um in der Klinik zu erscheinen. Welche Maßnahmen kannst Du zur Entlastung des Patienten bis dahin einleiten?
Fortsetzung Fallbericht
Es wurde notfallmäßig eine laparoskopische Herniotomie (TAPP) durchgeführt. Intraoperativ ließ sich der eingeklemmte Darmanteil aus der Bruchpforte reponieren. Eine Darmresektion war nicht von Nöten, da der eingeklemmte Darmanteil nicht nekrotisch war. Wenige Tage später kann Herr Hasler in gebessertem Allgemeinzustand in die Häuslichkeit entlassen werden.
Bonusfragen
Welche Operationsrisiken sind Dir bei einer Leistenherniotomie bekannt?
Um von der Leistenhernie im Kindesalter zu sprechen: Welche Faktoren prädisponieren eine Leistenhernie? Nenne mindestens zwei!
Wann sollte die Leistenhernie im Kleinkindalter operiert werden?
Oberärztlicher Kommentar
Die Leistenhernie ist ein sehr häufiges Krankheitsbild und beschreibt die Ausstülpung von parietalem Bauchfell, ggf. mit intraabdominellen Strukturen, durch eine Schwachstelle der Bauchwand im Bereich der Leiste. Der Leistenbruch tritt bei Männern häufiger auf als bei Frauen. Es werden direkte (= mediale, immer erworbene) von indirekten (lateralen, angeborenen oder erworbenen) Bruchformen unterschieden. Klinisch kann sich ein Leistenbruch durch eine Schwellung in der Leiste, Schmerzen und evtl. einer Vergrößerung des Skrotums bemerkbar machen. Ebenso kann ein Leistenbruch jedoch auch zu einer Inkarzeration mit möglicher Ileussymptomatik führen, die stets notfallmäßig operiert werden muss.
Bezüglich der Operationsindikation vorliegender Leistenhernien gibt es unterschiedliche Ansichten. Bei nicht oder wenig symptomatischen Hernien kann ein abwartendes Verhalten erwogen werden. Als Operationsverfahren stehen offene und laparoskopische Verfahren zur Verfügung. Als häufigste konventionelle Verfahren sollten einem die Operation nach Lichtenstein (mit Netzimplantation) und die Fasziendopplung nach Shouldice, als laparoskopische Verfahren die TAPP und die TEP/TEPP geläufig sein.
Differenzialdiagnostisch kommen für den Leistenschmerz u.a. orthopädische (insb. Erkrankungen des Hüftkopfes), neurologische (Nervenkompressionssyndrome), urologische und intraabdominelle Ursachen infrage.
Themen zum Vertiefen