Abstract
Das Multisystem inflammatory Syndrome in Children (MIS‐C) [1][2][3][4][5][6][7][8][9] oder auch Pediatric inflammatory Multisystem Syndrome temporally associated with SARS-CoV-2 (PIMS-TS) ist nach aktuellem Kenntnisstand eine postinfektiöse hyperinflammatorische Immunreaktion, die Überschneidungen mit dem Kawasaki- und Toxic-Schock-Syndrom zeigt. I.d.R. äußert sich MIS-C 2–4 Wochen nach erfolgter (symptomatischer oder asymptomatischer) SARS-CoV-2-Infektion durch hohes Fieber, Entzündungslabor und Multiorganbeteiligung. Diagnostisch lässt sich meist eine stattgehabte SARS-CoV-2 Infektion serologisch nachweisen oder aufgrund einer nachgewiesenen Exposition vermuten. Therapeutisch kommen Immunglobuline sowie ggf. Corticosteroide und ASS zum Einsatz. In der Mehrzahl der Fälle ist eine Intensivtherapie erforderlich, häufig mit Katecholamin- und teils mit Beatmungspflichtigkeit. Vereinzelte Todesfälle sind beschrieben. Überwiegend kommt es zu einer vollständigen Ausheilung; in einigen Fällen bleiben jedoch eine transiente Restsymptomatik oder dauerhafte Folgeschäden bestehen. Bei Erwachsenen wurde eine vergleichbare Symptomatik beobachtet, die als Multisystem inflammatory Syndrome in Adults (MIS-A) bezeichnet wird.
Da es sich bei dem MIS-C um ein völlig neues Krankheitsbild handelt, müssen alle hier genannten Daten als vorläufig betrachtet werden!
Epidemiologie
- Häufigkeit: Eher selten, genaue Zahlen liegen nicht vor [10]
- In Deutschland bisher 61 Fälle (Stand Oktober 2020) [11]
- Alter: Kindes- und Jugendalter [12][13]
- Geschlecht: Unklar [12][14]
- Weiteres
- Häufig keine Vorerkrankungen (bis zu 80%) [11][12][14]
- Insb. in der US-amerikanischen Bevölkerung: Überproportional hoher Anteil von Kindern aus afroamerikanischen, afrokaribischen und hispanischen bzw. lateinamerikanischen Bevölkerungsgruppen [7][13][14]
- Weiterhin scheinen Trisomie 21 und Übergewicht Risikofaktoren zu sein [13]
Die DGPI hat ein Register für Kinder und Jugendliche mit MIS-C etabliert [15]!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Postinfektiöse hyperinflammatorische Immunreaktion, i.d.R. 2–4 Wochen nach erfolgter SARS-CoV-2 Infektion [7]
- Genaue Pathogenese noch unklar
Klassifikation
Nach CDC [10][13]
- Alter <21 Jahre
- Klinik (alle der folgenden Kriterien)
- ≥24 h Fieber ≥38,0 °C
- Schlechter Allgemeinzustand mit Hospitalisierungsnotwendigkeit
- Mind. 2 beteiligte Organsysteme
- und Entzündungslabor (mind. 1 der folgenden Kriterien)
- Erhöhung von CRP, BSG, Fibrinogen, Procalcitonin, D-Dimer, Ferritin, LDH oder IL-6
- Neutrophilie oder Lymphopenie
- Hypalbuminämie
- und Nachweis einer SARS-CoV-2 Infektion (laborchemisch oder epidemiologisch)
- und Ausschluss anderer Diagnosen
Nach DGPI [15]
- Alter <20 Jahre
- Fieber (>48 h)
- und mind. 2 der folgenden Kriterien
- Exanthem, beidseitige nicht-purulente Konjunktivitis oder Entzündungsreaktion an Haut- und/oder Schleimhaut
- Arterielle Hypotension oder Schock
- Myokardiale Dysfunktion, Perikarditis, Valvulitis oder Koronarpathologien
- Koagulopathie
- Akute gastrointestinale Symptomatik
- und erhöhte Entzündungsparameter
- und Ausschluss anderer Diagnosen
Nach WHO [16]
- Alter <20 Jahre
- Fieber ≥3 Tage
- und mind. 2 der folgenden Kriterien
- Exanthem, beidseitige nicht-purulente Konjunktivitis oder Entzündungsreaktion an Haut- und/oder Schleimhaut
- Arterielle Hypotension oder Schock
- Myokardiale Dysfunktion, Perikarditis, Valvulitis oder Koronarpathologien
- Koagulopathie
- Akute gastrointestinale Symptomatik
- und erhöhte Entzündungsparameter
- und Ausschluss anderer Diagnosen, inkl. bakterielle Sepsis oder Staphylokokken-/Streptokokken-Schock-Syndrom
- und Nachweis einer SARS-CoV-2 Infektion (laborchemisch oder epidemiologisch)
In einem Fall zeigte ein 6 Monate altes Kind die typischen Kawasaki-Symptome ohne Multiorganbeteiligung, obwohl es positiv auf COVID-19 getestet wurde. Hier handelt es sich am ehesten um ein Kawasaki Syndrom mit SARS-CoV-2-Koinfektion!
Symptome/Klinik
- Fieber ≥4 Tage [10][12][14][17]
- Gastrointestinale Symptome (ca. 90%): Bauchschmerzen, Erbrechen, Durchfall
- Kardiovaskuläre Symptome (80%): Hypotensive Kreislaufsituation, linksventrikuläre Dysfunktion [12]
- Mukokutane Symptome (ca. 75%): Ähnlich wie beim Kawasaki-Syndrom, inkl. Konjunktivitis und Exanthem
- Respiratorische Symptome: Luftnot, Husten [12][14][17]
- Neurologische Symptome: Kopfschmerzen, Nackenschmerzen oder -steife, Irritabilität und Enzephalopathie
- In einigen Fällen Perikarderguss, Pleuraerguss, Aszites
Diagnostik
Diagnostik [13][18]
Da es sich bei MIS-C am ehesten um eine postinfektiöse Symptomatik handelt, ist bei positivem Antikörpernachweis die PCR häufig negativ!
Fehlen bei dringendem V.a. MIS-C sowohl der Virusnachweis als auch eine bekannte Exposition, kann die Testung der Haushaltsmitglieder aufschlussreich sein!
Differentialdiagnosen
Vergleich von Symptomen und Laborwerten bei MIS-C, Kawasaki-(Schock‑)Syndrom und Toxic-Schock-Syndrom [10] | ||||
---|---|---|---|---|
Symptom | MIS-C | Kawasaki-Syndrom | Kawasaki-Schock-Syndrom | Toxic-Schock-Syndrom |
Alter (im Durchschnitt) | Schulkinder | Kleinkinder | Kleinkinder | Erwachsene |
Arterielle Hypotonie | (✓) | — | ✓✓ | ✓✓ |
Hautausschlag | ✓ | ✓ | ✓ | Typischerweise Erythrodermie |
Schuppung | ✓ | ✓ | ✓ | ✓ |
Schleimhautbeteiligung | (✓) | ✓ | ✓ | (✓) |
Veränderter mentaler Status oder Enzephalopathie | ✓ | Selten | ✓ | ✓ |
GIT-Symptome | ✓✓ | Selten | ✓ | ✓ |
Dyspnoe | ✓ | Selten | ✓ | (✓) |
Myalgie | ✓ | — | — | ✓ |
Leukozyten | Neutrophilie, Lymphopenie | Neutrophilie | Neutrophilie | Neutrophilie |
Thrombozyten | ↓ | ↑ | ↓, ↔︎ oder ↑ | ↓ |
INR/PTT | ↑ | ↔︎ | ↔︎ oder ↑ | ↑ |
Fibrinogen | ↓, ↔︎ oder ↑ | ↔︎ | ↔︎ oder ↑ | ↓ |
D-Dimere | ↑ | ↔︎ | ↔︎ oder ↑ | ↑ |
ALT | ↔︎ oder ↑ | ↔︎ oder ↑ | ↔︎ oder ↑ | ↔︎ oder ↑ |
Kreatinin | ↑ | ↔︎ | ↑ | ↑ |
Troponin | ↑ | ↔︎ oder ↑ | ↑ | Unklar |
Pro-BNP | ↑↑ | ↔︎ oder ↑ | ↑ | Unklar |
Ferritin | ↑ | ↔︎ oder ↑ | ↔︎ oder ↑ | ↔︎ |
CRP | ↑↑ | ↑ | ↑↑ | ↑ |
Dilatation oder Aneurysmen der Koronararterien | ✓ | ✓ | ✓✓ | — |
Ventrikuläre Dysfunktion | ✓ | (✓) | ✓ | Selten |
Herzklappeninsuffizienzen | ✓ | ✓ | ✓✓ | Selten |
Legende: ✓✓ (Fast) immer vorkommend, ✓ Häufig vorkommend, (✓) Gelegentlich vorkommend, — Nicht typisch, ↑ Erhöht, ↑↑ Stark erhöht, ↓ Erniedrigt, ↔︎ Normal |
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differentialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Management [8][10][19]
- Stationäre Aufnahme, ggf. intensivmedizinische Behandlung
- Frühzeitige interdisziplinäre Vorstellung
- Medikamentöse Therapie
- Hochdosierte Immunglobuline
- Plus Corticosteroide
- Ggf. Acetylsalicylsäure
- Ggf. Heparinisierung mit unfraktioniertem oder niedermolekularem Heparin (±ASS-Therapie)
- Bei Therapieresistenz ggf. immunmodulatorische Therapie: Bspw. IL-1-Blocker (Anakinra) oder IL-6-Blocker (Tocilizumab), ggf. TNF-α-Blocker (Infliximab)
Medikament | Applikationsform | Dosierung | Dauer | Besonderheiten | |
---|---|---|---|---|---|
Körpergewicht | Dosis | ||||
Tocilizumab | i.v. | <30 kg | 12 mg/kgKG | Einmalgabe; ggf. Wiederholung nach 8 Stunden | Zulassung ab dem Alter von 2 Jahren für die Rheumatologie (Dosierung analog Cytokine-Release-Syndrome) |
≥30 kg | 8 mg/kgKG, max. 800 mg pro Tag | ||||
Anakinra | s.c. | — | 2–4 mg/kgKG 1× tgl., max. 100 mg pro Tag | Bis der Zytokinsturm endet, dann Reduktion um 10–30% pro Tag | Zulassung ab dem Alter von 8 Monaten und einem Körpergewicht von 10 kg (für die Rheumatologie) |
Infliximab | i.v. | — | 5 mg/kgKG 1× pro Woche i.v. über 2 h | — | Zulassung ab dem Alter von 6 Jahren (für Colitis ulcerosa und Morbus Crohn) |
Anakinra muss immer langsam ausgeschlichen werden, weil es sonst zu einem Rebound-Effekt mit SIRS kommen kann [19]!
Prognose
- Letalität: 1,5–2% [7][12][14][17]
- Zustand bei Entlassung [11]
- Restitutio ad integrum: Ca. 65%
- Restsymptome: Knapp 30%
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- U10.9: MIS-C bzw. multisystemisches Entzündungssyndrom in Zusammenhang mit COVID-19
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.