Patientenvorstellung
In die Notaufnahme wird nachts der adipöse 83-jährige Herr Schulz eingeliefert. Er leidet trotz O2-Zufuhr unter ausgeprägter Dys- und Tachypnoe.
Der Rettungsdienst berichtet, dass der Patient bei Eintreffen verängstigt und mit aufgestützten Armen an der Bettkante saß und schwer Luft bekam. Die Frau des Patienten hatte schon seit mehreren Wochen einen zunehmenden Leistungsabfall und eine Kurzatmigkeit ihres Mannes bemerkt. Er habe sich jedoch geweigert, zum Hausarzt zu gehen. Zur akuten Verschlechterung sei es vor etwa zwei Stunden gekommen. Anamnestisch bekannt ist eine seit mehreren Jahren bestehende KHK, eine Hypertonie, eine chronische Nierenerkrankung, eine chronische Herzinsuffizienz und ein Diabetes mellitus Typ 2.
Der Rettungsdienst hat dem Patienten schon Morphin (5 mg i.v.) verabreicht.
Vitalparameter bei Aufnahme:
- Blutdruck: 160/100 mmHg
- Puls: 75/min
- O2-Sättigung: 91%
An welche Differenzialdiagnosen musst du hinsichtlich der Dyspnoe in Bezug auf die bekannten Vorerkrankungen denken?
- Dekompensierte Herzinsuffizienz
- Myokardinfarkt
- Lungenembolie
- Pneumonie
- Weniger wahrscheinliche Differenzialdiagnosen
- Exazerbierte COPD
- Anämie
- Pneumothorax
Fortsetzung Fallbericht
Der Rettungsdienst legt dir zur Befundung das EKG des Patienten vor.
Bei Patient:innen mit V.a. kardiale Erkrankungen muss immer schnellstmöglich eine EKG-Ableitung erfolgen, um bspw. einen akuten ST-Hebungsinfarkt oder Arrhythmien zu diagnostizieren!
Befunde das EKG!
EKG von Herrn Schulz
12-Kanal-EKG (Schreibgeschwindigkeit: 50 mm/s)
Zusatzfragen
Interpretiere die Befunde im EKG!
In der vorliegenden akuten klinischen Situation mit ausgeprägter Dyspnoe wäre eigentlich eine höhere Herzfrequenz zu erwarten. Was ist die wahrscheinlichste Ursache für die Normofrequenz bei diesem Patienten?
Fortsetzung Fallbericht
Nun wird der Patient körperlich untersucht. In der Lungenauskultation sind beidseits basal feuchte Rasselgeräusche festzustellen. Auffällig sind zudem ausgeprägte Unterschenkelödeme beidseits.
Wie lautet deine Verdachtsdiagnose und wie leitest du sie her?
Eine dekompensierte chronische Herzinsuffizienz ist die wahrscheinlichste Diagnose.
- Zeichen des Vorwärtsversagens ist der zunehmende Leistungsabfall
- Zeichen des Rückwärtsversagens sind die Beinödeme und das Lungenödem (Dyspnoe und feuchte Atemnebengeräusche in der Lungenauskultation)
Wesentlicher „Motor“ der Ödembildung bei chronischer Herzinsuffizienz ist die Niere. Sie reagiert auf eine verringerte Durchblutung (durch Abnahme des Herzzeitvolumens) mit einer vermehrten Wasserretention (Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems = sekundärer Hyperaldosteronismus)!
Zusatzfragen
Wie sind die Beinödeme pathophysiologisch zu erklären?
Wie kannst du in der körperlichen Untersuchung ein venöses Stauungsödem von einem Lymphödem unterscheiden?
Welche weiteren Symptome solltest du in der Anamnese erfragen? Welche körperlichen Untersuchungsbefunde sind denkbar?
- Anamnese
- Nykturie
- Leistungsminderung
- Husten, insb. nachts (als Hinweis auf Asthma cardiale )
- Übelkeit, Appetitlosigkeit (als Hinweis auf eine Stauungsgastropathie)
- Oberbauchschmerzen, Ikterus, ggf. Aszites (als Hinweis auf eine Stauungsleber)
- Körperliche Untersuchung
- „Obere Einflussstauung“ (sichtbare Halsvenen)
- Klopfschalldämpfung über den basalen Lungenabschnitten bds. (als Hinweis auf Pleuraergüsse)
Zusatzfragen
Welches sind die beiden häufigsten Ursachen der Herzinsuffizienz?
Pathophysiologisch kann eine Unterteilung in systolische Herzinsuffizienz und diastolische Herzinsuffizienz erfolgen. Welche Mechanismen liegen diesen Formen zugrunde?
Welche akuten Maßnahmen kommen infrage, um die Symptomatik des Patienten zu verbessern?
- Allgemeine Maßnahmen
- Sitzende Lagerung (Oberkörper hoch, Beine runter)
- O2-Gabe
- Medikamentöse Maßnahmen
- Gabe von Nitraten
- Bspw. Glyceroltrinitrat: Zunächst sublinguale Gabe , ggf. kontinuierliche intravenöse Gabe
- Gabe von Schleifendiuretika
- Bspw. Furosemid intravenös
- Analgosedierung (bspw. mit Morphin): Bereits durch Rettungsdienst erfolgt
- Optimale Einstellung der Kreislaufparameter (Blutdruck, Puls)
- Bei schwerem Vorwärtsversagen ggf. Gabe von positiv inotropen Substanzen (z.B. Dobutamin)
- Gabe von Nitraten
Fortsetzung Fallbericht
Nach den ersten therapeutischen Maßnahmen stabilisiert sich der Zustand von Herrn Schulz und du wendest dich weiter der Diagnostik zu. Als Nächstes nimmst du Blut für eine Laboruntersuchung ab.
Welche Laborparameter sind besonders relevant?
- NT-proBNP oder BNP: Bei niedrigen Werten ist eine Herzinsuffizienz nahezu ausgeschlossen, ab gewissen Grenzwerten hingegen sehr wahrscheinlich
- Troponin: Trotz fehlender akuter Angina-pectoris-Beschwerden sollte ein Myokardinfarkt mittels Troponinbestimmung ausgeschlossen werden
- Kreatinin und GFR: Bei dem Patienten ist eine chronische Nierenerkrankung bekannt, die sich bei dekompensierter Herzinsuffizienz weiter verschlechtern kann; je nach GFR müssen zudem ggf. Medikamentendosierungen angepasst werden
- Kalium und Natrium: Pathologische Kaliumwerte begünstigen Herzrhythmusstörungen; ein niedriges Natrium ist bei Herzinsuffizienz mit einer schlechten Prognose assoziiert
- Hämoglobin: Auch wenn eine Anämie das Gesamtgeschehen nicht hinreichend erklären kann, sollte das Hämoglobin bestimmt werden
- Leukozyten und CRP: Um eine möglicherweise vorliegende Infektion (z.B. Pneumonie) nicht zu übersehen, sollten die Entzündungszeichen (Leukozyten, CRP) mitbetrachtet werden
- Laborparameter des Eisenstoffwechsels: Wenn ein begleitender Eisenmangel besteht, sollte dieser zur Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit behandelt werden
Zusatzfragen
Welche Aussage lässt sich anhand von BNP oder NT-proBNP treffen?
Wie kommt es zur Ausschüttung von NT-proBNP (bzw. BNP) und was ist seine physiologische Wirkung?
Welche weiteren apparativen Untersuchungen veranlasst du?
- Röntgen-Thorax in 2 Ebenen (p.a. und seitlich)
- Echokardiografie zur Diagnosesicherung
- Ggf. Sonografie zur Beurteilung von Pleuraergüssen, Lungenparenchym oder Volumenstatus
Zusatzfrage
Welche Befunde erwartest du in der Röntgen-Thorax-Aufnahme?
Fortsetzung Fallbericht
Die Verdachtsdiagnose einer dekompensierten Herzinsuffizienz konnte diagnostisch bestätigt werden. Es besteht eine ausgeprägte Verminderung der linksventrikulären Ejektionsfraktion (30%) sowie eine pulmonale Stauung mit Lungenödem und beidseitige Pleuraergüsse. Die Laboruntersuchungen zeigen die bekannte chronische Nierenerkrankung (ohne Progredienz im Vergleich zu Vorwerten), ansonsten finden sich keine Auffälligkeiten.
Der Patient wird stationär aufgenommen. Am nächsten Tag triffst du zur Visite auch seine Ehefrau an. Sie erzählt dir, wie sich die Beschwerden ihres Mannes in den letzten Wochen entwickelt haben. So konnte Herr Schulz bereits seit 3 Wochen nicht mehr die Wohnung verlassen, da er die Treppenstufen zurück in den ersten Stock aufgrund von Luftnot nicht mehr bewältigen konnte. Innerhalb der Wohnung konnte er noch kurze Wege zurücklegen, musste jedoch auch hier immer wieder Pausen einlegen.
Nenne die Kriterien der unterschiedlichen Stadien nach NYHA und ordne Herrn Schulz dem passenden Stadium zu!
Frau Schulz berichtet, ihr Mann habe üblicherweise schon bei leichter körperlicher Belastung Beschwerden gehabt. Somit ist Herr Schulz dem NYHA-Stadium III zuzuordnen.
NYHA-Stadium | Subjektive Beschwerden |
---|---|
I | Herzerkrankung (objektiver Nachweis einer kardialen Dysfunktion) ohne körperliche Limitation |
II | Beschwerden bei stärkerer körperlicher Belastung (z.B. Bergaufgehen oder Treppensteigen) |
III | Beschwerden bei leichter körperlicher Belastung (z.B. Gehen in der Ebene) |
IV | Beschwerden in Ruhe |
Zusatzfrage
Bei Herrn Schulz bestehen Adipositas, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2 sowie eine Dyslipoproteinämie. Unter welchem Begriff lässt sich dieses kardiovaskuläre Risikocluster zusammenfassen?
Welche langfristige pharmakologische Therapie würdest du Herrn Schulz empfehlen?
Bei Herrn Schulz liegt eine Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion im Stadium III nach NYHA vor. Demnach sollte er als Basismedikation einen ACE-Hemmer, einen Betablocker und einen Mineralocorticoidrezeptor-Antagonisten sowie einen SGLT2-Inhibitor erhalten. Diese Medikamente sind prognoseverbessernd und sollten daher bei Fehlen von Kontraindikationen unbedingt verordnet werden!
Zusätzlich sollte aufgrund der peripheren Ödeme ein Schleifendiuretikum verabreicht werden. Diese lindern insb. die Symptome der venösen Stauung, verbessern allerdings nicht die Prognose!
Medikamentöse Therapie der Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion | |||||
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Medikament | NYHA-Stadium | Anmerkungen | |||
I | II | III | IV | ||
(✓) | ✓ | ✓ | ✓ |
| |
Neprilysin-Inhibitoren: Sacubitril (Kombinationswirkstoff ARNI; Angiotensinrezeptor-/Neprilysin-Inhibitor | ✓ | ✓ | ✓ |
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(✓) | ✓ | ✓ | ✓ |
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✓ | ✓ | ✓ |
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✓ | ✓ | ✓ |
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(✓) | (✓) | (✓) | (✓) |
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Parenterale Eisengabe, bevorzugt Eisencarboxymaltose i.v. | (✓) | (✓) | (✓) | (✓) |
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Prognoseverbessernde Medikamente: ACE-Hemmer, AT1-Rezeptor-Blocker, Betablocker, Mineralocorticoidrezeptor-Antagonisten, ARNI, SGLT2-Inhibitoren, Ivabradin!
Symptomverbessernde Medikamente: Diuretika, Eisenpräparate (wenn i.v. verabreicht), Digitalisglykoside !
ACE-Hemmer oder AT1-Rezeptor-Blocker, ARNI, Betablocker und Mineralocorticoidrezeptor-Antagonisten sollten in kleinen Schritten und unter aktiver Überwachung der Nebenwirkungen möglichst bis zur Zieldosis gesteigert werden! Diuretika und Digitalisglykoside werden dagegen so niedrig wie möglich dosiert.
Unter medikamentöser Herzinsuffizienztherapie sollten regelmäßige Laborkontrollen erfolgen – insb. der Nierenretentionsparameter und Elektrolyte (v.a. Kalium)!
Zusatzfrage
Worauf ist bei der Gabe von Diuretika zu achten?
Bonusfragen
„Ich habe mal gehört, dass einseitige Pleuraergüsse bei Herzinsuffizienz häufiger rechtsseitig auftreten. Warum ist das so?“ fragt dich ein Famulant bei der gemeinsamen Visite. Was antwortest du ihm?
Welche Therapieoptionen gibt es, wenn bei einer fortgeschrittenen Herzinsuffizienz bereits alle anderen konservativen und chirurgischen Optionen ausgeschöpft sind?
Oberärztlicher Kommentar
Die Inzidenz der Herzinsuffizienz steigt insb. in den Ländern des Globalen Nordens – daher sollte das Wissen über die Erkrankung zum „Einmaleins“ von Internist:innen und Allgemeinmediziner:innen gehören. Gründe für die Zunahme der Häufigkeit sind u.a. die insg. gestiegene Lebenserwartung sowie verbesserte therapeutische Möglichkeiten bei vorangegangenen kardiovaskulären Ereignissen (z.B. verbesserte Überlebenschancen beim Myokardinfarkt).
Das Verständnis des Pathomechanismus von systolischer Herzinsuffizienz und diastolischer Herzinsuffizienz sowie der möglichen Auswirkungen von Vorwärtsversagen und Rückwärtsversagen ist notwendig, um das klinische Bild nachvollziehen und Therapieentscheidungen treffen zu können.
Insb. bei multimorbiden Menschen (wie auch hier im Fallbeispiel) hat die Herzinsuffizienz eine hohe Prävalenz. Im Behandlungskonzept müssen daher oft auch Begleiterkrankungen berücksichtigt werden, wie arterielle Hypertonie, KHK, metabolisches Syndrom und chronische Nierenerkrankung.