Abstract
Harnwegsinfektionen gehören zu den häufigsten bakteriellen Infektionen im Kindesalter und können vom Neugeborenen bis zum Teenageralter mit unterschiedlichen Symptomen und Komplikationen einhergehen. [1]
Die Einteilung der Harnwegsinfektionen kann nach Lokalisation, Symptomen, der zeitlichen Abfolge und dem Vorliegen oder Fehlen komplizierender Faktoren erfolgen. Diagnostisch sollten neben einer ausführlichen Anamnese und körperlichen Untersuchung eine Urinkultur angelegt sowie mögliche Anomalien des Harntrakts und komplizierende Faktoren abgeklärt werden. Bei Säuglingen und Kleinkindern ist eine Unterscheidung zwischen einer Pyelonephritis und Zystitis nicht immer möglich. Die Therapie der Harnwegsinfekte orientiert sich am Alter und Allgemeinzustand des Kindes, an dem Schweregrad der Infektion sowie an möglichen komplizierenden Faktoren. [2]
Dieses Kapitel widmet sich insb. den pädiatrischen Aspekten von Harnwegsinfektionen, für eine Gesamtübersicht siehe: Urozystitis
Klassifikation
Klassifikation nach Lokalisation [2] [3]
- Untere Harnwegsinfektion
- Urethritis: Entzündliche Infektion der Harnröhre
- Urozystitis: Entzündliche Infektion der Harnblasenschleimhaut
- Obere Harnwegsinfektion
- Pyelonephritis: Entzündliche Infektion des Nierenbeckenkelchsystems mit Beteiligung des Nierenparenchyms
Im Säuglings- und Kleinkindalter kann kaum zwischen unteren und oberen Harnwegsinfekten differenziert werden, der Verlauf entspricht im Allgemeinen einer Pyelonephritis!
Klassifikation nach komplizierenden Faktoren [3]
- Unkomplizierte Harnwegsinfektion: Infektion der Harnwege ohne relevante funktionelle oder anatomische Anomalien, Nierenfunktionsstörungen oder Begleiterkrankungen, die eine Harnwegsinfektion bzw. Komplikationen begünstigen
- Komplizierte Harnwegsinfektion: Infektion der Harnwege bei
- Allen Neugeborenen
- Anomalien des Harntrakts (Reflux, Obstruktion, Fehlbildung usw.)
- Neurogener Blasenentleerungsstörung
- Niereninsuffizienz
- Z.n. Nierentransplantation
- Immundefizienz
- Vorliegen von Harnwegskonkrementen
- Diabetes mellitus
Klassifikation nach zeitlicher Abfolge [3]
- Erste Harnwegsinfektion: Erster mikrobiologisch nachgewiesener Harnwegsinfekt
- Rezidivierende Harnwegsinfektion: ≥2 Infektionen/Halbjahr oder ≥3 Infektionen/Jahr
- Rezidivinfektion: Erreger serotypisch unterschiedlich zum vorausgegangenen Infekt
- Persistierende Infektion: Gleicher Erreger
Klassifikation nach Symptomen [3]
- Asymptomatische Bakteriurie: Vorliegen einer signifikanten Bakteriurie ohne Symptome
- Symptomatischer Harnwegsinfekt: Vorliegen einer Bakteriurie und Leukozyturie mit Symptomen
Epidemiologie
- Häufigste bakterielle Infektion im Kindesalter bei Fieber unklarer Genese [3]
- Mädchen mit 3–8% insgesamt häufiger betroffen als Jungen (1–2%) [1]
- Jungen im 1. Lebensjahr häufiger betroffen als Mädchen, dann Mädchen 10- bis 20-fach häufiger betroffen als Jungen [2]
- Bis zum 7. Lebensjahr erkranken ca. 8,5% der Mädchen einmal an einer Harnwegsinfektion
Ätiologie
Keimspektrum [1][2]
- In ca. 80% der Fälle handelt es sich um uropathogene E.-coli-Stämme (wie bei Erwachsenen)
- Bei komplizierten Harnwegsinfektionen häufiger Pseudomonas, Proteus mirabilis und Klebsiellen
- Im Säuglingsalter: Häufiger andere Erreger (bspw. Enterokokken)
Infektionsweg [1]
- Aszendierende Infektion durch periurethrale und perineale Besiedelung von uropathogenen Keimen
- Hämatogener Infektionsweg bei Pyelonephritis sehr selten, betrifft eher Früh- und Neugeborene
Symptome/Klinik
- Neugeborene (fast immer Urosepsis oder Pyelonephritis): Fieber (kann fehlen), Trinkschwäche, graublasses Hautkolorit, Berührungsempfindlichkeit, meningitische Zeichen
- Säuglinge: Fieber, Durchfall, Erbrechen, meningitische Zeichen, Exsikkose
- Kleinkinder: Pollakisurie, neue Enuresis, Algurie/Dysurie, bei Pyelonephritis: Fieber, Bauchschmerzen, lokalisierter Flankenschmerz
- Ältere Kinder: Pollakisurie, imperativer Harndrang, mit oder ohne suprapubische Schmerzen, ggf. Dranginkontinenz, bei Pyelonephritis: Fieber und ein- oder beidseitige Flankenschmerzen
Diagnostik
Anamnese
- Vorausgegangene Harnwegsinfektionen
- Lokalisation
- Anomalien des Harntrakts
- Auffällige Ultraschallbefunde
- Operationen, Obstipationsneigung
- Bei Jugendlichen: Sexualanamnese
Körperliche Untersuchung
- Palpation der Nieren und der suprapubischen Region
- Inspektion der Wirbelsäule (Spina bifida occulta)
- Untersuchung des äußeren Genitales (Phimose, Labiensynechie, Vulvitis, Epididymitis)
- Messen der Körpertemperatur
- Ausschluss von Appendizitis, Meningitis usw.
Uringewinnung
- Säuglinge und Kleinkinder
- Beutelurin
- Clean-Catch-Urin
- Katheterurin
- Suprapubische Blasenpunktion
- Kinder mit vorhandener Blasenkontrolle: Mittelstrahlurin
Urindiagnostik
Klinische Chemie
- Urinteststreifen
- Vorhandensein von
- Nitrit
- Leukozytenesterase
- Protein
- Glucose
- Erythrozyten bzw. Blut
- Vorhandensein von
- Urinmikroskopie
- Urinkultur
- Weitere Informationen siehe: Urindiagnostik
- Blutuntersuchung
- Bestimmung der Entzündungsparameter sowie der Nierenretentionsparameter
- Bei V.a. Bakteriämie/Urosepsis: Blutkultur
Zur Initialdiagnostik einer Harnwegsinfektion bei Säuglingen und Kleinkindern eignet sich der Beutelurin. Bei kontinenten Kindern kann Mittelstrahlurin verwendet werden. Vor Einleitung der antibiotischen Therapie empfiehlt die DGPI bei Säuglingen und Kleinkindern immer eine Katheterisierung oder Blasenpunktion zur mikrobiologischen Untersuchung!
Weitere Diagnostik
- Sonografie: Beurteilung von Nieren (Lage, Form, Parenchymechogenität, Pyelonweite) und Harnblase (Restharnbestimmung, Blasenwanddicke)
- Uroflowmetrie, Urodynamik (zum Ausschluss neurogener Blasenfunktionsstörungen)
Hinweise für eine Pyelonephritis
- Fieber: >38,5 °C (kann bei Neugeborenen und jungen Säuglingen auch bei Urosepsis fehlen)
- CRP: >20 mg/L
- Procalcitonin: >0,5 ng/L
- Leukozytose und Linksverschiebung
- Leukozytenzylinder
- Perfusionsausfälle in der DMSA-Szintigrafie oder in der Doppler-Sonografie
Refluxdiagnostik
Grundlagen
- Ziel: Frühzeitige Erkennung eines vesikoureteralen Refluxes, bevor vermeidbare Nierenparenchymschäden auftreten
- Indikation
- Rezidivierende symptomatische Harnwegsinfektionen und Miktionsauffälligkeiten im Intervall
- Symptomatische afebrile Harnwegsinfektionen und sonografisch V.a. vesikoureteralen Reflux
- Pyelonephritis beim Säugling oder Kleinkind
- Zeitpunkt: Ab 2. Woche nach Einleitung der antibiotischen Therapie, ggf. Antibiotika-Prophylaxe bis zum Ausschluss
- Methoden der Refluxabklärung
- Miktionszysturethrogramm , Miktions-Urosonogramm
- DMSA-Szintigrafie , MR-Urografie
- Siehe auch: Apparative Diagnostik in der Urologie
Diagnostische Strategien zur Refluxprüfung [2]
Ziel der weiterführenden Diagnostik ist die Erfassung des Risikos für Parenchymnarben, da dies unmittelbare Konsequenzen für die Therapie hat. Daher gibt es statt einer Standarddiagnostik ein risikoorientiertes Vorgehen.
Refluxprüfung als primäre Diagnostik
- Aktuell Methode der Wahl zur Früherkennung eines vesikoureteralen Refluxes im deutschsprachigen Raum
- Zunächst Ultraschall und dann Miktionszysturethrografie
- Bei ca. jedem dritten Kind nach Pyelonephritis kann ein vesikoureteraler Reflux diagnostiziert werden
- Problem: Positiver Refluxnachweis hat nur geringen prädiktiven Wert für einen Parenchymschaden
DMSA-Szintigrafie als primäre Diagnostik
- Methode der Wahl in Schweden und Großbritannien
- Herausfiltern aller Kinder mit vorhandenen Nierenparenchymschäden
- Erst DMSA-Szintigrafie, dann Miktionszysturethrografie
- Ziel: Relevanten Reflux entdecken und Einsparen des Miktionszysturethrogramms bei Kindern ohne relevanten Reflux
Therapie der kindlichen Harnwegsinfektionen
Da im Säuglingsalter eine Harnwegsinfektion nahezu immer eine Pyelonephritis bedeutet, ist die Differenzierung zwischen Urozystitis und Pyelonephritis schwierig bzw. irrelevant. Daher wird hier die Therapie beider Krankheitsbilder dargestellt.
Prinzipien
- Antibiotische Therapie an lokaler Resistenzlage orientiert und altersadaptiert
- Antibiogrammgerechte Monotherapie nach Erhalt der mikrobiologischen Diagnostik
- Applikationsform je nach Praktikabilität (Compliance, Möglichkeit der ärztlichen Therapieüberwachung, Nahrungsverweigerung, Erbrechen)
- Insb. bei komplizierter Pyelonephritis Vorbefunde berücksichtigen
- Temporäre Harnableitung bei Obstruktion des Harntrakts abhänging vom Ansprechen der parenteralen Antibiotikagabe und klinischem Zustand
- Dosierung der Antibiotika siehe: Antibiotika und Virostatika im Kindes- und Jugendalter
Vor Beginn der antibiotischen Therapie muss immer eine Urinkultur abgenommen werden!
Asymptomatische Bakteriurie
- Im Allgemeinen Verzicht auf antibiotische Therapie
- Meist Sistieren der Bakteriurie innerhalb eines Jahres
- Ausnahme: Geplante Intervention oder Manipulation am Harntrakt, dann Therapie wie bei Harnwegsinfekt
Harnwegsinfektion in den ersten 3 Lebensmonaten
- Wirkstoffe
- Aminoglykosid (Tobramycin oder Gentamicin, Blutspiegelkontrolle) + Ampicillin
- Cephalosporin der Gruppe 3 (Ceftazidim (nach Ausschluss einer Hyperbilirubinämie)) + Ampicillin
- Therapiedauer: 10–14 Tage (junge Säuglinge), 14–21 Tage (Neugeborene)
- Applikationsform
- Bei Neugeborenen: i.v. 10–14 Tage, dann p.o. (insg. 14–21 Tage)
- Bei jungen Säuglingen : 3–7 Tage i.v., dann p.o. (insg. 10–14 Tage) [3]
Unkomplizierte Harnwegsinfektion (Pyelonephritis) >3. Lebensmonat
- Wirkstoffe
- Cephalosporin der Gruppe 3 (z.B. parenteral Cefotaxim oder Ceftazidim, Ceftriaxon [4], oral Ceftibuten, Cefixim oder Cefpodoximproxetil)
- Amoxicillin/Clavulansäure
- Ampicillin + Aminoglykosid
- Therapiedauer: 7–10 Tage
- Applikationsform: p.o., ggf. initial i.v. (lediglich die 3. Kombination (Ampicillin + Aminoglycosid) immer parenteral)
Komplizierte Harnwegsinfektion (Pyelonephritis) >3. Lebensmonat
- Wirkstoffe
- Aminoglykosid + Ampicillin
- Piperacillin + Tazobactam (zugelassen ab 2 Jahren)
- Ceftazidim + Ampicillin
- Therapiedauer: 10(–14) Tage
- Applikationsform: i.v. bis mind. 2 Tage nach Entfieberung, dann ggf. p.o. nach Antibiogramm
Unkomplizierte Urozystitis im Kindes- und Jugendalter
- Wirkstoffe [1]
- Trimethoprim mit/ohne Sulfamethoxazol (mit = Cotrimoxazol): Nur wenn die regionale E.-coli-Resistenzrate <20% liegt
- Nitrofurantoin bei Mädchen im Schulalter mit (rezidivierenden) Zystitiden
- Amoxicillin/Clavulansäure
- Oralcephalosporin der Gruppe 2 oder 3, Gruppe 1 abhängig von lokalen Resistenzraten
- Fosfomycin
- Nitroxolin ab 3 Jahren zugelassen, bei Pyelonephritis wegen niedriger Gewebsspiegel im Parenchym nicht zugelassen
- Therapiedauer: 3–5 Tage
- Applikationsform: p.o.
Übersicht der antimikrobiellen Therapie
Für die alters- und gewichtsabhängige Dosierung der Antibiotika siehe: Antibiotika und Virostatika im Kindes- und Jugendalter
Therapieschemata bei kindlichen Harnwegsinfekten [1] | |||
---|---|---|---|
Erkrankung | Therapievorschlag | Applikationsform | Gesamte Therapiedauer |
Pyelonephritis in den ersten 3 Lebensmonaten | Aminoglycosid + Ampicillin1 oder | Initial parenteral, dann orale Weiterbehandlung | Bei Neugeborenen 14–21 Tage, bei jungen Säuglingen 10–14 Tage |
Ceftazidim + Ampicillin1 | |||
Unkomplizierte Pyelonephritis/Zystitis ab 3 Lebensmonaten | Cephalosporin (3. Generation) oder | Orale Therapie, ggf. initial parenteral, insb. bei <6 Lebensmonaten | 7–10 Tage |
Amoxicillin + Clavulansäure oder | |||
Aminoglykosid + Ampicillin1 | Parenterale Therapie1 | ||
Komplizierte Pyelonephritis/Urosepsis (jedes Alter) | Aminoglycosid + Ampicillin1 oder | Parenterale Therapie bis mind. 2 Tage nach Entfieberung, dann orale Therapie | 10–14 Tage |
Ceftazidim + Ampicillin1 oder | |||
Piperacillin + Tazobactam2 | |||
Unkomplizierte Zystitis im Kindes- und Jugendalter | Trimethoprim +/-Sulfamethoxazol oder | Orale Therapie | 3–5 Tage |
Nitrofurantoin3 oder | |||
Amoxicillin + Clavulansäure oder | |||
Cephalosporin (2. oder 3. Generation) oder | |||
Fosfomycin4 oder | |||
Nitroxolin5 | |||
1Nach Ergebnis der Resistenztestung ggf. Anpassung der Therapie 2Zugelassen ab 2 Jahren 3Betrifft Mädchen im Schulalter mit rez. Zystitiden 4Zugelassen ab 12 Jahren 5Zugelassen ab 3 Jahren |
Antibakterielle Prophylaxe bei vesikoureteralem Reflux (VUR)
- Indikation [2]
- Säuglinge und Kleinkinder mit VUR (III–IV) oder rezidivierenden Pyelonephritiden [1]
- Mädchen mit höhergradigem Reflux (III–IV)
- Kontrovers!
- Wirkstoffe [2]
- Nitrofurantoin: Dosis 1 mg/kgKG, nicht zugelassen <3 Lebensmonaten
- Trimethoprim: Dosis 1(–2) mg/kgKG, nicht zugelassen <6 Lebenswochen, vielerorts Resistenzraten von E. coli >20%
- Nitroxolin: Dosis 3–7 mg/kgKG, nicht zugelassen <3 Jahren
-
Oral-Cephalosporine: Risiko der Selektion von ESBL-Bildnern
- Cefaclor: Dosis 10 mg/kgKG, für jedes Alter
- Cefixim: Dosis 2 mg/kgKG, nicht zugelassen bei Früh- und Neugeborenen
- Ceftibuten: Dosis 2 mg/kgKG, nicht zugelassen <3 Lebensmonaten
- Cefuroximaxetil: Dosis 5 mg/kgKG, nicht zugelassen <3 Lebensmonaten
- Andere Substanzen: L-Methionin , Preiselbeerkonzentrat (Cranberry)
- Orale Vakzinierung
- Durchführung
- Dauer: Unklar
- Beendigung: Individuelle Entscheidung
- Probleme
- Effektivität der Langzeitprophylaxe zweifelhaft
- Durchbruchsinfektion
- Unregelmäßige Einnahme der Medikation
- Abbruch der Therapie wegen Nebenwirkungen, Resistenzbildung