Abstract
Sowohl die Polymyalgia rheumatica (PMR) als auch die Riesenzellarteriitis (RZA, vor 2012 auch als Morbus Horton, Arteriitis temporalis oder Arteriitis cranialis bezeichnet) führen durch autoimmune Prozesse zu einer jeweils unterschiedlich lokalisierten Gefäßentzündung der mittelgroßen und großen Arterien. Durch die ähnliche Pathophysiologie werden sie zu einer Krankheitsentität zusammengefasst. Leitsymptom der Polymyalgia rheumatica sind heftigste symmetrische Schulterschmerzen, während die Riesenzellarteriitis durch Entzündungen der kraniellen Gefäße unter anderem zu Sehstörungen mit vorübergehender Erblindung eines Auges (Amaurosis fugax) sowie zu pochenden Schläfenschmerzen führen kann. Ein gemeinsames Auftreten beider Erkrankungen ist möglich, wobei diagnostisch in beiden Fällen eine Sturzsenkung im Labor charakteristisch ist. Die schnell einzuleitende Therapie besteht jeweils in einer hochdosierten Glucocorticoidgabe, wodurch bei der Riesenzellarteriitis eine mögliche Erblindung verhindert werden kann.
Begriffserklärung
Die Riesenzellarteriitis wurde bis 2012 auch als „Arteriitis temporalis“, „Arteriitis cranialis“ sowie „Morbus Horton“ bezeichnet. Diese Nomenklatur wurde aber verlassen, da zum einen nicht immer die A. temporalis (bzw. kranielle Arterien) bei Erkrankung an einer Riesenzellarteriitis betroffen sein muss, zum anderen auch andere entzündliche Gefäßerkrankungen die A. temporalis befallen können.
Die Abgrenzung von Riesenzellarteriitis (bzw. früher Arteriitis temporalis) und Polymyalgia rheumatica bereitet nach wie vor große Schwierigkeiten. Während sie zunächst als voneinander unabhängige Krankheitsbilder angesehen wurden, gehen nach heutigem Kenntnisstand beide Krankheitsbilder auf eine Vaskulitis der großen Arterien mit Riesenzellbildung zurück (= Riesenzellarteriitis). So tritt die typische Klinik der Riesenzellarteriitis (temporaler Kopfschmerz, Visusverlust etc.) bei einer Beteiligung der kraniellen Gefäße (ca. 70% aller Riesenzellarteritiden) auf, während bei der Polymyalgia rheumatica entzündliche Veränderungen in der A. subclavia gefunden wurden. Von Letzterer nimmt man an, dass es sich um eine klinisch mildere Ausprägung der Riesenzellarteriitis handelt, die in ca. 50% der Riesenzellarteritiden auftritt und auch auf die angrenzenden Gelenke und Sehnenscheiden übergreifen kann.
Epidemiologie
Ätiologie
- Nicht vollständig geklärt, diskutiert werden:
- Genetische Prädisposition
- Äußere Faktoren (bspw. Parvovirus B19): Triggern die Auslösung einer Immunreaktion
- Aktivierung dendritischer Zellen → Chemokinausschüttung → Aktivierung von CD4+-T-Zellen → Rekrutierung von Lymphozyten und Makrophagen (letztere fusionieren zu den namensgebenden und histologisch nachweisbaren „Riesenzellen“)
Symptome/Klinik
Allgemeinsymptome
- Gemeinsame Symptomatik bei Polymyalgia rheumatica und Riesenzellarteriitis, u.a.
- Depressive Verstimmung
- B-Symptomatik: Fieber, Gewichtsverlust und Nachtschweiß
- Abgeschlagenheit
Polymyalgia rheumatica - Spezifische Symptome
- Leitsymptome
-
Bilaterale, muskuläre Schmerzen (insb. nachts) , Bewegungseinschränkung und Morgensteifigkeit
- Schultergürtel und Oberarm: Häufig initial betroffen, unilateraler Beginn möglich
- Beckengürtel und Oberschenkel
- Ca. 20% der Patienten leiden zusätzlich an Riesenzellarteriitis
-
Bilaterale, muskuläre Schmerzen (insb. nachts) , Bewegungseinschränkung und Morgensteifigkeit
- Weitere Symptome
- Nicht-erosive, asymmetrische Arthritis distaler Gelenke (z.B. Handgelenk) und insb. des Sternoklavikulargelenkes
- Kniegelenkserguss
- Synovialitis des Handgelenkes: Häufig mit Auftreten eines Karpaltunnelsyndroms assoziiert
Riesenzellarteriitis - Spezifische Symptome
- Leitsymptome: Je nachdem, welche Gefäße beteiligt sind, können die Symptome isoliert oder gemeinsam auftreten
- Entzündung der Arteria temporalis
- Pulssynchrone, bohrende, temporale Kopf-/Schläfenschmerzen
- Prominente, verhärtete und druckschmerzhafte A. temporalis superficialis
- Berührungsempfindlichkeit der umgebenden Haut
- Claudicatio masticatoria: Schmerzen beim Kauen (durch Ischämie der Kaumuskulatur)
- Entzündung der Augenarterien (A. ophthalmica, A. centralis retinae)
-
Visusstörungen, Augenmuskelbeteiligung:
- Flimmerskotome, Gesichtsfeldausfälle
- Warnsignal: Amaurosis fugax → Drohende Erblindung (anteriore ischämische Optikusneuropathie)!
-
Visusstörungen, Augenmuskelbeteiligung:
- Beteiligung weiterer Arterien möglich
- Befall der Äste des Aortenbogens
- Blutdruckdifferenz der Arme
- Koronaritis mit charakteristischer Symptomatik der Angina pectoris
- Komplikation: Aortenaneurysma und Aortendissektion
- Befall der Äste der A. carotis: Kopfschmerzen und zerebrale Durchblutungsstörungen
- Befall der Äste des Aortenbogens
- Entzündung der Arteria temporalis
Ca. 50% der Patienten leiden zusätzlich an einer Polymyalgia rheumatica!
Diagnostik
Labor
-
Entzündungszeichen
- BSG↑↑ (Sturzsenkung) mit >50 mm in der ersten Stunde
- CRP↑
- Evtl. Leukozytose
- Evtl. Anämie
- Normwertige Kreatinkinase
- Keine Autoantikörper
Polymyalgia rheumatica
- ACR-EULAR-Klassifikationskriterien der Polymyalgia rheumatica von 2012 [1]
- Erforderliche Kriterien
- Patientenalter ≥50 J.
- Neu aufgetretene symmetrische Schultergürtelschmerzen
- Erhöhte Entzündungsparameter (CRP und/oder BSG)
- Die Diagnose einer Polymyalgia rheumatica kann gestellt werden, wenn zusätzlich ≥4 Punkte vergeben werden können:
- Morgensteifigkeit >45 min → 2 Punkte
- Fehlen von Rheumafaktoren (RF) oder Anti-CCP-Antikörpern → 2 Punkte
- Schmerzen oder Bewegungseinschränkung des Beckengürtels → 1 Punkt
- Fehlen anderer Gelenkmanifestationen → 1 Punkt
- Bei zusätzlich erfolgter Arthrosonografie können weitere Punkte vergeben werden:
- Erforderliche Kriterien
- Weiterhin sind analgetikarefraktäre Schmerzen charakteristisch, die sich jedoch rasch nach Gabe von Corticosteroiden bessern (positiver Therapieversuch)
Riesenzellarteriitis
- ACR-Diagnosekriterien der Riesenzellarteriitis: Die Diagnose kann gestellt werden, wenn ≥3 Kriterien erfüllt sind
- Alter >50 Jahre
- Neu aufgetretene oder neuartige Kopfschmerzen
- Abnorme A. temporalis (Druckschmerzhaftigkeit, verhärtet, abgeschwächter/fehlender Puls)
- Sturzsenkung mit BSG >50 mm in der ersten Stunde
- Histologisch (Biopsie): Vaskulitis durch mononukleäre Zellinfiltration oder granulomatöse Gefäßentzündung meist mit Nachweis von Riesenzellen
- Bildgebung: Duplexsonografie
- Halozeichen
- Sanduhrförmiger Verlauf der Temporalarterie
Goldstandard der Diagnostik der Arteriitis temporalis ist die Biopsie des betroffenen Arteriensegmentes!
Die Riesenzellarteriitis tritt ohne Autoantikörper oder CK-Erhöhung auf und kann eine normwertige BSG aufweisen!
Pathologie
- Histologische Veränderungen bei Riesenzellarteriitis: Granulomatöse Panarteriitis von mittelgroßen und großen Arterien mit Riesenzellen, Intimaproliferation (führt zu Stenose des Lumens), Fragmentierung der Lamina elastica interna und lymphomononukleärer Infiltration
Zum Vergleich: Normalbefund
Differenzialdiagnosen
- Differenzialdiagnosen der Polymyalgia rheumatica
- Polymyositis und Dermatomyositis
- Myasthenia gravis
- Medikamenteninduzierte Myopathie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Akut
- Bei Augenbeteiligung bei Riesenzellarteriitis: Glucocorticoide hochdosiert (z.B. Stoßtherapie mit Prednisolon 1000 mg/d i.v.)
- Ohne Augenbeteiligung oder bei Polymyalgia rheumatica: Orale Corticoide (1. Wahl: Prednisolon) in mittlerer Dosierung
- Vor allem bei der Polymyalgie ist eine probatorische Gabe von Glucocorticoiden auch diagnostisch hilfreich → Promptes Ansprechen mit Schmerzlinderung ("diagnosis ex juvantibus")
- Chronisch
-
Glucocorticoide langsam reduzieren und ausschleichen (gänzliches Ausschleichen nach 2 Jahren), bei persistierenden Symptomen: Glucocorticoiddosen unterhalb der Cushingschwelle anstreben
- Bei Rezidiven, unzureichend ansprechender Glucocorticoidtherapie oder erhöhtem Risiko für Steroidnebenwirkungen: Gabe des IL-6-Hemmers Tocilizumab[2]
- Der Einsatz von Methotrexat ermöglicht die Einsparung von Glucocorticoiden
-
Glucocorticoide langsam reduzieren und ausschleichen (gänzliches Ausschleichen nach 2 Jahren), bei persistierenden Symptomen: Glucocorticoiddosen unterhalb der Cushingschwelle anstreben
- Supportiv
- Aufgrund der Langzeitbehandlung mit Glucocorticoiden: Osteoporoseprophylaxe, Blutzuckerkontrollen
- Prophylaxe mit ASS wird nicht mehr empfohlen [3]
Der Augenbefall bei Riesenzellarteriitis ist ein medizinischer Notfall und muss initial hochdosiert mit Glucocorticoiden (z.B. Prednisolon 1000 mg/d i.v.) behandelt werden!
Bei konkretem klinischen Verdacht auf eine Riesenzellarteriitis („A. temporalis“) soll unverzüglich mit einer Glucocorticoidtherapie begonnen werden; die anstehende Diagnostik soll den Therapiebeginn nicht verzögern. (DGIM - Klug entscheiden in der Rheumatologie)
Komplikationen
Riesenzellarteriitis
- Unbehandelt: Erblindung in ca. 20–30% der Fälle
- Ischämische zerebrale Läsionen in <2%
-
Arteriitis anderer großer Gefäße (40%)
- Beispiel: Befall der thorakalen Gefäße (in ca. 10% der Fälle)
- Pathologische Blutdruckdifferenz der Arme
- Thorakale Aortitis (Aortenbogensyndrom) in ca. 3% der Fälle
- Beispiel: Befall der thorakalen Gefäße (in ca. 10% der Fälle)
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Meditricks
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Polymyalgia rheumatica
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2022
- M31.-: Sonstige nekrotisierende Vaskulopathien
- M31.5: Riesenzellarteriitis bei Polymyalgia rheumatica
- M31.6: Sonstige Riesenzellarteriitis
- M35.-: Sonstige Krankheiten mit Systembeteiligung des Bindegewebes
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
- Exklusive: Polymyalgia rheumatica mit Riesenzellarteriitis (M31.5)
- M35.3: Polymyalgia rheumatica
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2022, DIMDI.