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Abhängigkeit und Drogen

Letzte Aktualisierung: 15.8.2023

Abstracttoggle arrow icon

Abhängigkeit ist u.a. durch Konsumverlangen, Schwierigkeiten in der Selbstbeherrschung, Toleranzentwicklung und Entzugssymptome gekennzeichnet. Pathophysiologisch liegen der Abhängigkeitsentstehung u.a. neurobiologische Veränderungen, lernpsychologische Effekte und genetische Prädispositionen zugrunde. Therapeutisch stehen je nach Motivations- und Erkrankungsstadium verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Man unterscheidet substanzgebundene Abhängigkeiten (bspw. Opioidabhängigkeit) von substanzungebundenen Abhängigkeiten (bspw. Glücksspielsucht).

Diagnosekriterientoggle arrow icon

Nach ICD-10

Schädlicher Gebrauch (F1x.1)

  • Durch Substanzgebrauch hervorgerufener physischer oder psychischer Schaden
  • Bestehen seit mind. 1 Monat oder wiederholt über die letzten 12 Monate

Abhängigkeitssyndrom (F1x.2)

Mind. 3 der nachfolgenden Kriterien bestehen zeitgleich über mind. 1 Monat oder wiederholt innerhalb von 12 Monaten [1]:

  1. Substanzverlangen (Craving)
  2. Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren
  3. Körperliches Entzugssyndrom
  4. Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz
  5. Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums
  6. Anhaltender Substanzgebrauch trotz nachweislich schädlicher Folgen

Entzugssyndrom (F1x.3) [1]

  • Dosisreduktion/Absetzen einer Substanz, nachdem diese wiederholt, meist langanhaltend und/oder in hohen Mengen konsumiert wurde
  • Symptomatik entspricht den bekannten Merkmalen des mit der betreffenden Substanz assoziierten Entzugssyndroms
  • Symptomatik ist nicht zurückführbar auf eine
    • Körperliche Erkrankung (unabhängig vom Substanzkonsum)
    • Andere psychische Störung oder Verhaltensstörung

Nach DSM-5 [2]

Substanzgebrauchsstörung

  • Kriterien: Mind. 2 der folgenden 11 Kriterien müssen innerhalb des letzten Jahres für die Diagnosestellung erfüllt worden sein
    • Kategorie „Verminderte Kontrolle“
      • Konsum von größeren Mengen und über einen längeren Zeitraum als ursprünglich beabsichtigt
      • Wunsch, den Konsum einzuschränken mit evtl. erfolglosen Versuchen
      • Hoher zeitlicher Aufwand für Beschaffung, Konsum und Erholung von der Rauschwirkung
      • Craving
    • Kategorie „Soziale Beeinträchtigung“
      • Wiederholter Konsum, der sich negativ auf wichtige Lebensbereiche wie Arbeit, Schule oder Familie auswirkt
      • Fortgeführter Konsum trotz daraus resultierender zwischenmenschlicher Probleme
      • Reduzieren oder Einstellen anderer Aufgaben und Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums
    • Kategorie „Riskanter Konsum“
      • Körperliche Schädigung/Gefährdung durch wiederholten Konsum
      • Fortgeführter Konsum trotz Vorliegen von körperlichen und psychischen Folgeschäden
    • Kategorie „Pharmakologische Aspekte“
  • Schweregradeinteilung
    • 2–3 Kriterien erfüllt: Leicht
    • 4–5 Kriterien erfüllt: Moderat
    • ≥6 Kriterien erfüllt: Schwer

Pathophysiologietoggle arrow icon

Neurobiologische Konzepte der Suchtentstehung

Mesolimbisches dopaminerges Belohnungssystem (endogenes Belohnungssystem)

  • Bestandteile
  • Physiologische Funktion: Motivationszentrum, Lernen von Verhaltensmustern [5] [3]
    • Reizwahrnehmung → Dopaminausschüttung aus Neuronen des mesolimbischen Belohnungssystems → Motivation bzw. Verlangen zur Ausführung einer Handlung → Ausführen des Verhaltens → Lustempfinden
    • Wiederholtes Ausführen des Verhaltens → Zelluläre Anpassungsprozesse → Verknüpfung von Reiz und Reaktion → Bahnung einer Reiz-Reaktions-Kette in Form eines Verhaltensmusters → Lerneffekt
  • Pathologische Funktion des Belohnungssystems bei Abhängigkeit [5]
    • Sucht-assoziierte Reize → Starke Dopaminausschüttung → Starkes Verlangen → Erhöhte Motivation für suchtbezogenes Verhalten
    • Dominanz von Sucht-assoziierten Reizen gegenüber natürlichen Reizen → Einengung der Wahrnehmung auf Sucht-assoziierte Reize → Vernachlässigung anderer Aktivitäten
    • Bahnung automatischer Reiz-Reaktions-Ketten → Verhaltensweisen werden erlernt → Chronifizierung von Abhängigkeit

Neuronale Korrelate bei Abhängigkeit [6] [7]

  • Neuronale Korrelate gestörter Impulskontrolle: Ungleichgewicht zwischen regulativem und emotionalem System
    • Schwächung von Hirnarealen, die zur willentlichen Steuerung eines Verhaltens wichtig sind → Kontrollverlust
    • Stärkung von Hirnarealen, die impulsives Verhalten begünstigen
  • Neuronale Korrelate für Toleranzentstehung: Veränderungen der Neurotransmission [8]
    • Bspw. Reduktion der zentralnervösen Wirkung eines Suchtmittels durch Veränderung der Anzahl beteiligter Rezeptoren

Lernpsychologische Konzepte der Suchtentstehung

Genetische Einflussfaktoren der Suchtentstehung

  • Hinweise auf genetische Zusammenhänge bestehen für alle Suchtmittel
  • Am ehesten multigenetischer Einfluss

Therapietoggle arrow icon

Allgemeine Therapieziele

  • Primär: Abstinenz
  • Sekundär: Konsumreduktion

Mögliche Therapieformen

Je nach Suchtmittel und Zeitpunkt der Behandlung sind unterschiedliche Angebote verfügbar.

  • Früh- und Kurzinterventionen
    • Definition: Interventionen von sehr kurzer Dauer
    • Bestandteile
      • Personalisiertes Feedback
      • Individuelle Zielfindung
      • Konkrete Ratschläge
    • Setting: Ambulant
  • Qualifizierte Entzugsbehandlung
    • Definition: Entgiftung und Rückfallprophylaxe
    • Bestandteile
      • Motivierungsphase
      • Behandlung von Intoxikations- und Entzugssymptomen
      • Interdisziplinäre Therapieeinheiten zur Vorbeugung von Rückfällen
    • Durchführung: Stationär oder teilstationär über eine Dauer von i.d.R. drei Wochen
    • Kostenübernahme: Durch die Krankenkasse oder Sozialhilfeträger
  • Entwöhnungsbehandlung
    • Definition: Behandlung in (möglichst zeitnahem) Anschluss an die qualifizierte Entzugsbehandlung zum Erreichen einer langfristigen Abstinenz
    • Bestandteile: Medizinische Rehabilitationsmaßnahmen
      • Stabilisierung der Abstinenz
      • Verbesserung der körperlichen und psychischen Gesundheit
      • Förderung der sozialen und beruflichen Wiedereingliederungen
    • Durchführung: Ambulant, teilstationär oder stationär
    • Kostenübernahme: Durch Rentenversicherungsträger oder Krankenkasse/Sozialhilfeträger
  • Nachbetreuung
    • Definition: Nachbehandlung zur langfristigen Stabilisierung der Abstinenz
    • Bestandteile
      • Anbindung an Fachambulanzen oder Beratungsstellen
      • Allgemeine ambulante Psychotherapieformen
      • Selbsthilfegruppen
    • Durchführung: Ambulant
  • Ggf. Substitutionstherapie, siehe Opioidabhängigkeit

Motivationsstrategien im Gespräch mit Suchtpatienten

Substanzgebundene Abhängigkeiten (Substanzabhängigkeit)toggle arrow icon

Substanzungebundene Abhängigkeit (Verhaltensabhängigkeiten)toggle arrow icon

Internetnutzungsstörungen: Computerspielsucht und Internetsucht

  • Epidemiologie [13]
    • Relativ hohe Prävalenz im Jugendalter
      • Jugendliche (12–17 Jahre): : 8,6%, : 6,7%
      • Junge Erwachsene (18–25 Jahre): : 5,1%, : 3,2%
    • Hauptaktivitäten
      • Computerspiele: >
      • Nutzung sozialer Netzwerke: >
  • Klinische Präsentation
    • Häufige Konflikte von Jugendlichen mit ihren Eltern
    • Nicht-Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten
    • Vernachlässigung sozialer Kontakte
    • Häufige Komorbiditäten: Bspw. affektive Störungen, Angststörungen, ADHS
  • Faktoren für erhöhtes Abhängigkeitspotenzial von Onlinespielen (Auszug) [9]
    • Charakteristika von Belohnungselementen
    • Soziale Interaktion
    • Negative Konsequenzen bei Spielpausen
  • Therapiemöglichkeiten

Glücksspielsucht (pathologisches Spielen)

  • Epidemiologie
    • Prävalenz: Ca. 0,5% der deutschen Bevölkerung [14]
    • Weniger als ¼ der Glücksspiel-Abhängigen sucht professionelle Hilfe auf [15]
    • Häufige Nebendiagnose im Rahmen der Behandlung einer anderen psychiatrischen Störung [14]
    • Akute Behandlungsbedürftigkeit häufig im Rahmen einer durch die Glücksspielsucht ausgelösten suizidalen Krise [14]
  • Klinische Präsentation (nach DSM-5)
    • Toleranzentwicklung: Es werden zunehmend steigende Geldbeträge aufgewendet
    • Craving: Bei Stopp des Glücksspiels zeigen sich Symptome wie Rastlosigkeit und Nervosität
    • Kontrollverlust: Es wurden mehrfach Versuche unternommen, das Glücksspiel zu kontrollieren, zu reduzieren oder ganz zu beenden
    • Fokussierung: Starke gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel
    • Stressverhalten: Vermehrtes Glücksspielen in Phasen starker emotionaler Belastung
    • Kompensationsabsicht: Nach einem Glücksspiel mit hohem finanziellen Verlust folgt ein erneutes Glücksspiel am darauffolgenden Tag in der Absicht, das verlorene Geld zurückzugewinnen
    • Lügen: Erfinden von Lügen, um das Glücksspielen zu verheimlichen oder zu verharmlosen
    • Soziale und gesellschaftliche Schäden: Verlust sozialer Kontakte oder einer Arbeitsstelle infolge des Glücksspielens
    • Verschuldung: Aufnahme von Schulden zur Weiterführung der Glücksspielsucht
  • Therapiemöglichkeiten
  • Sonderfall: Glücksspielsucht unter Parkinsonmedikation [16]

Differenzialdiagnose Drogenintoxikationtoggle arrow icon

Bodystuffing, Bodypackingtoggle arrow icon

  • Definition: Transport von Drogen durch Verschlucken/Einbringen von verpackten Drogen in den menschlichen Körper
  • Bodypacker-Syndrom: Vergiftung bei Zerreißen der Verpackung mit Austritt großer Mengen an Drogen in den menschlichen Kreislauf
    • Klinik: Die Symptome variieren je nach ausgetretenem Stoff

Aggressives Verhalten bei intoxikierten Patiententoggle arrow icon

  • Allgemeines Vorgehen
    • Eigenschutz geht immer vor!
    • Ruhige, klare und freundliche Ansprache, bei ablehnenden Patienten konsequentes Auftreten mit klaren Ansagen und Grenzsetzung
    • Aggressive Impulse offen erfragen
    • Personal zur Hilfe holen
    • Bei Bedarf Polizei hinzuziehen
    • Gefährliche Gegenstände sichern
    • Siehe auch: Fremdaggressives Verhalten - AMBOSS-SOP
  • Anwendung von Zwangsmaßnahmen
    • Indikation: Nur nach Ausschöpfen aller deeskalierenden Maßnahmen und wenn nach den jeweiligen Landesgesetzen erhebliche akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht
    • Mechanische Fixierung: Kontinuierliche Beobachtung mit lückenloser Dokumentation (u.a. Fixierungsprotokoll)

Patienteninformationentoggle arrow icon

Quellentoggle arrow icon

  1. Joffe et al.:Biological substrates of addictionIn: Wiley Interdisciplinary Reviews: Cognitive Science. Band: 5, Nummer: 2, 2014, doi: 10.1002/wcs.1273 . | Open in Read by QxMD p. 151-171.
  2. Adinoff:Neurobiologic Processes in Drug Reward and AddictionIn: Harvard Review of Psychiatry. Band: 12, Nummer: 6, 2004, doi: 10.1080/10673220490910844 . | Open in Read by QxMD p. 305-320.
  3. Sulzer:How Addictive Drugs Disrupt Presynaptic Dopamine NeurotransmissionIn: Neuron. Band: 69, Nummer: 4, 2011, doi: 10.1016/j.neuron.2011.02.010 . | Open in Read by QxMD p. 628-649.
  4. Wiers et al.:Automatic and controlled processes and the development of addictive behaviors in adolescents: a review and a model.In: Pharmacology, biochemistry, and behavior. Band: 86, Nummer: 2, 2007, doi: 10.1016/j.pbb.2006.09.021 . | Open in Read by QxMD p. 263-83.
  5. Bechara:Decision making, impulse control and loss of willpower to resist drugs: a neurocognitive perspective.In: Nature neuroscience. Band: 8, Nummer: 11, 2005, doi: 10.1038/nn1584 . | Open in Read by QxMD p. 1458-63.
  6. Koob:Addiction is a Reward Deficit and Stress Surfeit DisorderIn: Frontiers in Psychiatry. Band: 4, 2013, doi: 10.3389/fpsyt.2013.00072 . | Open in Read by QxMD.
  7. Batra, Bilke-Hentsch: Praxisbuch Sucht. Thieme 2016, ISBN: 978-3-131-49202-9.
  8. Rumpf et al.:Sucht oder Impulskontrollstörung? Vergleich von DSM und ICD in der Diagnostik Pathologischen GlücksspielensIn: Suchttherapie. Band: 16, 2015, doi: 10.1055/s-0035-1557671 . | Open in Read by QxMD.
  9. Aarseth et al.:Scholars’ open debate paper on the World Health Organization ICD-11 Gaming Disorder proposalIn: Journal of Behavioral Addictions. Band: 6, Nummer: 3, 2017, doi: 10.1556/2006.5.2016.088 . | Open in Read by QxMD p. 267-270.
  10. van den Brink:ICD-11 Gaming Disorder: Needed and just in time or dangerous and much too early?In: Journal of Behavioral Addictions. Band: 6, Nummer: 3, 2017, doi: 10.1556/2006.6.2017.040 . | Open in Read by QxMD p. 290-292.
  11. Voderholzer, Hohagen: Therapie psychischer Erkrankungen - State of the art. 17. Auflage Urban & Fischer 2021, ISBN: 978-3-437-24914-3.
  12. Pathologisches Glücksspielen.
  13. Pathologisches Glücksspielen und Epidemiologie (PAGE): Entstehung, Komorbidität, Remission und Behandlung.
  14. Suchowersky:Treatment of Parkinson's disease—where do we go from here?In: Nature Clinical Practice Neurology. Band: 2, Nummer: 9, 2006, doi: 10.1038/ncpneuro0290 . | Open in Read by QxMD p. 461-461.
  15. WHO - World Health Organization: Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. 9. Auflage Hogrefe 2019, ISBN: 978-3-456-85992-7.
  16. Diagnostic and statistical manual of mental disorders, 5th edition (DSM-5).