Abstract
Abhängigkeit ist u.a. durch Konsumverlangen, Schwierigkeiten in der Selbstbeherrschung, Toleranzentwicklung und Entzugssymptome gekennzeichnet. Pathophysiologisch liegen der Abhängigkeitsentstehung u.a. neurobiologische Veränderungen, lernpsychologische Effekte und genetische Prädispositionen zugrunde. Therapeutisch stehen je nach Motivations- und Erkrankungsstadium verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Man unterscheidet substanzgebundene Abhängigkeiten (bspw. Opioidabhängigkeit) von substanzungebundenen Abhängigkeiten (bspw. Glücksspielsucht).
Diagnosekriterien
Nach ICD-10
Schädlicher Gebrauch (F1x.1)
- Durch Substanzgebrauch hervorgerufener physischer oder psychischer Schaden
- Bestehen seit mind. 1 Monat oder wiederholt über die letzten 12 Monate
Abhängigkeitssyndrom (F1x.2)
Mind. 3 der nachfolgenden Kriterien bestehen zeitgleich über mind. 1 Monat oder wiederholt innerhalb von 12 Monaten [1]:
- Substanzverlangen (Craving)
- Schwierigkeiten, den Konsum zu kontrollieren
- Körperliches Entzugssyndrom
- Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz
- Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums
- Anhaltender Substanzgebrauch trotz nachweislich schädlicher Folgen
Entzugssyndrom (F1x.3) [1]
- Dosisreduktion/Absetzen einer Substanz, nachdem diese wiederholt, meist langanhaltend und/oder in hohen Mengen konsumiert wurde
- Symptomatik entspricht den bekannten Merkmalen des mit der betreffenden Substanz assoziierten Entzugssyndroms
- Symptomatik ist nicht zurückführbar auf eine
- Körperliche Erkrankung (unabhängig vom Substanzkonsum)
- Andere psychische Störung oder Verhaltensstörung
Nach DSM-5 [2]
Substanzgebrauchsstörung
- Kriterien: Mind. 2 der folgenden 11 Kriterien müssen innerhalb des letzten Jahres für die Diagnosestellung erfüllt worden sein
- Kategorie „Verminderte Kontrolle“
- Konsum von größeren Mengen und über einen längeren Zeitraum als ursprünglich beabsichtigt
- Wunsch, den Konsum einzuschränken mit evtl. erfolglosen Versuchen
- Hoher zeitlicher Aufwand für Beschaffung, Konsum und Erholung von der Rauschwirkung
- Craving
- Kategorie „Soziale Beeinträchtigung“
- Wiederholter Konsum, der sich negativ auf wichtige Lebensbereiche wie Arbeit, Schule oder Familie auswirkt
- Fortgeführter Konsum trotz daraus resultierender zwischenmenschlicher Probleme
- Reduzieren oder Einstellen anderer Aufgaben und Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums
- Kategorie „Riskanter Konsum“
- Körperliche Schädigung/Gefährdung durch wiederholten Konsum
- Fortgeführter Konsum trotz Vorliegen von körperlichen und psychischen Folgeschäden
- Kategorie „Pharmakologische Aspekte“
- Toleranzentwicklung
- Entzugssymptomatik bei Konsumkarenz bzw. reduziertem Konsum
- Kategorie „Verminderte Kontrolle“
- Schweregradeinteilung
- 2–3 Kriterien erfüllt: Leicht
- 4–5 Kriterien erfüllt: Moderat
- ≥6 Kriterien erfüllt: Schwer
Pathophysiologie
Neurobiologische Konzepte der Suchtentstehung
Mesolimbisches dopaminerges Belohnungssystem (endogenes Belohnungssystem)
- Bestandteile
- Dopaminerge Neurone des ventralen Tegmentums im Mittelhirn, die zum Nucleus accumbens des Vorderhirns führen [3]
- Modulierende Areale: Unter anderem opioiderge, glutamaterge, GABAerge und noradrenerge Neurone im ventralen Pallidum und präfrontalen Kortex sowie in Teilen der Amygdala und des Thalamus [4]
- Physiologische Funktion: Motivationszentrum, Lernen von Verhaltensmustern [5] [3]
- Reizwahrnehmung → Dopaminausschüttung aus Neuronen des mesolimbischen Belohnungssystems → Motivation bzw. Verlangen zur Ausführung einer Handlung → Ausführen des Verhaltens → Lustempfinden
- Wiederholtes Ausführen des Verhaltens → Zelluläre Anpassungsprozesse → Verknüpfung von Reiz und Reaktion → Bahnung einer Reiz-Reaktions-Kette in Form eines Verhaltensmusters → Lerneffekt
- Pathologische Funktion des Belohnungssystems bei Abhängigkeit [5]
- Sucht-assoziierte Reize → Starke Dopaminausschüttung → Starkes Verlangen → Erhöhte Motivation für suchtbezogenes Verhalten
- Dominanz von Sucht-assoziierten Reizen gegenüber natürlichen Reizen → Einengung der Wahrnehmung auf Sucht-assoziierte Reize → Vernachlässigung anderer Aktivitäten
- Bahnung automatischer Reiz-Reaktions-Ketten → Verhaltensweisen werden erlernt → Chronifizierung von Abhängigkeit
Neuronale Korrelate bei Abhängigkeit [6] [7]
- Neuronale Korrelate gestörter Impulskontrolle: Ungleichgewicht zwischen regulativem und emotionalem System
- Schwächung von Hirnarealen, die zur willentlichen Steuerung eines Verhaltens wichtig sind → Kontrollverlust
- Schwächung des präfrontalen Kortex durch dopaminerge Neurone des mesolimbischen Belohnungssystems
- Direkte neurotoxische Drogenwirkung auf Areale, die für die Impulskontrolle notwendig sind
- Stärkung von Hirnarealen, die impulsives Verhalten begünstigen
- Schwächung von Hirnarealen, die zur willentlichen Steuerung eines Verhaltens wichtig sind → Kontrollverlust
- Neuronale Korrelate für Toleranzentstehung: Veränderungen der Neurotransmission [8]
- Bspw. Reduktion der zentralnervösen Wirkung eines Suchtmittels durch Veränderung der Anzahl beteiligter Rezeptoren
Lernpsychologische Konzepte der Suchtentstehung
- Klassische Konditionierung
-
Operante Konditionierung mit Verstärkungsmechanismen
- Positive Verstärkung: Konsum führt zu positivem Zustand
- Negative Verstärkung: Konsum beendet oder reduziert negativen Zustand
- Lernen am Modell
Genetische Einflussfaktoren der Suchtentstehung
- Hinweise auf genetische Zusammenhänge bestehen für alle Suchtmittel
- Am ehesten multigenetischer Einfluss
Therapie
Allgemeine Therapieziele
- Primär: Abstinenz
- Sekundär: Konsumreduktion
Mögliche Therapieformen
Je nach Suchtmittel und Zeitpunkt der Behandlung sind unterschiedliche Angebote verfügbar.
- Früh- und Kurzinterventionen
- Definition: Interventionen von sehr kurzer Dauer
- Bestandteile
- Personalisiertes Feedback
- Individuelle Zielfindung
- Konkrete Ratschläge
- Setting: Ambulant
- Qualifizierte Entzugsbehandlung
- Definition: Entgiftung und Rückfallprophylaxe
- Bestandteile
- Motivierungsphase
- Behandlung von Intoxikations- und Entzugssymptomen
- Interdisziplinäre Therapieeinheiten zur Vorbeugung von Rückfällen
- Durchführung: Stationär oder teilstationär über eine Dauer von i.d.R. drei Wochen
- Kostenübernahme: Durch die Krankenkasse oder Sozialhilfeträger
- Entwöhnungsbehandlung
- Definition: Behandlung in (möglichst zeitnahem) Anschluss an die qualifizierte Entzugsbehandlung zum Erreichen einer langfristigen Abstinenz
- Bestandteile: Medizinische Rehabilitationsmaßnahmen
- Stabilisierung der Abstinenz
- Verbesserung der körperlichen und psychischen Gesundheit
- Förderung der sozialen und beruflichen Wiedereingliederungen
- Durchführung: Ambulant, teilstationär oder stationär
- Kostenübernahme: Durch Rentenversicherungsträger oder Krankenkasse/Sozialhilfeträger
- Nachbetreuung
- Definition: Nachbehandlung zur langfristigen Stabilisierung der Abstinenz
- Bestandteile
- Anbindung an Fachambulanzen oder Beratungsstellen
- Allgemeine ambulante Psychotherapieformen
- Selbsthilfegruppen
- Durchführung: Ambulant
- Ggf. Substitutionstherapie, siehe Opioidabhängigkeit
Motivationsstrategien im Gespräch mit Suchtpatienten
Substanzgebundene Abhängigkeiten (Substanzabhängigkeit)
Siehe folgende Kapitel für substanzspezifische Inhalte:
- Alkohol (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Cannabis (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Halluzinogene (Intoxikation und Abhängigkeit)
- Sedativa (Intoxikation und Abhängigkeit)
- (Siehe Benzodiazepine und Benzodiazepin-ähnliche Substanzen für verschreibungsrelevante Informationen)
- Nikotin (Abusus und Abhängigkeit)
- Opioide (Intoxikation und Abhängigkeit)
- (Siehe Opioide für verschreibungsrelevante Informationen)
- Psychostimulanzien (Intoxikation und Abhängigkeit)
Substanzungebundene Abhängigkeit (Verhaltensabhängigkeiten)
- Beschreibung: Psychischer Zwang oder Abhängigkeit, die nicht an eine Substanz, sondern an ein bestimmtes Verhalten gebunden ist
- Einordnung in diagnostische Klassifikationssysteme [9]
- Bisher Einordnung als Impulskontrollstörung in ICD-10 und DSM-5
- Wissenschaftlicher Diskurs um alternative Einordnung als Suchterkrankung
- Ausnahmen
- Pathologisches Spielen (Glücksspielsucht): Neueinordnung als Suchterkrankung in der DSM-5 [10]
- Computerspielsucht
- Therapie
- Therapiegrundsätze bei Verhaltensabhängigkeiten
- Multimodale, individuelle psychotherapeutische Begleitung
- Einbezug von Komorbiditäten (insb. Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen)
- Abstinenzkonzept teils nicht möglich oder sinnvoll
- Zum allgemeinen Vorgehen bei Abhängigkeitserkrankungen siehe: Therapie von Abhängigkeiten
- Therapiegrundsätze bei Verhaltensabhängigkeiten
Internetnutzungsstörungen: Computerspielsucht und Internetsucht
- Epidemiologie [13]
- Klinische Präsentation
- Häufige Konflikte von Jugendlichen mit ihren Eltern
- Nicht-Teilnahme an gemeinsamen Mahlzeiten
- Vernachlässigung sozialer Kontakte
- Häufige Komorbiditäten: Bspw. affektive Störungen, Angststörungen, ADHS
- Faktoren für erhöhtes Abhängigkeitspotenzial von Onlinespielen (Auszug) [9]
- Charakteristika von Belohnungselementen
- Soziale Interaktion
- Negative Konsequenzen bei Spielpausen
- Therapiemöglichkeiten
- Keine flächendeckenden kassenfinanzierten Versorgungsangebote
- Wenige spezialisierte Fachkliniken
- Ambulante Angebote über Suchtberatungsstellen
- Weitere Informationen siehe: Angebotsübersicht unter Tipps & Links sowie Therapie von Abhängigkeiten und Therapiegrundsätze bei Verhaltensabhängigkeiten
Glücksspielsucht (pathologisches Spielen)
- Epidemiologie
- Prävalenz: Ca. 0,5% der deutschen Bevölkerung [14]
- Weniger als ¼ der Glücksspiel-Abhängigen sucht professionelle Hilfe auf [15]
- Häufige Nebendiagnose im Rahmen der Behandlung einer anderen psychiatrischen Störung [14]
- Akute Behandlungsbedürftigkeit häufig im Rahmen einer durch die Glücksspielsucht ausgelösten suizidalen Krise [14]
- Klinische Präsentation (nach DSM-5)
- Toleranzentwicklung: Es werden zunehmend steigende Geldbeträge aufgewendet
- Craving: Bei Stopp des Glücksspiels zeigen sich Symptome wie Rastlosigkeit und Nervosität
- Kontrollverlust: Es wurden mehrfach Versuche unternommen, das Glücksspiel zu kontrollieren, zu reduzieren oder ganz zu beenden
- Fokussierung: Starke gedankliche Beschäftigung mit dem Glücksspiel
- Stressverhalten: Vermehrtes Glücksspielen in Phasen starker emotionaler Belastung
- Kompensationsabsicht: Nach einem Glücksspiel mit hohem finanziellen Verlust folgt ein erneutes Glücksspiel am darauffolgenden Tag in der Absicht, das verlorene Geld zurückzugewinnen
- Lügen: Erfinden von Lügen, um das Glücksspielen zu verheimlichen oder zu verharmlosen
- Soziale und gesellschaftliche Schäden: Verlust sozialer Kontakte oder einer Arbeitsstelle infolge des Glücksspielens
- Verschuldung: Aufnahme von Schulden zur Weiterführung der Glücksspielsucht
- Therapiemöglichkeiten
- Ambulante und stationäre Entwöhnungsbehandlungen
- Selbsthilfegruppen , Onlineberatungen und telefonische Beratungsangebote
- Spielersperre
- Schuldnerberatung
- Bisher keine Empfehlungen für medikamentöse Therapien [14]
- Weitere Informationen siehe: Angebotsübersicht in Tipps & Links sowie Therapie von Abhängigkeiten und Therapiegrundsätze bei Verhaltensabhängigkeiten
- Sonderfall: Glücksspielsucht unter Parkinsonmedikation [16]
- Seltene Nebenwirkung unter Medikation mit hohen Dosen von Dopaminagonisten
- Vermutlich durch Überstimulation des mesolimbischen dopaminergen Belohnungssystems
- Auch Impulskontrollstörungen wie Hypersexualität und Kaufsucht wurden beschrieben
- Therapie: Ggf. Absetzen oder Umstellen der Parkinsonmedikation erwägen
Differenzialdiagnose Drogenintoxikation
Differenzialdiagnose Drogenintoxikation | ||||
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Pupillen | Blutdruck | Herzfrequenz | Weitere Symptome | |
Opioide |
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Cannabinoide |
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Kokain | ||||
Amphetamin |
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Halluzinogene | ||||
Liquid Ecstasy |
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Bodystuffing, Bodypacking
- Definition: Transport von Drogen durch Verschlucken/Einbringen von verpackten Drogen in den menschlichen Körper
- Bodypacker-Syndrom: Vergiftung bei Zerreißen der Verpackung mit Austritt großer Mengen an Drogen in den menschlichen Kreislauf
- Klinik: Die Symptome variieren je nach ausgetretenem Stoff
Aggressives Verhalten bei intoxikierten Patienten
- Allgemeines Vorgehen
- Eigenschutz geht immer vor!
- Ruhige, klare und freundliche Ansprache, bei ablehnenden Patienten konsequentes Auftreten mit klaren Ansagen und Grenzsetzung
- Aggressive Impulse offen erfragen
- Personal zur Hilfe holen
- Bei Bedarf Polizei hinzuziehen
- Gefährliche Gegenstände sichern
- Siehe auch: Fremdaggressives Verhalten - AMBOSS-SOP
- Anwendung von Zwangsmaßnahmen
- Indikation: Nur nach Ausschöpfen aller deeskalierenden Maßnahmen und wenn nach den jeweiligen Landesgesetzen erhebliche akute Eigen- oder Fremdgefährdung besteht
- Mechanische Fixierung: Kontinuierliche Beobachtung mit lückenloser Dokumentation (u.a. Fixierungsprotokoll)