Zusammenfassung
Chronischer nicht-tumorbedingter Schmerz (CNTS) ist definiert als Schmerz, der länger als 3 Monate andauert oder wiederkehrend auftritt. Er stellt ein subjektives Erleben dar, das ernst genommen werden muss, auch ohne klare Ursache. Die Prävalenz im hausärztlichen Bereich liegt bei ca. 20%, wobei über 75% der Betroffenen älter als 50 Jahre sind. Die Pathogenese folgt einem biopsychosozialen Modell. Die Diagnostik umfasst eine strukturierte Anamnese, ein Screening auf psychische Komorbiditäten und die Suche nach Red Flags. Die Therapie basiert auf multimodalen Ansätzen mit Fokus auf nicht-medikamentösen Maßnahmen wie körperlicher Aktivität, Edukation und dem Setzen realistischer, funktionsorientierter Ziele. Medikamente kommen zurückhaltend und zeitlich begrenzt zum Einsatz.
Klassifikation
- Primäres Schmerzsyndrom: Schmerzzustände, die eine Person emotional und funktionell einschränken und nicht durch eine körperliche Schädigung (ausreichend) erklärt werden können [1]
- Sekundäres Schmerzsyndrom: Schmerzzustände, die auf dem Boden einer Erkrankung oder Organpathologie entstehen [1]
- Für Grundlagen siehe: Schmerz und Schmerzformen
Eine eindeutige Zuordnung ist nicht immer möglich!
Epidemiologie
- Prävalenz: Ca. 20% aller hausärztlich behandelten Patient:innen [1]
- Alter: >75% der Betroffenen über 50 Jahre alt [1]
Eine proaktive Befragung nach Schmerzen und dem Gebrauch von Schmerzmitteln wird bei Patient:innen >50 Jahre empfohlen! [1]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Biopsychosoziales Modell [1]
Ganzheitliches Erklärungsmodell (hier: für die Entstehung und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzen):
- BIO
- Gewebeschädigungen
- Entzündungen
- Muskelverspannungen
- PSYCHO
- Ängste, Sorgen
- Niedergeschlagenheit
- Unterdrückter Ärger
- Katastrophisierendes Denken
- SOZIAL
- Berufliche Belastung oder Arbeitsunfähigkeit
- Familiäre Unterstützung oder Konflikte
- Soziale Isolation
- Kulturelle oder gesellschaftliche Schmerzvorstellungen
Insb. der chronisch-generalisierte Schmerz wird durch psychosoziale Faktoren beeinflusst! [2]
Schmerzmodelle (Auswahl) [1][2]
- Neurophysiologische Mechanismen
- Schmerzgedächtnis: Dauerhafte Potenzierung der synaptischen Schmerzübertragung und strukturelle Nervenzellveränderungen durch intensive/wiederholte Schmerzen → Erhöhte Empfindlichkeit nozizeptiver Rezeptoren
- Gate-Control-Theorie: Modulierbarkeit der Schmerzweiterleitung im Rückenmark durch periphere und zentrale Nervenfasern → Chronifizierung durch unzureichende körpereigene Hemmung und gesenkte Schmerzschwelle
- Lerntheoretische Aspekte
- Positive Verstärkung
- Negative Verstärkung
- Mangelnde Verstärkung
- Fear-Avoidance Behavior: Angstbedingte Vermeidung von Bewegung → Muskelabbau, Muskelverspannungen, Schmerzzunahme
- Kognitiv-behaviorale Aspekte
- Einfluss von Bewertungs- und Verarbeitungsprozessen auf Schmerzerleben und -verhalten
- Gefühl von Hilf- und Hoffnungslosigkeit trägt zur Schmerzaufrechterhaltung bei
- Schmerz als Folge traumatischer, dysfunktionaler Verarbeitungsprozesse
- Grundlage: Traumaassoziierte sensorische Übererregbarkeit → Sensibilisierung des schmerzverarbeitenden Systems
- Psychodynamische Prozesse
- Im Sinne des Konversionsmodells
- Als Folge von Alexithymie
- Im Rahmen depressiver Störungen
- Bei narzisstischen Konflikten
Symptomatik
- Dauer: >3 Monate oder wiederkehrend [1]
- Charakter: Variiert in Intensität und Ausprägung [1]
- Häufigste Lokalisationen [1]
- Pathogenetische Zuordnung [1]
- Nozizeptiver Schmerz
- Neuropathischer Schmerz
- Noziplastischer Schmerz
- Psychogener Schmerz
- Gemischt (Mixed Pain)
- Psychische Komorbiditäten: Häufig assoziiert mit Depression, Angststörungen, PTBS und somatoformen Störungen [1]
Diagnostik
Exploration [1]
Eine strukturierte Schmerzanamnese sollte mind. einmal erfolgen, bei Bedarf ergänzt durch Fragebögen und Skalen.
- Schmerzanamnese
- Erfassung biologischer, psychologischer und sozialer Einflussfaktoren
- Schmerzbeginn, -lokalisation, -häufigkeit, -intensität, -qualität und -verlauf
- Schmerzverstärkende und -lindernde Faktoren
- Beeinträchtigungen in Alltag und Beruf
- Screening psychischer Störungen
- Angststörungen
- Gab es in den vergangenen 4 Wochen Phasen, in denen Sie sich
- Innerlich angespannt, ängstlich oder emotional aus dem Gleichgewicht gebracht gefühlt haben?
- Viele Sorgen gemacht haben?
- Haben Sie in den letzten 4 Wochen Panikattacken erlebt?
- Siehe auch: Diagnostik bei Angststörungen
- Gab es in den vergangenen 4 Wochen Phasen, in denen Sie sich
- Depression, siehe:
- Weitere: Patient Health Questionnaire (PHQ-D)
- Angststörungen
- Bei jedem Beratungsanlass: Überprüfung von
- Analgetika-Verordnungshäufigkeit und -menge
- Red Flags, siehe auch:
Schmerz ist immer eine subjektive Empfindung und muss unabhängig von einer nachweisbaren Ursache ernst genommen werden! [1]
Bei eingeschränkter Kognition oder Kommunikation sind schmerztypische Verhaltensweisen zu beachten und Bezugspersonen in die Anamnese einzubeziehen (siehe auch: Praxistipps für die medizinische Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung)! [1]
Schmerzfragebögen [1]
- Schmerzcharakteristika
- Affektive/sensorische Aspekte: Short-Form McGill Pain Questionnaire – Deutsche Version (SF-MPQ)
- Neuropathischer Schmerz: Pain-Detect-Fragebogen (PD‑Q)
- Schmerzintensität
- Schmerzbedingte Einschränkungen: Pain Disability Index (PDI)
- Siehe unter: Tipps & Links
- Dysfunktionale Denk- und Handlungsmuster
- Schmerzen bei Demenz: BESD-Skala
Körperliche Untersuchung [1]
- Basis für pathogenetische Zuordnung
- Je nach Schmerzlokalisation, siehe bspw.:
Weiterführende Diagnostik [1]
- Indikation
- Verdacht auf spezifische Organpathologie
- Red Flags, siehe auch:
- Ggf. zu Verlaufsbeurteilung
- Keine Indikation: Wiederholung bei lange zurückliegenden, unauffälligen Befunden
Therapie
Allgemeine Prinzipien [1]
- Kausale Therapie: Identifikation und spezifische Behandlung behandelbarer Ursachen
- Edukation: Aufklärung über Chronizität, biopsychosoziales Modell, Diagnostiknotwendigkeit/-verzicht, Behandlungsoptionen inkl. Selbstmanagement
- Therapieziele
- Individuell und realistisch vereinbaren
- Einseitige Fokussierung auf Schmerzintensität vermeiden
- Fokus auf Alltagsfunktionen und Lebensqualität
- Behandlungsplan: Schriftliche Fixierung von Zielen und Maßnahmen
- Regelmäßige Termine: Geplante Kontrollen unabhängig von akuten Exazerbationen
Vollständige Schmerzfreiheit ist bei Behandlung chronischer Schmerzen i.d.R. kein realistisches Therapieziel!
Nicht-medikamentöse Therapie [1]
- Körperliche Aktivität: Basis der Therapie
- Keine spezifische Aktivität bevorzugt
- Wichtig: Freude an Bewegung, dauerhafte Implementierung
- Maßnahmen mit niedrigem Risiko (Auswahl)
- Entspannungsverfahren
- Äußere Anwendungen
- Klassische Hausmittel
- Psychotherapie : Kann bei ca. 30–60% der Patient:innen hilfreich sein
- Ggf. internetbasierte Interventionen anbieten
- Siehe auch: Psychologische Methoden der Schmerzbewältigung
- Je nach Beeinträchtigungsgrad, ggf.
- Sozialmedizinische Beratung
- Verordnung von Heilmitteln/Hilfsmitteln
- Information bzgl. sozialer Aktivitäten
Körperliche Aktivität ist essenzieller Bestandteil der Therapie!
Medikamentöse Therapie [1]
Nur ca. ein Drittel aller chronischen Schmerzpatient:innen profitieren von einer medikamentösen Schmerzbehandlung!
- Grundlagen
- Als Überbrückungsmaßnahme und Therapieversuch klassifizieren
- Zeitrahmen für Versuch und Auslassversuch initial besprechen
- Siehe auch: Grundlagen der Schmerztherapie - Medikamente
- Nozizeptiver Schmerz
- Mit Nicht-Opioiden beginnen
- Orientiert an WHO-Stufenschema
- Neuropathischer Schmerz
- Spricht schlecht auf Nicht-Opioide/Opioide an
- Mittel der ersten Wahl: Gabapentinoide, Trizyklika
- Bei diabetischer Neuropathie: Duloxetin
- Bei umschriebenen Schmerzen: Lidocain-Pflaster
- Siehe auch: Therapie der Polyneuropathie
Multimodale Schmerztherapie
Allgemein [1][2]
- Indikation: Unzureichender Therapieerfolg
- Vorgehen: Multimodales Assessment und anschließende multimodale Therapie oder Rehabilitation
- Koordination
- Durch eine Instanz (i.d.R. hausärztliche Praxis)
- Anbieten regelmäßiger Gesprächstermine
- Setting: I.d.R. als Gruppentherapie
- Ambulant: 8–12 Wochen
- Stationär: 3–4 Wochen
- Siehe auch:
Behandlungsmaßnahmen [2]
Multimodale Behandlungsprogramme setzen sich aus 4 zentralen Bausteinen zusammen:
- Aktivierende Maßnahmen
- Moderates Ausdauertraining
- Gezielter Muskelaufbau
- Förderung des Vertrauens in die Bewegung
- Graduierte Exposition
- Physikalische Maßnahmen, bspw. Physiotherapie
- Psychotherapeutische Maßnahmen, u.a.
- Verhaltenstherapie
- Entspannungsverfahren
- Gezielte Interventionen (systemisch, psychodynamisch, traumafokussiert)
- Pharmakotherapie
- Siehe: Grundlagen der Schmerztherapie - Medikamente
- Ggf. Behandlung komorbider psychiatrischer Erkrankungen
Aktive Behandlungsmaßnahmen (bspw. Psychotherapie, Physiotherapie, körperliche Aktivität) sind effektiver als passive Behandlungsmaßnahmen (bspw. Massagen, Injektionen, Operationen)!
Es gilt, eine gute Balance zwischen suffizienter Belastung einerseits und Entspannung andererseits zu finden!
Psychologische Methoden der Schmerzbewältigung [2]
- Psychoedukation
- Vermittlung einer ganzheitlichen Sichtweise (biopsychosoziales Modell)
- Abbau von
- Maladaptiven Verhaltensweisen
- Irrationalen Ängsten
- Förderung von
- Aktiver Schmerzbewältigung
- Selbstmanagementkompetenzen
- Gesundem (aktiven) Verhalten
- Entspannungsverfahren: Bspw. PMR, autogenes Training
- Förderung der Körperwahrnehmung
- Ablenkungsstrategie
- Abbau von Muskelverspannungen
- Biofeedback
- Verhaltenstherapeutische Verfahren: Kognitive Verfahren, operante Verfahren, graduierte Exposition
- Abbau dysfunktionaler Kognitionen (bspw. Katastrophisierung)
- Förderung von Coping-Strategien
- Reduktion von Vermeidungsverhalten
- Identifikation eigener Leistungsgrenzen
- Schrittweise Steigerung von Aktivitäten
- Psychodynamische Verfahren: Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, analytische Psychotherapie
- Achtsamkeitsbasierte Verfahren: MBSR, Akzeptanz- und Commitment-Therapie
- Stressbewältigung
- Förderung einer nicht-wertenden Haltung
- Realistische Wahrnehmung und Akzeptanz des Schmerzerlebens
- Förderung positiver Alltagsaktivitäten
Komplikationen
- Nicht-bestimmungsgemäßer Gebrauch von Schmerzmitteln [1]
- Beispiele
- Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch
- Abhängigkeit von Opioiden / Gabapentinoiden
- Hinweise
- Häufige Rezeptanforderungen
- Beharren auf spezifischer Substanz
- Siehe auch: Störungen durch Substanzgebrauch
- Beispiele
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.