Abstract
Dissoziative Störungen sind durch einen partiellen oder völligen Verlust der Erinnerung an die Vergangenheit, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen charakterisiert. Sie können mit posttraumatischen Belastungsstörungen oder emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen assoziiert sein und als Versuch der Psyche betrachtet werden, Situationen großer Anspannung, Angst oder Überlastung zu entkommen (Konversionsreaktion). Nicht selten treten sie auch nach somatischen Beschwerden auf (z.B. dissoziative Lähmung nach Bandscheibenvorfall).
Zu einer Chronifizierung mit persistierenden Lähmungen und Gefühlsstörungen kann es kommen, wenn scheinbar unlösbare Probleme (z.B. bei ungünstigen Abhängigkeitsverhältnissen) vorliegen. Die Störungen können sich beispielsweise in Form von Sinnesausfällen, geistiger Abwesenheit, Lähmungen, Sensibilitätsausfällen oder Krampfanfällen präsentieren, ohne dass Hinweise für eine bekannte somatische oder neurologische Krankheit vorliegen. Ausschließlich Störungen der körperlichen Funktionen, die normalerweise unter willentlicher Kontrolle stehen, sowie der Verlust von sinnlicher Wahrnehmung werden als dissoziative Störungen bezeichnet.
Allgemeines
Die Patienten leiden an körperlichen Symptomen wie z.B. Lähmungen, Sinnesausfällen, Sensibilitätsstörungen und Heiserkeit ohne organisches Korrelat. Nur Störungen der körperlichen Funktionen und Verlust der sinnlichen Wahrnehmung werden zu den dissoziativen Störungen gezählt. Schmerz sowie komplexe körperliche Empfindungen (Übelkeit, Schwindel, Unwohlsein), die durch das vegetative Nervensystem vermittelt werden, werden eher den somatoformen Störungen zugeordnet.
- Definition nach ICD-10: Teilweiser oder vollständiger Verlust der normalen Integration der Erinnerung an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen, sowie der Kontrolle von Körperbewegungen.
- Assoziation mit emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen und posttraumatischen Belastungsstörungen
Spezielle Formen
- Dissoziative Bewegungsstörungen (F44.4): Häufigste Form einer dissoziativen Störung
- Vollständiger oder teilweiser Verlust der willkürlichen Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder, wobei auch die phonetischen Muskeln betroffen sein können
- Von somatischen Lähmungen, Ataxien, Aphonien, Dysarthrien, Dyskinesie, etc. klinisch kaum zu unterscheiden
- Dissoziative Fugue (F44.1): Psychogenes Fliehen (von franz. fugue = "das Fliehen")
- Patienten verschwinden plötzlich und können dabei eine andere Identität annehmen
- Erinnerungsverlust nach der Fugue
- Dissoziative Amnesie (F44.0)
- Auftreten insbesondere nach Kampfhandlungen und anderen Traumata
- Erinnerungsverlust bzgl. traumatischer oder belastender Informationen und Ereignisse
- Dissoziativer Stupor (F44.2): Beträchtliche Verringerung oder Fehlen von willkürlichen Bewegungen und normalen Reaktionen auf äußere Reize
- Dissoziative Krampfanfälle (psychogene Anfälle, nicht-epileptische Anfälle (F44.5)) : Situativ ausgelöste Krampfanfälle, die einem epileptischen Anfall stark ähneln [1] [2] [3]
Eher dissoziativer Krampfanfall | Eher epileptischer Anfall | |
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Beginn |
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Iktal |
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Postiktal |
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Keines der Merkmale ist pathognomonisch, sondern die Zusammenschau der Symptome ist wegweisend! Goldstandard der Diagnostik ist ein iktales Video-EEG!
- Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6): Partieller oder vollständiger Verlust der Haut- oder Sinnesempfindungen
- Ganser-Syndrom (F44.80): Psychogenes Vorbeireden/-handeln mit grotesken Fehlhandlungen oder -antworten, was den Eindruck vermittelt, der Patient sei „verrückt“
- Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeit, F44.81)
- Veränderung von Wahrnehmung und Erleben der Identität
- Patienten besitzen unterschiedliche Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten nehmen können
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
F44.-: Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]
- Inklusive: Hysterie, Hysterische Psychose,Konversionshysterie, Konversionsreaktion
- Exklusive: Simulation [bewusste Simulation] (Z76.8)
- F44.0: Dissoziative Amnesie
- Exklusive
- Alkohol- oder sonstige substanzbedingte amnestische Störung (F10-F19, vierte Stelle .6)
- Amnesie: anterograd (R41.1), retrograd (R41.2), o.n.A. (R41.3)
- Nicht alkoholbedingtes organisches amnestisches Syndrom (F04)
- Postiktale Amnesie bei Epilepsie (G40.‑)
- Exklusive
- F44.1: Dissoziative Fugue
- Exklusive: Postiktale Fugue bei Epilepsie(G40.‑)
- F44.2: Dissoziativer Stupor
- F44.3: Trance- und Besessenheitszustände
- Exklusive: Zustandsbilder bei:
- Intoxikation mit psychotropen Substanzen (F10-F19, vierte Stelle .0)
- organischem Psychosyndrom nach Schädelhirntrauma (F07.2)
- organischer Persönlichkeitsstörung (F07.0)
- Schizophrenie (F20.‑)
- vorübergehenden akuten psychotischen Störungen (F23.‑)
- Exklusive: Zustandsbilder bei:
- F44.4: Dissoziative Bewegungsstörungen
- F44.5: Dissoziative Krampfanfälle
- F44.6: Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen
- Psychogene Schwerhörigkeit oder Taubheit
- F44.7: Dissoziative Störungen [Konversionsstörungen], gemischt
- F44.8-: Sonstige dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]
- F44.80: Ganser-Syndrom
- F44.81: Multiple Persönlichkeit(sstörung)
- F44.82: Transitorische dissoziative Störungen [Konversionsstörungen] in Kindheit und Jugend
- F44.88: Sonstige dissoziative Störungen [Konversionsstörungen]
- Psychogen: Dämmerzustand, Verwirrtheit
- F44.9: Dissoziative Störung [Konversionsstörung], nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.