Abstract
Die Wernicke-Enzephalopathie ist ein neurologischer Notfall, bei dem es aufgrund eines Vitamin-B1-Mangels (Thiamin-Mangel) zu einer Beeinträchtigung des zerebralen Energiestoffwechsels mit neurologischen Funktionsstörungen kommt. Zu den Symptomen gehören u.a. die Störung der Okulomotorik, Ataxie, Desorientiertheit und Vigilanzminderung. Ursächlich ist zumeist eine Mangelernährung bei Alkoholabhängigkeit. Die Diagnose wird klinisch gestellt. Die MRT-Darstellung von symmetrischen Läsionen in den Corpora mamillaria, im Thalamus und im Mittelhirn stützt die Diagnose. Wird unverzüglich eine intravenöse Therapie mit hochdosiertem Thiamin eingeleitet, können sich die Symptome teilweise oder vollständig zurückbilden. Das Krankheitsbild wird häufig erst verzögert oder gar nicht diagnostiziert. Daraus resultiert eine hohe Letalität und der häufige Übergang in ein Korsakow-Syndrom. Bei letzterem handelt es sich um ein Defektsyndrom bei chronischem Vitamin-B1-Mangel. Das klinische Bild wird von einer ausgeprägten antero- und retrograden Amnesie sowie von Konfabulationen geprägt.
Epidemiologie
- Prävalenz (in Autopsien): 0,3–0,8% (Deutschland), klinisch seltener diagnostiziert
- Geschlecht: ♂ > ♀ (1,7:1)
- Alter: In jedem Lebensalter möglich
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Vitamin-B1-Mangel (Thiamin-Mangel): Häufig durch Fehlernährung bei Alkoholabhängigkeit
- Andere Ursachen eines Vitamin-B1-Mangels
- Malignome
- Z.n. Operationen des Verdauungstraktes, darunter Adipositaschirurgie
- Hyperemesis gravidarum
- Fasten
- Erkrankungen des Verdauungstraktes
- AIDS
- Parenterale Langzeiternährung
- Chemotherapeutika
Pathophysiologie
Thiamin ist in der aktiven Form Thiaminpyrophosphat ein Coenzym des Kohlenhydratstoffwechsels. Infolge einer Mangelernährung kann die Zufuhr von Thiamin unzureichend sein. Dies ist gehäuft bei Alkoholabhängigen der Fall. Auch die Resorption aus dem Duodenum ist bei Alkoholmissbrauch beeinträchtigt. Die Aktivierung durch die Thiamin-Pyrophosphokinase kann ebenso wie die Speicherung von Thiamin durch Ethanol bzw. begleitende Lebererkrankungen beeinträchtigt sein.
Der beeinträchtigte Kohlenhydrat-Abbau führt zu einem gestörten zerebralen Energiestoffwechsel. Aus diesem resultieren eine beeinträchtigte mitochondriale Funktion, erhöhter oxidativer Stress, entzündliche Veränderungen und neuronale Funktionsstörungen. Über eine Mitbeteiligung von Astrozyten kommt es zur Laktatazidose und Downregulation von Glutamattransportern. Diese Vorgänge führen zu einer gesteigerten Exzitotoxizität und zu einer Störung der Blut-Hirn-Schranke. In der Summe kommt es durch die zahlreichen Funktionsstörungen zur Neurodegeneration.
Symptome/Klinik
Die Wernicke-Enzephalopathie tritt akut oder subakut auf und geht mit folgenden möglichen Symptomen einher:
- Desorientiertheit und kognitive Defizite, Beeinträchtigung der Vigilanz (etwa 80%)
- Okulomotorikstörung (etwa 30%)
- Blickrichtungs- oder Spontannystagmus
- Augenmuskelparesen (insb. Abduzensparese )
- Internukleäre Ophthalmoplegie
- Pupillenstörungen
- Ataxie (etwa 20%)
- Rumpf-, Gang- und Standataxie
- Ggf. dysmetrische Zeigeversuche
- Autonome Dysregulation
- Hypothermie
- Hypotension
- Weitere mögliche Symptome (seltener)
- Halluzinationen
- Sehstörungen
- Hörverlust
- Begleitend: Symptome weiterer Alkoholfolgekrankheiten (u.a. Polyneuropathie) möglich
Die häufig beschriebene Symptomtrias aus gestörter Okulomotorik, Bewusstseinsstörung und Ataxie tritt nur bei etwa 15% der Patienten auf – ihre Abwesenheit schließt die Diagnose Wernicke-Enzephalopathie also nicht aus!
Diagnostik
Klinische Diagnosestellung
- Diagnose nach Klinik und Anamnese:
- Mind. 2 von 4 Kriterien zutreffend (sowohl bei Patienten mit als auch ohne Alkoholabhängigkeit) [1]
- Mangelernährung
- Störung der Okulomotorik
- Zerebelläre Dysfunktion
- Milde kognitive Defizite oder Bewusstseinsstörung
Zusatzdiagnostik
- Die Verdachtsdiagnose einer Wernicke-Enzephalopathie kann durch Zusatzdiagnostik gestützt werden, unauffällige Zusatzdiagnostik schließt die Diagnose jedoch nicht aus
- Zur Differentialdiagnose: Bildgebung des Kopfes (vorzugsweise MRT), ggf. auch Liquor- und EEG-Diagnostik sinnvoll
- Wernicke-Enzephalopathie ohne bekannte Ursachen eines Vitamin-B1-Mangels: interdisziplinäre Ursachenforschung (etwa Tumorsuche, HIV-Test)
Bildgebung des Kopfes
- MRT [1]
- Typischerweise symmetrische Läsionen in Corpora mamillaria, Thalamus, Mittelhirn und periaquäduktalem Grau (T2- und FLAIR-Wichtung: hyperintens)
- KM-Aufnahme in Corpora mamillaria und mediale Thalami (T1-Wichtung mit KM)
- Im Verlauf auch Atrophie der Corpora mamillaria möglich
- CT
- Geringer diagnostischer Stellenwert
- Häufig keine spezifischen Befunde
- Ggf. hypodense Läsionen in o.g. Strukturen
Eine unauffällige Bildgebung schließt eine Wernicke-Enzephalopathie nicht aus!
Labordiagnostik [1]
- Nachweis des Vitamin-B1-Mangels:
- Thiamin im EDTA-Blut: vermindert
- Transketolase-Aktivität in Erythrozyten: vermindert
- Pyruvat/Lactat ggf. erhöht (unspezifisch)
- Leberparameter (Transaminasen, γ-GT u.a.) als Ausdruck eines begleitenden Leberparenchymschadens häufig erhöht (siehe Leberzirrhose)
- Liquordiagnostik
- Indiziert bei differentialdiagnostischem Verdacht auf Meningitis/Enzephalitis
- Bei Wernicke-Enzephalopathie keine spezifischen Veränderungen
EEG
- Bei unklaren Bewusstseinsstörungen differentialdiagnostisch (Nicht-konvulsiver Status epilepticus?) sinnvoll
- Keine spezifischen Veränderungen bei Wernicke-Enzephalopathie, ggf. Verlangsamung mit bilateralen generalisierten δ-Wellen
Pathologie
- Petechiale Läsionen/Einblutungen im Mesencephalon und Atrophie der Corpora mamillaria
- Mikroskopische Spongiose, Kapillarproliferation und Siderose (rezidivierende Blutungen)
Differentialdiagnosen
Bei der Verdachtsdiagnose einer Wernicke-Enzephalopathie sollte zügig eine Substitutionstherapie begonnen werden. Nichtsdestotrotz müssen andere Erkrankungen, die zu Symptomen wie (sub)akuten Okulomotorikstörungen, Desorientiertheit und/oder Vigilanzminderung führen, differentialdiagnostisch bedacht werden:
- Intrazerebrale Blutung und ischämischer Schlaganfall (insb. Hirnstamm, Diencephalon)
- Virale Enzephalitiden
- Osmotische Myelinolyse
- Miller-Fisher-Syndrom
- Bickerstaff-Enzephalitis
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differentialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Akut
-
Thiamin hochdosiert i.v. [1]
- Unverzügliche Gabe bei niedrigschwelligem klinischen Verdacht
- Empfehlungen zur notwendigen Dosis und Dauer der Therapie unterscheiden sich aufgrund fehlender Studien deutlich:
- EFNS-Leitlinie (2010) [1]
- Brandt et al. (2012) [2]
- DGN-Leitlinie (2014), bei Alkoholdelir mit Hinweis auf Wernicke-Enzephalopathie [3]
- DGN-Leitlinie (2014), bei Alkoholdelir ohne Hinweis auf Wernicke-Enzephalopathie [3]
- Schwab et al. (2015) [4]
- Sehr selten: Anaphylaktische Reaktionen bei parenteraler Thiamingabe
-
Thiamin hochdosiert i.v. [1]
- Im Verlauf
- Umstellung auf orale Substitution, i.d.R. Substitution von Vitamin-B-Komplex (u.a. Vitamin B1, Vitamin B6, Vitamin B12)
- Normalisierung/Verbesserung der Ernährungssituation
Aufgrund der schlechten Prognose einer nicht therapierten Wernicke-Enzephalopathie sollte bereits beim Verdacht eine Therapie mit Thiamin i.v. erfolgen.
Prognose
- Nach Thiaminsubstitution
- Okulomotorikstörungen innerhalb von Stunden bis Tagen gebessert
- Ataktische Störung innerhalb von Wochen gebessert, häufig Residuen
- Verwirrtheit innerhalb von Tagen bis Monaten rückläufig, teilweise keine/geringe Besserung, häufig Demaskierung mnestischer Defizite
- Unbehandelt
- Letalität bis zu 20%
- Bei Überlebenden sehr häufig Entwicklung eines Korsakow-Syndroms (s.u.)
Korsakow-Syndrom
- Definition: Defektsyndrom bei chronischem Vitamin-B1-Mangel, meist nach Wernicke-Enzephalopathie (dann als Wernicke-Korsakow-Syndrom bezeichnet)
- Symptome
- Ausgeprägte Orientierungsstörungen
-
Amnestisches Syndrom
- Häufig schwere antero- und retrograde Amnesie (z.B. Merkfähigkeitsstörung)
- Neigung zu Konfabulationen
- Zeitgitterstörung
- Störung der Frontalhirnfunktion mit Antriebsminderung und Affektverflachung
- Diagnose
- Klinisch
- Neuropsychologische Testung
- MRT: Atrophie der Corpora mamillaria
- Therapie: Keine spezifische Therapie für manifestes Korsakow-Syndrom
- Behandlung einer vorausgehenden Wernicke-Enzephalopathie mit Thiamin i.v.
- Orale Vitaminsubstitution
- Spezialisierte Rehabilitation kann sinnvoll sein
- Prognose
- Bei suffizienter Therapie der Wernicke-Enzephalopathie: (un‑)vollständige Besserung bei der Hälfte der Betroffenen
- Bei fehlender/unzureichender Behandlung: dauerhafte Defizite
- Häufig Unterbringung in Wohneinrichtungen nötig
Prävention
- Ausgewogene Ernährung
- Orale Substitution von Vitamin B1 bei Risikogruppen (Alkoholabhängigkeit, Z.n. Adipositas-Chirurgie)
- Benfotiamin
- Substitution über gezielte Anreicherung in Lebensmitteln
- Gabe von Thiamin i.v. bei erhöhtem Risiko (Alkoholabhängigkeit oder Mangelernährung (insb. bei älteren Personen)) vor Infusion konzentrierter Glucoselösungen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- E51.-: Thiaminmangel [Vitamin-B1-Mangel]
- Exkl.: Folgen des Thiaminmangels (E64.8)
- E51.1: Beriberi
- Trockene Form
- Feuchte Form† (I98.8*)
- E51.2: Wernicke-Enzephalopathie
- E51.8: Sonstige Manifestationen des Thiaminmangels
- E51.9: Thiaminmangel, nicht näher bezeichnet
- F10.6: Psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch Alkohol: Amnestisches Syndrom
- Alkohol- oder substanzbedingte amnestische Störung
- Durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingte Korsakow-Psychose
- Nicht näher bezeichnetes Korsakow-Syndrom
- Soll ein assoziiertes Wernicke-Syndrom angegeben werden, sind zusätzliche Schlüsselnummern (E51.2†, G32.8*) zu benutzen.
- Exklusive: Nichtalkoholbedingte(s) Korsakow-Psychose oder Korsakow-Syndrom (F04)
- F04: Organisches amnestisches Syndrom, nicht durch Alkohol oder andere psychotrope Substanzen bedingt
- Inklusive: Korsakow-Psychose oder -Syndrom, nicht alkoholbedingt
- Exklusive:
- Amnesie: anterograd (R41.1), dissoziativ (F44.0), retrograd (R41.2), o.n.A. (R41.3)
- Korsakow-Syndrom: alkoholbedingt oder nicht näher bezeichnet (F10.6), durch andere psychotrope Substanzen bedingt (F11–F19, vierte Stelle .6)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.