Zusammenfassung
Zehendeformitäten sind pathologische Abweichungen einzelner oder mehrerer Zehen von der anatomischen Norm. Die häufigste Fehlstellung, der Hallux valgus, entsteht meist durch Tragen von zu engem und hochhackigem Schuhwerk oder ist die Folgeerscheinung einer Spreizfußfehlstellung. Die dabei entstehende schmerzhafte Abweichung der Großzehe nach lateral kann zu einer sog. Krallen- oder Hammerstellung der benachbarten Zehen führen und prädisponiert für eine Arthrose im Grundgelenk, so dass bei starken Fehlstellungen eine operative Korrektur sinnvoll ist.
Diagnostik
- Konventionelles Röntgen der Großzehe
- Bei der Befundung des Röntgenbildes im Bereich der Großzehe ist zu beachten, dass die lateralen und medialen Sesambeine (Os sesamoideum) als Abstandshalter für Muskelsehnen dienen. Im Röntgenbild können diese aus der geraden Knochenmorphologie herausspringenden Knochen leicht mit pathologischen Strukturen verwechselt werden.
Das Os sesamoideum laterale und mediale sollten nicht mit pathologischen Strukturen verwechselt werden!
Hallux valgus
Allgemeines
- Definition: Deformität der Großzehe, sog. Ballenzehe
- Abweichung der Großzehe ab dem Grundgelenk nach lateral (außen)
- Abweichung des Metatarsale I nach medial (innen)
- Ergebnis: Fehlstellung des 1. Strahls mit
- Epidemiologie
Ätiologie (multifaktoriell)
- Tragen zu engen Schuhwerkes oder zu hoher Absätze
- Fußdeformitäten, bspw. Spreizfuß oder Knickfuß
- Rheumatologische Erkrankungen
- Familiäre Häufung (kein eindeutiger Erbgang)
- Posttraumatisch
- Postarthritisch
- Muskuläre Dysfunktion
- Konstitutionelle Bänderschwäche
- Neuropathische Grunderkrankung
Pathogenese
- Entwicklung der Fehlstellung: Abweichung des Metatarsale I in Varusfehlstellung → Plantarisierung der Sehne des M. abductor hallucis und Abschwächung der antagonistischen Wirkung zu den beiden Adduktoren → Weitere Progredienz der Fehlstellung → Zunehmende Innenrotation der Zehe
- Entwicklung von Komplikationen
- Ggf. Entstehung einer entzündlichen Bursa/Bursitis im Bereich der Pseudoexostose mit teilweise zentralem Klavus → Progredienz des Druckschmerzes im Schuh
- Häufig Großzehengrundgelenks-Arthrose aufgrund der Fehlbelastung
- Folgepathologien: Metatarsalgie, Kleinzehenfehlstellung
- Prophylaxe: Insg. schlecht belegte, aber in der Praxis bewährte Empfehlungen sind
- Weite Schuhe mit flachen Absätzen
- Zehenübungen mit aktivem Abspreizen der Großzehe
Klinik
- Schmerzen und Entzündung der medialen Vorwölbung
- Schmerzen im Großzehengrundgelenk
- Sekundäre Arthrose im Grundgelenk, Bursitis bis hin zu Hautulzerationen
- Abweichen der übrigen Strahlen als Krallen- und Hammerzehen
Bei der Anamnese sollte insb. auf neurogene Erkrankungen oder Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises als mögliche Ursache geachtet werden!
Diagnostik
Klinische Untersuchung
- Inspektion: Hautveränderungen, Beschwielung, Hyperkeratosen, Hautdefekte, Ulzera
- Untersuchung im Stehen
- Bewegungsausmaß (passiv und aktiv)
- Großzehengrundgelenk nach Neutral-Null-Methode
- Valgusdeviation und Pronation der Großzehe (reponierbar oder fixiert)
- Oberes und unteres Sprunggelenk
- Beurteilung
- Benachbarter Zehen
- Benachbarter Gelenke
- Fußpulse
- Neurologischer Status
Bildgebung [2]
- Methode: Konventionelle Röntgenaufnahme
- Durchführung
- Zwei Ebenen: Dorsoplantare und laterale Aufnahme
- Unter Belastung (im Stehen)
- Auswertung: Berechnung der Winkel und Beurteilung von degenerativen Veränderungen (Arthrose)
- Dorsoplantare Aufnahme
- Intermetatarsalwinkel (IM-Winkel)
- Hallux-valgus-Winkel (HV-Winkel)
- Distaler Gelenkflächenwinkel (DMAA)
- Position der Sesambeine relativ zum MT1-Kopf
- Laterale Aufnahme
- Stellung des MT1: Elevation oder Plantarisierung
- Dorsale Exostosenbildung
- Fehlstellung der Kleinzehe
- Dorsoplantare Aufnahme
- Klassifikation: Einteilung in Schweregrade zur Therapieentscheidung
Einteilung nach Schweregrad (konventionell-radiologische Klassifikation) | ||
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Winkel | Schweregrad | |
Leicht/moderat | Schwer | |
IM-Winkel | <18° | >18° |
HV-Winkel | <40° | >40° |
Therapie
- Therapieziele: Schmerzreduktion, Korrektur der Fehlstellung und Funktionsgewinn!
- Konservative Therapie: Symptomatische Behandlung
- Aufklärung über eine optimale Schuhversorgung mit weichem Oberleder und großer Zehenbox
- Ggf. Schmerztherapie mit NSAR (z.B. Ibuprofen , Naproxen )
- Physiotherapie zur Balancierung der auf den Hallux wirkenden Muskelzüge
- Orthopädietechnische Versorgung: Zehenspreizer, Zehenpolster, Einlagen mit retrokapitaler Abstützung bei Metatarsalgien, Ballenrolle bei schmerzhafter Arthrose des Großzehengrundgelenks, Orthesen zur Redression
- Operative Therapie: Verschiedene Verfahren wie Sehnenverlagerung, Umstellungsoperationen und die Arthrodese möglich
- Siehe auch: Operative Therapie bei Hallux valgus
Wichtigste Kontraindikationen für eine operative Therapie sind Durchblutungsstörungen (z.B. pAVK), Infektionen und Wundheilungsstörungen!
Die konservative Therapie behandelt Symptome, nicht die zugrunde liegende Ursachen!
Operative Therapie bei Hallux valgus
Indikation [1]
- Frustrane konservative Therapie
- Individuelle Faktoren
- Schmerzen, hoher Leidensdruck
- Einschränkung der Lebensqualität
- Schuhkonflikt
- Mechanische Komplikationen
- Druckstellen, Ulzera über der Pseudoexostose
- Funktionseinschränkung
- Progressive Fehlstellung, insb. Kleinzehenfehlstellung
Die Indikation zur operativen Therapie ist ein symptomatischer Hallux valgus nach erfolgloser konservativer Therapie!
Therapiealgorithmus nach Schweregrad
- Leicht/moderat
- Distale Osteotomie
- Diaphysäre Osteotomie
- Proximale Osteotomie
- Minimalinvasive Verfahren
- Arthrodese TMT1-Gelenk
- Arthrodese Großzehengrundgelenk
- Schwer: Arthrodese TMT1-Gelenk
- Minimalinvasive Verfahren
- Arthrodese Großzehengrundgelenk
- Proximale Osteotomie
- Diaphysäre Osteotomie
Die Wahl des operativen Verfahrens sollte anhand des Schweregrades gewählt werden. Gemeinsames Ziel jeder OP-Technik ist die zentrierte Position der Sesambeine!
Operationsprinzipien bei Hallux valgus
- Gelenkerhaltende Verfahren
- Offenes Vorgehen
- Distale MT1-Osteotomie, bspw. Chevron-Osteotomie
- Diaphysäre MT1-Osteotomie, bspw. Scarf-Osteotomie
- Proximale MT1-Osteotomie, bspw. proximale Chevron-Osteotomie
- Osteotomie der Grundphalanx, bspw. Akin-Osteotomie
- Minimalinvasives Vorgehen, bspw. perkutane Chevron- oder Akin-Osteotomie
- Kombinationen der einzelnen Osteotomien in komplexen Korrektureingriffen
- Weichgewebeeingriffe, bspw. Mc-Bride-OP
- Offenes Vorgehen
- Gelenkresezierende Verfahren
- Versteifende Verfahren
- TMT1-Arthrodese, bspw. modifizierende Lapidus-Arthrodese
- MTP1-Arthrodese
- Resektionsinterpositionsplastik (Resektion nach Keller-Brandes)
- Versteifende Verfahren
Nachbehandlung bei Hallux valgus
- Allgemeines
- Abschwellende Maßnahmen: Moderate Hochlagerung und Kühlung
-
Thromboseprophylaxe: Medikamentöse Thromboseprophylaxe nach individueller und risikoadaptierter Indikationsstellung
- OP-Verfahren: Niedriges Risiko für venöse Thromboembolien
- Individuelle Risikofaktoren: Ausschlaggebend für Indikationsstellung
- Siehe auch: Risikofaktoren für venöse Thromboembolien - Klinische Anwendung
-
Analgesie
- Meist mit NSAR wie Ibuprofen , bei Kontraindikationen Metamizol
- Postoperativ akut Paracetamol als Kurzinfusion
- Siehe auch: WHO-Stufenschema
- Röntgenkontrolle: Meist 6 Wochen postoperativ in 2 Ebenen
- Ggf. Implantatentfernung: Nach Konsolidierung bei Beschwerden
- Mobilisierung: Abhängig vom angewandten OP-Verfahren
- Ruhigstellung, bspw. im Verbandsschuh oder Walker
- Belastung: Teil- oder Vollbelastung
- Physiotherapie: Passive und/oder aktive Beübung des Großzehengrundgelenks, ggf. Lymphdrainage
Weitere Zehenfehlstellungen
Hallux varus
- Definition: Abweichung der Großzehe ab dem Grundgelenk nach medial (nach medial zeigende Konkavität)
- Ätiologie
- Meist als Überkorrektur nach operativer Versorgung des Hallux valgus
- Selten auch kongenital
- Symptome: Häufig asymptomatisch, ggf. Schmerzen im Großzehengrundgelenk aufgrund einer begleitenden Arthritis
- Therapie
- Konservativ
- Operativ durch Osteotomie, Weichteilchirurgie oder Arthrodese
Hammerzehe
- Synonyme: Digitus malleus, Hallux malleus
- Definition: Fixierte Beugestellung im proximalen Interphalangealgelenk (PIP) und ggf. distalen Interphalangealgelenk (DIP) relativ zum Grundgelenk, d.h. die Zehenspitze berührt beim Stehen meist den Boden
- Variante: Mallet-Zeh/Endgliedhammerzehe
- Epidemiologie: Häufige Zehendeformität, oft mit Hallux valgus assoziiert
- Symptome: schmerzhafte Druckstellen im Schuh (dorsales PIP bzw. DIP)
- Therapie
- Konservativ durch z.B. Zügelverband , angepassten Schuh mit Entlastung der schmerzenden Regionen und weicher, großer Zehenbox, Zehengymnastik oder Zehenkorrekturorthese
- Operativ (z.B. Beugesehnentransfer, Osteotomie nach Weil oder Operation nach Hohmann )
Krallenzehe
- Definition: Hammerzehe mit zusätzlicher Streckkontraktur im Grundgelenk oder (Sub‑)Luxation der Grundphalanx nach dorsal, d.h. die Zehenspitze berührt im Stehen meist nicht den Boden
- Symptome: Schmerzen im metatarsophalangealen Gelenk und Metatarsalgien
- Therapie: Siehe Therapieoptionen zur Hammerzehe
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M20.-: Erworbene Deformitäten der Finger und Zehen
- Exklusive
- M20.1: Hallux valgus (erworben)
- Fußballenentzündung
- M20.2: Hallux rigidus
- M20.3: Sonstige Deformität der Großzehe (erworben)
- M20.4: Sonstige Hammerzehe(n) (erworben)
- M20.5: Sonstige Deformitäten der Zehe(n) (erworben)
- M20.6: Erworbene Deformität der Zehe(n), nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.