Zusammenfassung
Die neuronalen Ceroid-Lipofuszinosen (NCL) sind eine heterogene Gruppe seltener neurodegenerativer Erkrankungen, die durch Mutationen in verschiedenen Genen verursacht werden. Sie gehören zu den lysosomalen Speicherkrankheiten und betreffen v.a. das zentrale Nervensystem. Die Erkrankungen manifestieren sich meist im Kindesalter mit progredienter neurodegenerativer Symptomatik. NCL wird auch als Kinderdemenz bezeichnet, da Demenz neben Epilepsie, dem Verlust der Sehfähigkeit und der motorischen Kontrolle ein Leitsymptom der Erkrankung darstellt. Sie sind bisher nicht heilbar; Betroffene versterben meist vor dem 30. Lebensjahr.
Die Inhalte des Kapitels beschränken sich auf die in Deutschland häufigsten kindlichen Formen: Die infantile NCL (CLN1), die spätinfantile NCL (CLN2) und die juvenile NCL (CLN3). Für eine Liste aller bisher beschriebenen Formen inkl. Angabe des Genotyps und Phänotyps, des Erkrankungsbeginns und klassischer erster Symptome siehe Tipps & Links [1].
Dieses Kapitel ist im Rahmen einer Kooperation zwischen AMBOSS und der NCL-Stiftung entstanden (Autorin: Dr. Birgit Faßbender).
Epidemiologie
- Prävalenz: In Deutschland ca. 700 Kinder, weltweit ca. 70.000 (geschätzt ) [4]
- Inzidenz: In Deutschland ca. 26 neu erkrankte Kinder / Jahr (geschätzt ) [5]
NCL sind die häufigsten erblichen neurodegenerativen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Genmutationen (monogen)
- Aktuell 13 NCL-Gene bekannt
- Erbgang i.d.R autosomal-rezessiv
NCL sind monogene Erkrankungen, d.h. sie werden durch Mutationen in einem einzelnen Gen verursacht!
Pathophysiologie
- NCL-Gene: Kodieren für lysosomale Enzyme (löslich oder membrangebunden), die an intrazellulären Abbau- und Transportprozessen beteiligt sind
- CLN1: Palmitoyl-Protein-Thioesterase 1 (PPT1)
- CLN2: Tripeptidyl-Peptidase 1 (TPP1)
- CLN3: Lysosomales Transmembranprotein
- Genmutationen : Führen zu Funktionsverlust des entsprechenden Proteins → Akkumulation von Proteinen und Lipiden in Lysosomen → Progressiver neuronaler Zelltod (später weitere Organschädigungen)
Klassifikation
- Internationale Nomenklatur
- Häufigste Formen in Deutschland
Symptomatik
Klinisches Bild der häufigsten NCL-Formen | ||||
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Form | Erkrankungsbeginn | Typische Symptomreihenfolge | Besonderheiten | Prognose |
Infantile NCL |
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Spätinfantile NCL (CLN2) |
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Juvenile NCL (CLN3) |
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Treten bei einem zuvor altersgerecht entwickelten Kind mind. 2 der typischen Symptome auf, sollte an eine NCL gedacht werden!
Diagnostik
- Anamnese
- Familienanamnese
- Bisherige Entwicklung
- Alter bei Symptombeginn
- Klinisches Bild (siehe auch: Symptome bei NCL)
- Körperliche Untersuchung
- Neurologische Untersuchung
- Augenuntersuchung (ggf. inkl. Elektroretinogramm und optischer Kohärenztomografie)
- Apparative Diagnostik
- Labordiagnostik
- Blutbild (inkl. Blutausstrich)
- Enzymtests
- Molekulargenetik (Paneldiagnostik, ggf. PCR auf häufigste Mutationen)
Typische Befunde der häufigsten NCL-Formen | ||||||
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Form | Augenuntersuchung | EEG | SEP | VEP | cMRT | Labordiagnostik |
Infantile NCL (CLN1) |
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Spätinfantile NCL (CLN2) |
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Juvenile NCL (CLN3) |
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Differenzialdiagnosen
- Epilepsie
- Sprachentwicklungsverzögerung
- Morbus Stargardt
- Zapfendystrophie
- Retinopathia pigmentosa
- Rett-Syndrom [11]
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Maßnahmen
- Physiotherapie, Ergotherapie
- Pädagogische Schulbegleitung
- Psychologische Betreuung
- Spezialisierte ambulante pädiatrische Palliativversorgung (SAPPV)
- Kinderhospiz-Begleitung
Kinder mit NCL sollten multidisziplinär betreut werden!
Medikamentöse Maßnahmen
Enzymersatztherapie
- Indikation: Spätinfantile NCL (CLN2)
- Wirkstoff: Cerliponase alfa
- Applikation: Intrazerebroventrikulär
Die intrazerebroventrikuläre Applikation von Cerliponase alfa kann den Krankheitsverlauf einer spätinfantilen NCL (CLN2) verzögern!
Weitere Optionen
- Abhängig vom klinischen Bild
- Epilepsie: Valproat , Phenobarbital, Cannabidiol (CBD), Lamotrigin, Levetiracetam
- Myoklonien: Zonisamid, Phenobarbital, Clobazam
- Angst/Unruhe: Pregabalin, Chloralhydrat
- Spastik: Baclofen (1. Wahl) , Tizanidin (2. Wahl)
- Dystonie: Phenobarbital, Cannabidiol (CBD), Pregabalin, ggf. lokale Botulinumtoxin-Injektionen (in schweren Fällen)
Phenytoin, Carbamazepin und Vigabatrin sind bei NCL kontraindiziert!
Neuroleptika sollten bei NCL aufgrund des hohen Risikos für extrapyramidal-motorische Störungen (EPMS) nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung verabreicht werden!
Prognose
- Lebenserwartung
- Infantile NCL (CLN1): Kindesalter (<10 Jahre)
- Spätinfantile NCL (CLN2): Spätes Kindesalter
- Juvenile NCL (CLN3): Junges Erwachsenenalter (20–30 Jahre)
NCL sind bisher nicht heilbar und führen zu einem vorzeitigen Tod!