Abstract
Ein reifes Neugeborenes wird zwischen vollendeter 37. und Ende der 42. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren. Bei drohender Frühgeburt mit Wehen kann zwischen der 24. und 34. SSW medikamentös eine Wehenhemmung (Tokolyse) durchgeführt werden, um die Schwangerschaft zu verlängern. Ist die Schwangerschaftsdauer unklar, kann der Kinderarzt nach der Geburt das Reifealter des Neugeborenen durch die vorhandenen Reifezeichen abschätzen. Der klinische Zustand des Neugeborenen wird jeweils 1, 5 und 10 Minuten nach der Abnabelung standardisiert mit Hilfe des sogenannten APGAR-Scores bestimmt. Der Score berücksichtigt Herzfrequenz, Atmung, Hautfarbe, Muskeltonus und Gesichtsbewegungen des Neugeborenen.
Frühgeburt
- Definition
- Frühgeborenes: Gestationsalter vor der 37. vollendeten Schwangerschaftswoche (≤36+6 SSW)
- Neu- und Frühgeborene werden häufig nach ihrem Geburtsgewicht in Gruppen eingeteilt [1]
- Risikofaktoren
- Fetale Ursachen
- Mütterliche Ursachen
- Alter (<20 Jahre, >40 Jahre)
- Körperlicher Stress
- Nikotinabusus
- Vorangegangene Frühgeburten
- Hypertensive Schwangerschaftserkrankungen (z.B. Präeklampsie, HELLP)
- Organbefunde bzw. Komplikationen bei Frühgeburt
- Atemnotsyndrom (ANS)
- Bronchopulmonale Dysplasie (BPD)
- Persistierender Ductus arteriosus Botalli (PDA)
- Retinopathia praematurorum (ROP)
- Nekrotisierende Enterokolitis (NEC)
- Hirnblutungen: subependymal (Grad I), ventrikulär (Grad II und III) oder parenchymal (Grad IV)
- Periventrikuläre Leukomalazie (PVL)
- Apnoen und Bradykardien
- Tokolyse: Bei drohender Frühgeburt oder weheninduzierter Notsituation unter Geburt
Generell gilt: Je geringer das Geburtsgewicht und je kürzer die Schwangerschaft, umso höher ist das Risiko für die genannten Komplikationen!
Normwerte eines Neugeborenen
- Körpergröße: ca. 50 cm
- Körpergewicht: ca. 3–3,5 kg
- Kopfumfang: ca. 35 cm
- Atemfrequenz: ca. 40/min
- Herzfrequenz: 120–160/min
- Blutdruck (jeweils 50. Perzentile)[2]
- Systolisch: 60 mmHg
- Diastolisch: 35 mmHg
- Direktes Bilirubin: <1 mg/dL
- Gesamt-Bilirubin
- Bei Frühgeborenen
- Aus Nabelschnurblut: <2 mg/dL
- Alter <24 Stunden: 1–6 mg/dL
- Alter 1–2 Tage: 6–8 mg/dL
- Alter 3–5 Tage: 10–12 mg/dL
- Bei Reifgeborenen
- Aus Nabelschnurblut: <2 mg/dL
- Alter <24 Stunden: 2–6 mg/dL
- Alter 1–2 Tage: 6–7 mg/dL
- Alter 3–5 Tage: 4–12 mg/dL
- Bei Frühgeborenen
- Nabelschnur-pH [3]
- Bestimmung: Wird postnatal aus der Nabelschnurarterie abgenommen
- Bewertung
- ≥7,30: Normal
- 7,20–7,29: Leichte Azidose
- 7,1–7,19: Mittelgradige Azidose
- 7,0–7,09: Fortgeschrittene Azidose
- <7,0: Schwere Azidose (ein Kriterium der Asphyxie)
- Maßnahmen: Je nach klinischem Zustand des Neugeborenen und pH-Wert abwägen
- Kinderarzt hinzuziehen
- BGA-Kontrolle beim Kind
- Blutzucker-Kontrolle (perinataler Stress stellt ein Risiko für Hypoglykämien dar)
- Erste Urinausscheidung innerhalb von 24 Stunden nach Geburt
- Mekoniumabgang (erster Stuhl des Neugeborenen) innerhalb von 48 Stunden nach Geburt
Reifezeichen
Es gibt somatische und neuromuskuläre Reifezeichen des Neugeborenen. Zur Bestimmung des Reifegrades und Abschätzung des Gestationsalters nach Geburt stehen verschiedene Scores zur Verfügung. [4]
Reifezeichen
- Somatische Reifezeichen
- Haut: Rosig
- Körperbehaarung: Wenig bis keine Lanugobehaarung
- Ohrknorpel: Voll ausgebildet
- Brustwarzen: Gut erkennbar
- Hoden: Deszendiert
- Labien: Kleine von großen Labien bedeckt
- Fußsohlen: Querfalten überall
- Nägel: Bedecken oder überragen Fingerkuppen
- Neuromuskuläre Reifezeichen
- Körperhaltung (physiologisch ist die Beugehaltung der Extremitäten)
- Neugeborenenreflexe
Scores zur Reifegradbestimmung und Abschätzung des Gestationsalters [5][6][7]
Petrussa-Index
- Definition: Häufig angewandter einfacher Score anhand somatischer Reifezeichen
- Anwendung: Umso genauer, je höher das Reifealter; anwendbar ab der 30. SSW
- 5 Kriterien: Haut, Mamillen, Ohr, Fußsohle, Genitale
- Auswertung: Je 0–2 Punkte pro Kriterium, Ergebnis 0–10 Punkte, die Summe addiert mit 30 ergibt die Gestationswoche
Petrussa-Index | |||
---|---|---|---|
0 | 1 | 2 | |
Haut | durchsichtig (hellrot, durchscheinend, verletzlich, sehr dünn) | dünn (rosig, zunehmend Fältelung, etwas fester) | rosig und fest (deutlich sichtbare Falten, Hautabschilferungen) |
Mamillen | roter Punkt (kaum Drüsengewebe) | Areola <5 mm (Drüsengewebe tastbar, Mamille und -hof erkennbar) | Areola >5 mm (Brustdrüsen über dem Hautniveau, Drüsenkörper und -hof palpabel) |
Ohr | ungeformt (geringes Profil, weich, kaum Knorpelgewebe) | weich (Knorpel in Tragus und Antitragus, zunehmendes Profil) | fest (ausgebildeter Helixknorpel, spontanes Rückstellphänomen) |
Fußsohle | kaum Falten (glatt, Fältelung nur vorderes Drittel) | distale Falten (Fältelung vorderes und mittleres Drittel) | Fältelung der gesamten Fußsohle |
Genitale | Labia majora < minora / Hoden nicht tastbar (inguinal) | Labien gleich groß / Hoden inguinal oder hoch im Skrotum | Labia majora überragen Labia minora / Hoden deszendiert |
Finnström-Score
- Definition: Zuverlässigster und genauester Score zur Berechnung des Gestationsalters
- Anwendung: Zwischen der 28. und 43. SSW
- 7 Kriterien: Hautdurchsichtigkeit, Ohrmuschelknorpel, plantare Hautfältelung, Durchmesser des Brustdrüsengewebe, Brustwarzenbildung, Fingernägel (Daumen), Kopfhaar
- Auswertung: Je 1–4 (teils nur 1–3 oder 1–2) Punkte pro Kriterium, Ergebnis 7–23 Punkte, 7 Punkte entsprechen der 27+2 SSW, 23 Punkte entsprechen 42+1 SSW
Ballard-Score [8]
- Definition: Score zur Berechnung des Gestationsalters anhand somatischer und neuromuskulärer Reifezeichen
- Synonyme bzw. ähnliche Begriffe: Dubowitz/Ballard-Score, neuer Ballard-Score, Dubowitz-Farr-Score
- Anwendung: Alle Neu- und Frühgeborenen 20.–44. SSW, besonders hilfreich <30. SSW
- Kriterien
- 6 somatische Kriterien: gleiche Kriterien wie Petrussa plus Lanugobehaarung, detaillierter eingeteilt in 6 Stufen
- Haut
- Lanugobehaarung
- Auge/Ohr
- Brustdrüse
- Genitale
- Fußsohlenfalten
- 6 neuromuskuläre Kriterien (Position und Flexionsmöglichkeit der Extremitäten; das Frühgeborene zeigt einen geringen Muskeltonus, der mit der Reifung zunimmt)
- Körperhaltung
- Hypothenar-Vorderarm-Winkel
- Zurückschnellen des Armes
- Popliteal-Winkel
- Halstuch-Zeichen
- Ferse-Ohr-Abstand
- 6 somatische Kriterien: gleiche Kriterien wie Petrussa plus Lanugobehaarung, detaillierter eingeteilt in 6 Stufen
- Auswertung:
APGAR-Score
- Der APGAR-Score wurde von der Anästhesistin Virginia Apgar erfunden (1953) und nach ihr benannt (Eponym) – gleichzeitig ist er aber auch ein Akronym! [9]
- Beurteilung des klinischen Zustands des Neugeborenen: Jeweils 1, 5 und 10 Minuten nach der Geburt
- Aussagekraft: Der Apgar-Scores ist ein subjektiver Score, der nicht isoliert betrachtet werden darf, sondern immer in der Zusammenschau mit weiteren Befunden dazu dient, zügig auf eine Asphyxie in der Perinatalperiode reagieren zu können [10]
APGAR | 0 Punkte | 1 Punkt | 2 Punkte |
---|---|---|---|
Appearance (Aussehen, Hautfarbe) | Blass/blau | Stamm rosig, Extremitäten blau | Rosig |
Pulse (Herzaktion) | Kein Puls | <100/min | >100/min |
Grimace (Gesichtsbewegung, Reaktion aufs Absaugen) | Keine | Grimassieren | Schreien |
Activity (Muskeltonus) | Schlaff | Träge Flexionsbewegungen | Spontane gute Eigenbewegung |
Respiration (Atmung) | Keine | Langsame, unregelmäßige Atmung bzw. Schnappatmung | Regelmäßig (40/min) |
Interpretation: normal: 9–10 Punkte; grenzwertig: 5–8 Punkte; vitale Bedrohung des Neugeborenen: <5 Punkte [10] |
APGAR-Score (Rechner)
Altersbezeichnungen
Lebendgeburt | Vorhandensein von Lebenszeichen nach Entbindung |
---|---|
Fehlgeburt | Fötus mit Gewicht unter 500 g ohne Lebenszeichen |
Totgeburt | Fötus mit Mindestgewicht von 500 g ohne Lebenszeichen |
Frühgeborenes | Geburt vor der vollendeten 37. SSW (≤36+6 SSW) |
Reifes Neugeborenes | Geburt zwischen vollendeter 37. und Ende der 42. SSW (37+0 SSW bis 41+6 SSW) |
Übertragenes Neugeborenes | Geburt ab vollendeter 42. SSW (≥42+0 SSW) |
Hypotrophes Neugeborenes | Geburtsgewicht <10. Perzentile |
Eutrophes Neugeborenes | Geburtsgewicht 10.–90. Perzentile |
Hypertrophes Neugeborenes | Geburtsgewicht >90. Perzentile |
Perinatalperiode | Beginn der 29. SSW bis vollendeter 7. Lebenstag |
Neugeborenenperiode | Erste vier Wochen postnatal (bis vollendeter 28. Lebenstag) |
Säugling | Bis zum vollendeten 1. Lebensjahr |
Neugeborenenscreening
- Ziel: Frühzeitige Diagnose behandelbarer Erkrankungen bei präsymptomatischen Neugeborenen [11]
- Epidemiologie: 519 bestätigte Erkrankungsfälle bei etwa 716.000 Untersuchungen, d.h. kumulative Inzidenz von 1 auf 1380 Neugeborene pro Jahr (2014)
- Durchführung: Aufbringen von Blut (etwa Fersenblut) auf Spezialfilterpapier , Versand an Screeninglabor
- Entnahmezeitpunkt: Nach vollendeten 36 Lebensstunden und vor Entlassung aus der Geburtsklinik
- Tracking-Verfahren: Zur Gewährleistung von Diagnosesicherung bzw. -ausschluss (bisher nicht flächendeckend)
- Screening auf folgende Erkrankungen
- Hypothyreose (Prävalenz: ca. 1/3500)
- Phenylketonurie (PKU) und Hyperphenylalaninämie (HPA) (Prävalenz für PKU bzw. HPA: ca. 1/5300)
- Adrenogenitales Syndrom (Prävalenz: ca. 1/13.500)
- Galaktosämie (Prävalenz: ca. 1/70.000)
- MCAD-Mangel (Prävalenz: ca. 1/10.000)
- Mukoviszidose (zystische Fibrose, Prävalenz: ca. 1/3.300) → siehe CF-Neugeborenenscreening
- Ahornsirupkrankheit (Prävalenz: ca. 1/153.000)
- Ursache: Aminosäurestoffwechselstörung (verzweigtkettige Aminosäuren)
- Klinik: U.a. ZNS-Schäden
- Therapie: Spezielle Diät
- Biotinidasemangel (Prävalenz: ca. 1/23.000)
- Ursache: Stoffwechseldefekt, der zu Biotinmangel führt
- Klinik: Dermatitis, ZNS-Schäden
- Therapie: Biotinsubstitution
- Carnitinstoffwechseldefekte (Prävalenz: Je nach Defekt ca. 1/1.500.000–1/900.000)
- Ursache: Fettsäurestoffwechselstörung
- Klinik: Stoffwechselkrisen, Koma
- Therapie: Spezielle Diät
- Glutarazidurie Typ I (Prävalenz: ca. 1/133.000)
- Ursache: Aminosäurestoffwechselstörung
- Klinik: Motorische Störungen
- Therapie: Spezielle Diät
- Isovalerianazidämie (Prävalenz: ca. 1/97.000)
- Ursache: Aminosäurestoffwechselstörung
- Klinik: ZNS-Schäden
- Therapie: Spezielle Diät
- LCHAD-Mangel (Prävalenz: ca. 1/170.000), VLCAD-Mangel (Prävalenz: ca. 1/85.000)
- Ursache: Stoffwechselstörungen der langkettigen Fettsäuren
- Klinik: Skelett- und Herzmuskelschwäche
- Therapie: Spezielle Diät
- Tyrosinämie Typ I (Prävalenz: ca: 1/135.000)
- Schwere kombinierte Immundefekte (SCID, Severe combined Immunodeficiency) (Prävalenz: ca. 1/32.500) [12]
- Ursache: T-Zelldefekte, ggf. kombiniert mit B-Zell- und NK-Lymphozytendefekten
- Klinik: pathologische Infektanfälligkeit und Infektionskomplikationen
- Therapie: allogene Knochenmark- oder Stammzelltransplantation
Patienteninformationen
Studientelegramme zum Thema
- Studientelegramm 127-2020-2/3: Auswirkungen von Frühgeburtlichkeit auf kardiale Funktionsparameter
Interesse an wöchentlichen Updates zur aktuellen Studienlage im Bereich der Inneren Medizin? Abonniere jetzt das Studientelegramm! Den Link zur Anmeldung findest du am Seitenende unter "Tipps & Links".