Zusammenfassung
In diesem Kapitel werden ausgewählte Störungen der ICD-10-Kategorie „Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend“ zusammengefasst. Die Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein dissoziales, aggressives oder oppositionelles Verhaltensmuster geprägt. Bei der emotionalen Störung mit Trennungsangst steht die anhaltende und übermäßige Furcht vor der Trennung von Eltern / primären Bezugspersonen im Vordergrund. Beim selektiven Mutismus imponiert ein konsequentes Sprechversagen in bestimmten sozialen Situationen. Die Bindungsstörungen zeigen ein abnormes Bindungsverhalten in der frühen Kindheit und sind meist Folge schwerwiegender emotionaler/körperlicher Vernachlässigung bzw. Misshandlung.
In der ICD-11 kommt es zu erheblichen strukturellen Änderungen in der Zuordnung der Störungsbilder.
Überblick
Strukturelle Änderungen in der Zuordnung der Störungsbilder: ICD-10 vs. ICD-11 | |||
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Kategorisierung nach ICD-10 [1] | Kategorisierung nach ICD-11 [2] | ||
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Störungen des Sozialverhaltens
Überblick [3]
- Definition: Heterogene Störungsgruppe mit anhaltend dissozialem, aggressivem oder oppositionellem Verhalten, das wiederholt zur Verletzung altersentsprechender Normen, Regeln und Grundrechte anderer Personen führt
- Unterformen
- Beginn: I.d.R. im Kindes- oder frühen Jugendalter
- Dauer: Mind. 6 Monate
Epidemiologie [3]
- Störungen des Sozialverhaltens
- Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
Störungen des Sozialverhaltens zählen mit zu den häufigsten Vorstellungsgründen in kinder- und jugendpsychiatrischen/-psychotherapeutischen Einrichtungen!
Ätiologie [5]
- Psychosoziale Risikofaktoren, u.a.
- Inkonsistentes Erziehungsverhalten
- Elterliche Konflikte/Trennungen/Kriminalität
- Delinquente Peergroup
- Niedriger sozioökonomischer Status
- Neurokognitive/-biologische Risikofaktoren, u.a.
- Erhöhte Sensitivität gegenüber Bedrohung → Verminderte Fähigkeit zur Emotionsregulation
- Mangelnde Verarbeitung emotionaler Reize
- Eingeschränkte Lernprozesse, bspw. beim Lernen von Bestrafungsreizen
- Furchtlosigkeit oder reduzierte Verhaltenshemmung
- Mangel an Empathie
Störungen des Sozialverhaltens sind multifaktoriell bedingt, wobei v.a. psychosoziale und neurobiologische Risikofaktoren eine Rolle spielen!
Symptomatik [5]
- Störung des Sozialverhaltens
-
Destruktives Verhalten und erhöhte Impulsivität
- Beschädigungen von Eigentum
- Feuerlegen
- Stehlen
- Tierquälerei
- Ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche
-
Mangelnde Anpassung an Regeln
- Schulschwänzen
- Weglaufen
- Eingeschränktes Unrechtsempfinden
- Auseinandersetzungen mit dem Gesetz (delinquentes Verhalten)
-
Dissoziales Verhalten
- Häufiges Lügen
- Grausamkeiten gegenüber anderen Personen
-
Destruktives Verhalten und erhöhte Impulsivität
- Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
- Aufsässiges, ungehorsames oder provozierendes Verhalten
- Verhalten richtet sich i.d.R. mehr gegen Erwachsene als gegen Gleichaltrige
- Fehlen schwerer aggressiver, dissozialer oder delinquenter Verhaltensweisen
Diagnostik [5]
Exploration
- Ausführliche Eigen- und Fremdanamnese
- Mit betroffenem Kind/Jugendlichen
- Beziehungen zu Familienmitgliedern und Gleichaltrigen
- Freizeitbeschäftigungen
- Selbstbild, Sexualität
- Substanzkonsum, delinquentes Verhalten
- Beispielfragen
- Was glaubst du, warum dich deine Eltern zu mir gebracht haben?
- Wie reagieren deine Eltern (Lehrer:innen, Freund:innen...), wenn du dich so verhältst? Wie empfindest du das?
- Tut es dir im Nachhinein manchmal leid?
- Gab es schon einmal eine Situation, in der du es geschafft hast, dich nicht so zu verhalten (bspw. schlagen, stehlen, wegrennen), obwohl du eigentlich den Impuls dazu hattest? Was war anders?
- Mit Bezugspersonen
- Erziehungsmethoden
- Umgang mit Aggression/Stress
- Soziale Integration
- Beispielfragen
- Welches Verhalten macht genau Schwierigkeiten?
- Wann/wo tritt das Verhalten typischerweise auf?
- Wie ist Ihre Reaktion darauf?
- Gab es Ausnahmen, in denen sich Ihr Kind anders verhalten hat, als zu erwarten war? Woran lag das?
- Welche Stärken hat Ihr Kind?
- Gibt es Situationen oder Personen, in bzw. mit denen ihr Kind keinen Streit hat?
- Mit betroffenem Kind/Jugendlichen
Testpsychologische Verfahren [5]
- Screeningverfahren: Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten / psychischen Störungen (DISYPS-III)
- Selbstbeurteilungsbogen für Störungen des Sozialverhaltens (SBB-SSV)
- Fremdbeurteilungsbogen für Störungen des Sozialverhaltens (FBB-SSV)
- Leistungsdiagnostik , bspw. WISC-V, KABC-II
- Verlaufsdiagnostik: Conners Skalen
Ggf. weiterführende Diagnostik [5]
- Körperliche Untersuchung (inkl. neurologischer Status)
- Labordiagnostik (z.B. Schilddrüsenwerte , Drogenscreening )
- cMRT
Diagnosestellung
- Keine Diagnosestellung <3 Jahre (bei oppositionellem, aufsässigem Verhalten) [6]
- Entsprechend den allgemeinen Kriterien nach ICD-10/ICD-11
Komorbiditäten und Differenzialdiagnosen [3]
Die folgenden Störungen kommen sowohl als Komorbidität als auch differenzialdiagnostisch in Betracht, u.a.:
- ADHS
- Angststörungen
- Entwicklungsstörungen (insb. Sprachentwicklungsstörungen)
- Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (bspw. Autismus-Spektrum-Störung)
- Intelligenzminderung
- Affektive Störungen: Bipolare Störung, Depression
- Bindungsstörungen
- PTBS
- Substanzmissbrauch
- Persönlichkeitsstörungen
Aggressives und unangepasstes Sozialverhalten kann bei einer Vielzahl psychischer Störungen als Begleitsymptom auftreten!
Therapie [3]
Psychotherapie (Mittel der Wahl)
- Psychoedukation
- Familienzentrierte Interventionen, u.a.
- Multisystemische Therapie (MST)
- Elterntraining (u.a. durch Stärkung elterlicher Erziehungsstrategien anhand von Verstärkerplänen)
- Schul- bzw. kindergartenzentrierte Interventionen
- Kognitive Verhaltenstherapie, u.a.
Es wird ein multimodales Vorgehen mit patient:innen-, familien-, und kindergarten-/schulzentrierten Interventionen empfohlen.
Medikamentöse Therapie [3][5]
- Indikation: Schwerwiegende Aggressivität und ausgeprägte emotionale Dysregulation
- Einsatz
- Nur in Kombination mit Psychotherapie bzw. pädagogischer Hilfe
- Unter Beachtung komorbider Störungen
- Als Kurzzeittherapie
- Substanzen
- Beste Evidenz
- Bei komorbider ADHS: Stimulanzien (Off-Label Use)
- Bei Intelligenzminderung: Risperidon
- Ohne komorbide Störung: Risperidon (Off-Label Use)
- Weitere Substanzen, u.a.
- Weitere atypische Antipsychotika, u.a. Aripiprazol (Off-Label Use)
- Stimmungsstabilisierer (Off-Label Use)
- Bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung: Niederpotente Antipsychotika, Benzodiazepine
- Beste Evidenz
Keine Substanz ist speziell für die Behandlung der Störung des Sozialverhaltens zugelassen!
Prognose/Verlauf [3]
- Hohes Risiko für Persistenz bei
- Frühem Störungsbeginn
- Hoher Frequenz/Intensität des Verhaltens
- Breitem Spektrum oppositionell-aggressiver Verhaltensweisen
- Betroffenheit zahlreicher Lebensbereiche
- Übergang in dissoziale Persönlichkeitsstörung möglich (Alter: Mind. 18 Jahre)
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Allgemeine Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens
Allgemeine Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens nach ICD-10 (F91) [1] | ||
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G1 |
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G2 |
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Störungsbeginn |
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Schweregrad |
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Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens
Diagnostische Kriterien einer auf den familiären Rahmen beschränkten Störung des Sozialverhaltens (F91.0) [1] | |
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Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
Diagnostische Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1) [1] | |
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A | |
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Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
Diagnostische Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen (F91.2) [1] | |
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A | |
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E |
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Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
Diagnostische Kriterien einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten (F91.3) [1] | |
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A | |
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C |
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Nach ICD-11
- Wesentliche Änderungen, u.a.
- Neue Kategorie („Disruptives Verhalten und dissoziale Störungen“) und Subtypisierung
- Kombinierte Diagnosen entfallen
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Subtypen der Störungen des Sozialverhaltens nach ICD-11 | |
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Störung | Differenzierungen |
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten |
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Störung des Sozialverhaltens mit dissozialem Verhalten |
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Emotionale Störungen
Klassifikation
- Nach ICD-10: Emotionale Störungen des Kindesalters
- Emotionale Störung mit Trennungsangst
- Phobische Störung des Kindesalters
- Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
- Emotionale Störung des Kindesalters mit Geschwisterrivalität
- Generalisierte Angststörung des Kindesalters
- Nach ICD-11: Siehe
Emotionale Störung mit Trennungsangst
- Definition: Angststörung mit anhaltender und übermäßiger Furcht vor der Trennung von Eltern / primären Bezugspersonen
- Prävalenz: 4–7% [7]
- Ätiologie: Kein einheitliches ätiologisches Modell [5]
- Häufig familiäres Muster mit Ängstlichkeit
- Psychosoziale Belastungen (bspw. Trennung der Eltern, Erkrankungen)
- Symptomatik [5]
- Angst um die Eltern
- Angst, alleine zu bleiben
- Vermeidungsverhalten
- Neigung dazu, stets zu Hause zu bleiben, nicht auszugehen und nicht außerhalb zu schlafen
- Abneigung, getrennt von den Bezugspersonen zu schlafen, Albträume bzgl. Trennung
- Oft einhergehend mit Schulphobie
- Somatisierung der Beschwerden mit gastrointestinalen und vegetativen Beschwerden
- Angstattacken und Wut bei Trennung, Suizidandrohungen
- Diagnostik
- Ausführliche Anamnese, inkl.
- Entwicklungsanamnese
- Familienanamnese (insb. Angststörungen)
- Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion
- Testpsychologische Verfahren, bspw. DISYPS-III: Diagnose Checkliste für Angststörungen (DCL-ANG) [5]
- Ausführliche Anamnese, inkl.
- Diagnosestellung: Entsprechend den allgemeinen Kriterien nach ICD-10/ICD-11
- Psychotherapie [5]
- Psychoedukation
- Verhaltenstherapie, ggf. auch im stationären Setting
- Unter Einbezug der Eltern
- Verstärkerpläne
Schulphobie
- Definition: Durch Trennungsängste ausgelöste Schulverweigerung (nach ICD-10 als emotionale Störung mit Trennungsangst kodiert)
- Mögliche Ursachen: Kognitive Einschränkungen (bspw. Lernschwäche oder mangelnde Intelligenz) liegen i.d.R. nicht vor
- Problematische Familienstrukturen
- Bspw. übermäßig enge, jedoch gleichzeitig unsichere Bindung zwischen Bezugsperson und Kind
- Begründete kindliche Verlustängste
- Problematische Familienstrukturen
- Assoziierte Symptome
- Bauch- oder Kopfschmerzen
- Allgemeines Unwohlsein
- Einnässen
- Schlafstörungen
- Depression
- Differenzialdiagnosen
- Schulangst: Angst durch nachvollziehbare, reale Belastungen im Schulalltag und/oder Versagensängste
- Schulschwänzen: Dissoziales Verhalten mit Schulvermeidung zugunsten anderer Aktivitäten
- Therapie
- Unterstützung der Familie
- Konsequente Wiedereingliederung in die Schule
- Belohnung der gewünschten Verhaltensweise mittels Verstärkerplan
- In schweren Fällen stationäre Aufnahme und Besuch einer Klinikschule
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Diagnostische Kriterien der emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters nach ICD-10 (F93.0)[1] | |
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Nach ICD-11
- Wesentliche Änderungen, u.a.
- Kategorie „Emotionale Störungen des Kindesalters“ entfällt
- Folgende Diagnosen entfallen
- Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
- Kindesalterspezifische Kategorien für Angststörungen
-
Störung mit Trennungsangst
- Unter den Angststörungen gelistet
- Auch im Erwachsenenalter diagnostizierbar
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Selektiver Mutismus
Definition
- Konsequentes Sprechversagen in bestimmten sozialen Situationen über eine Dauer von mind. 1 Monat
Epidemiologie
- Prävalenz (insg. unzureichende Studienlage): <1%
- Manifestationsalter: I.d.R. im Kindesalter
- Frühmutismus (< 4 Jahre)
- Spätmutismus (ab Schuleintritt)
- Geschlechterverteilung: ♀ > ♂ (ca. 2:1)
Ätiologie
Die Ursachen des selektiven Mutismus sind multifaktoriell bedingt und werden durch genetische, neurobiologische und psychosoziale Faktoren beeinflusst.
- Genetische Faktoren
- Neurobiologische Faktoren
- Psychosoziale Faktoren
Merkmale
- Das Kind verfügt über altersentsprechende Fähigkeiten bzgl. der sprachlichen Kommunikation
-
Selektivität des Sprechens
- Konsistenz bzgl. der sozialen Situationen, in denen die Selektivität sichtbar wird
- Häufiges Ausweichen auf nonverbale Kommunikation
- Bestimmte Persönlichkeitszüge: Sozialangst und sozialer Rückzug
Komorbiditäten
- Insb. soziale Phobie
- Andere Angststörungen
- Emotionale Störung mit Trennungsangst
- Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen
- Zwangsstörungen
- Depressionen
- Sprach- und Sprechstörungen
- Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
Diagnostik [5]
Eigen- und Fremdanamnese
- Mit betroffenem Kind (wenn möglich, alternativ ggf. zeichnerisch)
- Freizeitbeschäftigungen
- Beziehungen zur Familie
- Freund:innen
- Mit Bezugspersonen
- Umgang mit Stress
- Störungskonzepte
- Eigenes Verhalten in neuen Situationen
- Beispielfragen
- In welchen Situationen und mit wem spricht ihr Kind?
- In welchen Situationen und mit wem spricht ihr Kind nicht? Gab es Ausnahmen?
- Werden nonverbale Kommunikationswege genutzt?
- Wie reagieren Sie dann? Was haben Sie bisher unternommen?
- Gab es erfolgreiche Strategien?
- Anamnesebogen: Kölner Mutismus Anamnesebogen
Testpsychologische Verfahren
- Screening: Dortmunder Mutismus Screening [8]
- Verlaufsdiagnostik: Evaluationsbogen für das sozialinteraktive Kommunikationsverhalten bei Mutismus
- Leistungsdiagnostik
Ausschluss somatischer Ursachen
- Körperliche und neurologische Untersuchung
- HNO-ärztliche Untersuchung
- Ggf. EEG
- Einschätzung der Sprachfertigkeiten (ggf. über Ton- oder Videoaufnahmen), ggf. logopädische Vorstellung [8]
Diagnosestellung
Differenzialdiagnosen, u.a.
- Passagerer Mutismus
- Totaler Mutismus
Therapie
- Psychotherapie [8]
- 1. Wahl: Kognitive Verhaltenstherapie
- Ziel: Verbesserung bzw. Aufrechterhaltung der verbalen Kommunikation mittels intensiver Verstärkung des Sprechens
- Techniken
- Shaping: Positive Verstärkung kleinster Kooperationssignale
- Imitationsübungen für Sprach- und Mundmotorik
- Fading: Schrittweise Erhöhung sprachlicher Anforderungen in gewohnter Umgebung
- Kommunikationshierarchie: Analyse und schrittweiser Aufbau sprachlicher Fertigkeiten
- Einbezug der Eltern und anderer Bezugspersonen
- Verlauf
- Erste Worte i.d.R. innerhalb von 20 Sitzungen zu erwarten
- Stabile Erfolge oft nur durch Langzeittherapie erreichbar
- Pharmakotherapie [8]
- Indikation
- Bei komorbider Depression oder Angststörung
- Bei unzureichender psychotherapeutischer Wirksamkeit
- Einsatz: Nur in Kombination mit Psychotherapie
- Substanzen: Keine Zulassung für die Indikation selektiver Mutismus (Off-Label Use)
- Indikation
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Nach ICD-10 wird der selektive Mutismus unter den Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F94) aufgeführt.
Diagnostische Kriterien des elektiven Mutismus nach ICD-10 (F94.0) [1][8] | |
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Zur Begriffsklärung: „Selektiver Mutismus“ sollte bevorzugt genutzt werden, da der (veraltete) Begriff „elektiver Mutismus“ eine freie Wahl des Schweigens suggeriert!
Nach ICD-11
- Wesentliche Änderung
- Unter den Angststörungen gelistet
- Auch im Erwachsenenalter diagnostizierbar
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps & Links
Bindungsstörungen
Übersicht
- Definition: Störungen mit abnormen Bindungsverhalten in der frühen Kindheit (Beginn innerhalb der ersten 5 Lebensjahre)
- Einteilung
Epidemiologie
- Prävalenz (Insg. unzureichende Datenlage)
- Kinder die von ihrer leiblichen Mutter aufgezogen wurden: <1%
- Kinder aus Pflegefamilien: >25%
Ätiologie [9]
-
Schwerwiegende emotionale und/oder körperliche
- Vernachlässigung (Deprivation)
- Misshandlung
- Häufig wechselnde Bezugspersonen / multiple Beziehungsabbrüche
Symptomatik
- Reaktive Bindungsstörung
- Übermäßig wachsames und ängstliches Verhalten
- Ambivalente/widersprüchliche soziale Interaktionen in verschiedenen Situationen
- Emotionale Auffälligkeiten: Verminderte Ansprechbarkeit, Rückzugsverhalten, (auto‑)aggressives Verhalten als Ausdruck des Unglücklichseins
- Verminderte Interaktion mit Gleichaltrigen
- In Interaktion mit einfühlsamen Bezugspersonen soziale Ansprechbarkeit und Gegenseitigkeit möglich
- Bindungsstörung mit Enthemmung
- Mangelnde/diffuse exklusive Bindungen
- Enthemmtes, distanzloses Verhalten gegenüber Fremden
- Starkes Aufmerksamkeitsbedürfnis
- Verminderte Interaktion mit Gleichaltrigen
- (Auto‑)aggressives Verhalten
Komorbiditäten [5]
- Störungen des Sozialverhaltens
- Angststörungen
- Intelligenzminderung
- Emotionale Störungen
- Hyperkinetische Störungen
Diagnostik
- Ausführliche Anamnese, inkl. Fremdanamnese
- Entwicklungsanamnese und Betreuungsgeschichte
- Detaillierte Erhebung des Bindungsverhaltens
- Missbrauchserfahrungen/Kindeswohlgefährdung
- Beispielfragen an die Bezugspersonen
- Wie reagiert Ihr Kind, wenn es sich wehgetan hat?
- Sucht es Trost? Und wenn ja, bei wem?
- Wie reagiert es in unvertrauten Situationen auf fremde Personen?
- Zeigt es Neugier oder Zurückhaltung?
- Wirkt es ängstlich oder sucht es ggf. Körperkontakt?
- Geht es mit fremden Personen mit?
- Körperliche Untersuchung
- Beobachtung des Bindungsverhaltens (in verschiedenen Situationen)
- Weiterführende Diagnostik
- EEG
- Ggf. Blutuntersuchung
- Diagnosestellung
- Alter [9]
- Keine Diagnosestellung <9 Monate
- Vorsichtige Diagnosestellung zwischen 9 und 12 Monaten
- Diagnostische Kriterien, siehe: Diagnostische Kriterien der Bindungsstörungen
- Alter [9]
Bei V.a. eine Bindungsstörung ist die Einschätzung möglicher Kindeswohlgefährdung erforderlich! [9]
Differenzialdiagnosen
- Tiefgreifende Entwicklungsstörungen
- PTBS
- Organische Ursachen
Therapie
- Voraussetzung
- Emotional verlässlich und konstante Bezugsperson
- Stabiles, förderndes Umfeld
- Psychotherapeutische Maßnahmen, u.a.
- Eltern-Kind-Therapie (insb. bei jüngeren Kindern)
- STEEP (Steps toward effective and enjoyable Parenting)
- Entwicklungspsychologische Beratung (EPB)
- Entwicklungspsychologische Beziehungstherapie (EBT4–10)
- Eltern-Kind-Therapie (insb. bei jüngeren Kindern)
- Elternarbeit (begleitend)
- Psychoedukation
- Verhaltenstherapeutische Ansätze zum Umgang mit aggressivem Verhalten
- Bei V.a. Kindeswohlgefährdung siehe: Rechtsgrundlagen der Kinderschutzmedizin
Prognose/Verlauf [5]
- Abhängig von der ursächlichen Deprivationsdauer
- Reaktive Bindungsstörung
- Meist Rückgang der Symptomatik bei adäquater Versorgungsumgebung
- Erhöhtes Risiko für Depressionen im Jugend- und Erwachsenenalter
- Bindungsstörung mit Enthemmung: Trotz adäquater Versorgungsumgebung oft Fortbestehen der Symptome
Diagnostische Kriterien
Nach ICD-10
Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
Diagnostische Kriterien der reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters nach ICD-10 (F94.1) [1] | |
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Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
Diagnostische Kriterien der Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung nach ICD-10 (F94.2) [1] | |
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A |
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B |
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C |
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Nach ICD-11
- Wesentliche Änderungen, u.a.
- Unter den spezifisch belastungsassoziierten Störungen gelistet
- Mehr Informationen zur ICD-11 (deutsche Entwurfsfassung) unter Tipps und Links
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90-F98)
- F90.-: Hyperkinetische Störungen
- Diese Gruppe von Störungen ist charakterisiert durch einen frühen Beginn, meist in den ersten fünf Lebensjahren, einen Mangel an Ausdauer bei Beschäftigungen, die kognitiven Einsatz verlangen, und eine Tendenz, von einer Tätigkeit zu einer anderen zu wechseln, ohne etwas zu Ende zu bringen; hinzu kommt eine desorganisierte, mangelhaft regulierte und überschießende Aktivität. Verschiedene andere Auffälligkeiten können zusätzlich vorliegen. Hyperkinetische Kinder sind oft achtlos und impulsiv, neigen zu Unfällen und werden oft bestraft, weil sie eher aus Unachtsamkeit als vorsätzlich Regeln verletzen. Ihre Beziehung zu Erwachsenen ist oft von einer Distanzstörung und einem Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung geprägt. Bei anderen Kindern sind sie unbeliebt und können isoliert sein. Beeinträchtigung kognitiver Funktionen ist häufig, spezifische Verzögerungen der motorischen und sprachlichen Entwicklung kommen überproportional oft vor. Sekundäre Komplikationen sind dissoziales Verhalten und niedriges Selbstwertgefühl.
- Exklusive: Affektive Störungen (F30-F39), Angststörungen (F41.-, F93.0), Schizophrenie (F20.‑), Tief greifende Entwicklungsstörungen (F84.‑)
- F90.0: Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung
- Aufmerksamkeitsdefizit bei: hyperaktivem Syndrom, Hyperaktivitätsstörung, Störung mit Hyperaktivität
- Exklusive: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (F90.1)
- F90.1: Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens
- Hyperkinetische Störung verbunden mit Störung des Sozialverhaltens
- F90.8: Sonstige hyperkinetische Störungen
- F90.9: Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet
- Hyperkinetische Reaktion der Kindheit oder des Jugendalters o.n.A.
- Hyperkinetisches Syndrom o.n.A.
- F91.-: Störungen des Sozialverhaltens
- Störungen des Sozialverhaltens sind durch ein sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens charakterisiert. Dieses Verhalten übersteigt mit seinen gröberen Verletzungen die altersentsprechenden sozialen Erwartungen. Es ist also schwerwiegender als gewöhnlicher kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit. Das anhaltende Verhaltensmuster muss mindestens sechs Monate oder länger bestanden haben. Störungen des Sozialverhaltens können auch bei anderen psychiatrischen Krankheiten auftreten, in diesen Fällen ist die zugrunde liegende Diagnose zu verwenden. Beispiele für Verhaltensweisen, welche diese Diagnose begründen, umfassen ein extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren, Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren, erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen oder Weglaufen von zu Hause, ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche und Ungehorsam. Jedes dieser Beispiele ist bei erheblicher Ausprägung ausreichend für die Diagnose, nicht aber nur isolierte dissoziale Handlungen.
- Exklusive: Affektive Störungen (F30-F39), Kombination mit emotionalen Störungen (F92.‑), Kombination mit hyperkinetischen Störungen (F90.1), Schizophrenie (F20.‑), Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.‑)
- F91.0: Auf den familiären Rahmen beschränkte Störung des Sozialverhaltens
- Diese Verhaltensstörung umfasst dissoziales oder aggressives Verhalten (und nicht nur oppositionelles, aufsässiges oder trotziges Verhalten), das vollständig oder fast völlig auf den häuslichen Rahmen oder auf Interaktionen mit Mitgliedern der Kernfamilie oder der unmittelbaren Lebensgemeinschaft beschränkt ist. Für die Störung müssen die allgemeinen Kriterien für F91.- erfüllt sein. Schwer gestörte Eltern-Kind-Beziehungen sind für die Diagnose allein nicht ausreichend.
- F91.1: Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen
- Diese Störung ist charakterisiert durch die Kombination von andauerndem dissozialen oder aggressiven Verhalten, das die allgemeinen Kriterien für F91.- erfüllt und nicht nur oppositionelles, aufsässiges und trotziges Verhalten umfasst, mit deutlichen und tief greifenden Abweichungen der Beziehungen des Betroffenen zu anderen Kindern.
- Nichtsozialisierte aggressive Störung
- Störung des Sozialverhaltens, nur aggressiver Typ
- F91.2: Störung des Sozialverhaltens bei vorhandenen sozialen Bindungen
- Dieses Störung beinhaltet andauerndes dissoziales oder aggressives Verhalten, das die allgemeinen Kriterien für F91.- erfüllt und nicht nur oppositionelles, aufsässiges und trotziges Verhalten umfasst, und bei Kindern auftritt, die allgemein gut in ihrer Altersgruppe eingebunden sind.
- Gemeinsames Stehlen
- Gruppendelinquenz
- Schulschwänzen
- Störung des Sozialverhaltens in der Gruppe
- Vergehen im Rahmen einer Bandenmitgliedschaft
- F91.3: Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem, aufsässigem Verhalten
- Diese Verhaltensstörung tritt gewöhnlich bei jüngeren Kindern auf und ist in erster Linie durch deutlich aufsässiges, ungehorsames Verhalten charakterisiert, ohne delinquente Handlungen oder schwere Formen aggressiven oder dissozialen Verhaltens. Für diese Störung müssen die allgemeinen Kriterien für F91.- erfüllt sein: deutlich übermütiges oder ungezogenes Verhalten allein reicht für die Diagnosenstellung nicht aus. Vorsicht beim Stellen dieser Diagnose ist vor allem bei älteren Kindern geboten, bei denen klinisch bedeutsame Störungen des Sozialverhaltens meist mit dissozialem oder aggressivem Verhalten einhergehen, das über Aufsässigkeit, Ungehorsam oder Trotz hinausgeht.
- F91.8: Sonstige Störungen des Sozialverhaltens
- F91.9: Störung des Sozialverhaltens, nicht näher bezeichnet
- Kindheit: Störung des Sozialverhaltens o.n.A., Verhaltensstörung o.n.A.
- F92.-: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
- Diese Gruppe von Störungen ist durch die Kombination von anhaltendem aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhalten charakterisiert mit offensichtlichen und eindeutigen Symptomen von Depression, Angst oder anderen emotionalen Störungen. Sowohl die Kriterien für Störungen des Sozialverhaltens im Kindesalter (F91.‑) als auch für emotionale Störungen des Kindesalters (F93.‑) bzw. für eine erwachsenentypische neurotische Störung (F40-F49) oder eine affektive Störung (F30-F39) müssen erfüllt sein.
- F92.0: Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung
- Diese Kategorie verlangt die Kombination einer Störung des Sozialverhaltens (F91.‑) mit andauernder und deutlich depressiver Verstimmung (F32.‑), die sich in auffälligem Leiden, Interessenverlust, mangelndem Vergnügen an alltäglichen Aktivitäten, Schulderleben und Hoffnungslosigkeit zeigt. Schlafstörungen und Appetitlosigkeit können gleichfalls vorhanden sein.
- Störung des Sozialverhaltens (F91.‑) mit depressiver Störung (F32.‑)
- F92.8: Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen
- Diese Kategorie verlangt die Kombination einer Störung des Sozialverhaltens (F91.‑) mit andauernden und deutlichen emotionalen Symptomen wie Angst, Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, Depersonalisation oder Derealisation, Phobien oder Hypochondrie.
- Störungen des Sozialverhaltens (F91.‑) mit: emotionaler Störung (F93.‑), neurotischer Störung (F40-F49)
- F92.9: Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen, nicht näher bezeichnet
- F93.-: Emotionale Störungen des Kindesalters
- Diese stellen in erster Linie Verstärkungen normaler Entwicklungstrends dar und weniger eigenständige, qualitativ abnorme Phänomene. Die Entwicklungsbezogenheit ist das diagnostische Schlüsselmerkmal für die Unterscheidung der emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit (F93.‑) von den neurotischen Störungen (F40-F48).
- F93.0: Emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters
- Eine Störung mit Trennungsangst soll nur dann diagnostiziert werden, wenn die Furcht vor Trennung den Kern der Angst darstellt und wenn eine solche Angst erstmals während der frühen Kindheit auftrat. Sie unterscheidet sich von normaler Trennungsangst durch eine unübliche Ausprägung, eine abnorme Dauer über die typische Altersstufe hinaus und durch deutliche Probleme in sozialen Funktionen.
- Exklusive: Affektive Störungen (F30-F39), Neurotische Störungen (F40-F48), Phobische Störung des Kindesalters (F93.1), Störung mit sozialer Überempfindlichkeit des Kindesalters (F93.2)
- F93.1: Phobische Störung des Kindesalters
- Es handelt sich um Befürchtungen in der Kindheit, die eine deutliche Spezifität für die entsprechenden Entwicklungsphasen aufweisen und in einem gewissen Ausmaß bei der Mehrzahl der Kinder auftreten, hier aber in einer besonderen Ausprägung. Andere in der Kindheit auftretende Befürchtungen, die nicht normaler Bestandteil der psychosozialen Entwicklung sind, wie bspw. die Agoraphobie sind unter der entsprechenden Kategorie in Abschnitt F40-F48 zu klassifizieren.
- Exklusive: Generalisierte Angststörung (F41.1)
- F93.2: Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters
- Bei dieser Störung besteht ein Misstrauen gegenüber Fremden und soziale Besorgnis oder Angst, in neuen, fremden oder sozial bedrohlichen Situationen. Diese Kategorie sollte nur verwendet werden, wenn solche Ängste in der frühen Kindheit auftreten und sie ungewöhnlich stark ausgeprägt sind und zu deutlichen Problemen in der sozialen Funktionsfähigkeit führen.
- Vermeidende Störung in der Kindheit und Jugend
- F93.3: Emotionale Störung mit Geschwisterrivalität
- Die Mehrzahl junger Kinder zeigt gewöhnlich ein gewisses Ausmaß emotionaler Störungen nach der Geburt eines unmittelbar nachfolgenden jüngeren Geschwisters. Eine emotionale Störung mit Geschwisterrivalität soll nur dann diagnostiziert werden, wenn sowohl das Ausmaß als auch die Dauer der Störung übermäßig ausgeprägt sind und mit Störungen der sozialen Interaktionen einhergehen.
- Geschwistereifersucht
- F93.8: Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters
- Identitätsstörung
- Störung mit Überängstlichkeit
- Exklusive: Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2)
- F93.9: Emotionale Störung des Kindesalters, nicht näher bezeichnet
- F94.-: Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
- Es handelt sich um eine etwas heterogene Gruppe von Störungen, mit Abweichungen in der sozialen Funktionsfähigkeit und Beginn in der Entwicklungszeit. Anders als die tief greifenden Entwicklungsstörungen sind sie jedoch nicht primär durch eine offensichtliche konstitutionelle soziale Beeinträchtigung oder Defizite in allen Bereichen sozialer Funktionen charakterisiert. In vielen Fällen spielen schwerwiegende Milieuschäden oder Deprivationen eine vermutlich entscheidende Rolle in der Ätiologie.
- F94.0: Elektiver Mutismus
- Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden.
- Selektiver Mutismus
- Exklusive: Passagerer Mutismus als Teil einer Störung mit Trennungsangst bei jungen Kindern (F93.0), Schizophrenie (F20.‑), Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84.‑), Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache (F80.‑)
- F94.1: Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
- Diese tritt in den ersten fünf Lebensjahren auf und ist durch anhaltende Auffälligkeiten im sozialen Beziehungsmuster des Kindes charakterisiert. Diese sind von einer emotionalen Störung begleitet und reagieren auf Wechsel in den Milieuverhältnissen. Die Symptome bestehen aus Furchtsamkeit und Übervorsichtigkeit, eingeschränkten sozialen Interaktionen mit Gleichaltrigen, gegen sich selbst oder andere gerichteten Aggressionen, Unglücklichsein und in einigen Fällen Wachstumsverzögerung. Das Syndrom tritt wahrscheinlich als direkte Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung, Missbrauch oder schwerer Misshandlung auf.
- Exklusive: Asperger-Syndrom (F84.5), Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2), Missbrauch von Personen (T74.‑), Normvariation im Muster der selektiven Bindung, Psychosoziale Probleme infolge von sexueller oder körperlicher Misshandlung im Kindesalter (Z61)
- F94.2: Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
- Ein spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten fünf Lebensjahre auftritt mit einer Tendenz, trotz deutlicher Änderungen in den Milieubedingungen zu persistieren. Dieses kann bspw. in diffusem, nichtselektivem Bindungsverhalten bestehen, in aufmerksamkeitssuchendem und wahllos freundlichem Verhalten und kaum modulierten Interaktionen mit Gleichaltrigen; je nach Umständen kommen auch emotionale und Verhaltensstörungen vor.
- Gefühlsarme Psychopathie
- Hospitalismus
- Exklusive: Asperger-Syndrom (F84.5), Hyperkinetische Störungen (F90.‑), Hospitalismus bei Kindern (F43.2), Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1)
- F94.8: Sonstige Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit
- F94.9: Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit, nicht näher bezeichnet
- F95.-: Ticstörungen
- Syndrome, bei denen das vorwiegende Symptom ein Tic ist. Ein Tic ist eine unwillkürliche, rasche, wiederholte, nichtrhythmische Bewegung meist umschriebener Muskelgruppen oder eine Lautproduktion, die plötzlich einsetzt und keinem erkennbaren Zweck dient. Normalerweise werden Tics als nicht willkürlich beeinflussbar erlebt, sie können jedoch meist für unterschiedlich lange Zeiträume unterdrückt werden. Belastungen können sie verstärken, während des Schlafens verschwinden sie. Häufige einfache motorische Tics sind Blinzeln, Kopfwerfen, Schulterzucken und Grimassieren. Häufige einfache vokale Tics sind bspw. Räuspern, Bellen, Schnüffeln und Zischen. Komplexe Tics sind Sich-selbst-schlagen sowie Springen und Hüpfen. Komplexe vokale Tics sind die Wiederholung bestimmter Wörter und manchmal der Gebrauch sozial unangebrachter, oft obszöner Wörter (Koprolalie) und die Wiederholung eigener Laute oder Wörter (Palilalie).
- F95.0: Vorübergehende Ticstörung
- Sie erfüllt die allgemeinen Kriterien für eine Ticstörung, jedoch halten die Tics nicht länger als 12 Monate an. Die Tics sind häufig Blinzeln, Grimassieren oder Kopfschütteln.
- F95.1: Chronische motorische oder vokale Ticstörung
- Sie erfüllt die allgemeinen Kriterien für eine Ticstörung, wobei motorische oder vokale Tics, jedoch nicht beide zugleich, einzeln, meist jedoch multipel, auftreten und länger als ein Jahr andauern.
- F95.2: Kombinierte vokale und multiple motorische Tics [Tourette-Syndrom]
- Eine Form der Ticstörung, bei der gegenwärtig oder in der Vergangenheit multiple motorische Tics und ein oder mehrere vokale Tics vorgekommen sind, die aber nicht notwendigerweise gleichzeitig auftreten müssen. Die Störung verschlechtert sich meist während der Adoleszenz und neigt dazu, bis in das Erwachsenenalter anzuhalten. Die vokalen Tics sind häufig multipel mit explosiven repetitiven Vokalisationen, Räuspern und Grunzen und Gebrauch von obszönen Wörtern oder Phrasen. Manchmal besteht eine begleitende gestische Echopraxie, die ebenfalls obszöner Natur sein kann (Kopropraxie).
- F95.8: Sonstige Ticstörungen
- F95.9: Ticstörung, nicht näher bezeichnet
- Tic o.n.A.
- F98.-: Andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
- Dieser heterogenen Gruppe von Störungen ist der Beginn in der Kindheit gemeinsam, sonst unterscheiden sie sich jedoch in vieler Hinsicht. Einige der Störungen repräsentieren gut definierte Syndrome, andere sind jedoch nicht mehr als Symptomkomplexe, die hier aber wegen ihrer Häufigkeit und ihrer sozialen Folgen und weil sie anderen Syndromen nicht zugeordnet werden können, aufgeführt werden.
- Exklusive: Emotional bedingte Schlafstörungen (F51.‑), Geschlechtsidentitätsstörung des Kindesalters (F64.2), Kleine-Levin-Syndrom (G47.8), Perioden von Atemanhalten (R06.88), Zwangsstörung (F42.‑)
- F98.0: Nichtorganische Enuresis
- Diese Störung ist charakterisiert durch unwillkürlichen Harnabgang am Tag und in der Nacht, untypisch für das Entwicklungsalter. Sie ist nicht Folge einer mangelnden Blasenkontrolle aufgrund einer neurologischen Krankheit, epileptischer Anfälle oder einer strukturellen Anomalie der ableitenden Harnwege. Die Enuresis kann von Geburt an bestehen oder nach einer Periode bereits erworbener Blasenkontrolle aufgetreten sein. Die Enuresis kann von einer schweren emotionalen oder Verhaltensstörung begleitet werden.
- Funktionelle Enuresis
- Nichtorganische primäre oder sekundäre Enuresis
- Nichtorganische Harninkontinenz
- Psychogene Enuresis
- Exklusive: Enuresis o.n.A. (R32)
- F98.1: Nichtorganische Enkopresis
- Wiederholtes willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Faeces normaler oder fast normaler Konsistenz an Stellen, die im soziokulturellen Umfeld des Betroffenen nicht dafür vorgesehen sind. Die Störung kann eine abnorme Verlängerung der normalen infantilen Inkontinenz darstellen oder einen Kontinenzverlust nach bereits vorhandener Darmkontrolle, oder es kann sich um ein absichtliches Absetzen von Stuhl an dafür nicht vorgesehenen Stellen trotz normaler physiologischer Darmkontrolle handeln. Das Zustandsbild kann als monosymptomatische Störung auftreten oder als Teil einer umfassenderen Störung, besonders einer emotionalen Störung (F93.‑) oder einer Störung des Sozialverhaltens (F91.‑).
- Funktionelle Enkopresis
- Nichtorganische Stuhlinkontinenz
- Psychogene Enkopresis
- Exklusive: Enkopresis o.n.A. (R15)
- F98.2: Fütterstörung im frühen Kindesalter
- Eine Fütterstörung mit unterschiedlicher Symptomatik, die gewöhnlich für das Kleinkindalter und frühe Kindesalter spezifisch ist. Im Allgemeinen umfasst die Nahrungsverweigerung extrem wählerisches Essverhalten bei angemessenem Nahrungsangebot und einer einigermaßen kompetenten Betreuungsperson in Abwesenheit einer organischen Krankheit. Begleitend kann Rumination - d.h. wiederholtes Heraufwürgen von Nahrung ohne Übelkeit oder eine gastrointestinale Krankheit - vorhanden sein.
- Rumination im Kleinkindalter
- Exklusive: Anorexia nervosa und andere Essstörungen (F50.‑), Fütterprobleme bei Neugeborenen (P92.‑), Fütterschwierigkeiten und Betreuungsfehler (R63.3), Pica im Kleinkind- oder Kindesalter (F98.3)
- F98.3: Pica im Kindesalter
- Anhaltender Verzehr nicht essbarer Substanzen wie Erde, Farbschnipsel usw.. Sie kann als eines von vielen Symptomen einer umfassenderen psychischen Störung wie Autismus auftreten oder sie kann als relativ isolierte psychopathologische Auffälligkeit vorkommen; nur das letztere wird hier kodiert. Das Phänomen ist bei intelligenzgeminderten Kindern am häufigsten. Wenn eine solche Intelligenzminderung vorliegt, ist als Hauptdiagnose eine Kodierung unter F70-F79 zu verwenden.
- F98.4: Stereotype Bewegungsstörungen
- Willkürliche, wiederholte, stereotype, nicht funktionale und oft rhythmische Bewegungen, die nicht Teil einer anderen psychischen oder neurologischen Krankheit sind. Wenn solche Bewegungen als Symptome einer anderen Störung vorkommen, soll nur die übergreifende Störung kodiert werden. Nichtselbstbeschädigende Bewegungen sind bspw. Körperschaukeln, Kopfschaukeln, Haarezupfen, Haaredrehen, Fingerschnipsgewohnheiten und Händeklatschen. Stereotype Selbstbeschädigungen sind bspw. wiederholtes Kopfanschlagen, Ins-Gesicht-schlagen, In-die-Augen-bohren und Beißen in Hände, Lippen oder andere Körperpartien. Alle stereotypen Bewegungsstörungen treten am häufigsten in Verbindung mit Intelligenzminderung auf; wenn dies der Fall ist, sind beide Störungen zu kodieren. Wenn das Bohren in den Augen bei einem Kind mit visueller Behinderung auftritt, soll beides kodiert werden: das Bohren in den Augen mit F98.4 und die Sehstörung mit der Kodierung der entsprechenden somatischen Störung.
- Stereotypie/abnorme Gewohnheit
- Exklusive: Abnorme unwillkürliche Bewegungen (R25.‑), Bewegungsstörungen organischer Ursache (G20-G25), Daumenlutschen (F98.8), Nägelbeißen (F98.8), Nasebohren (F98.8), Stereotypien als Teil einer umfassenderen psychischen Störung (F00-F95), Ticstörungen (F95.‑), Trichotillomanie (F63.3)
- F98.40: Ohne Selbstverletzung
- F98.41: Mit Selbstverletzung
- F98.42: Gemischt
- F98.49: Ohne Angabe einer Selbstverletzung
- F98.5: Stottern [Stammeln]
- Hierbei ist das Sprechen durch häufige Wiederholung oder Dehnung von Lauten, Silben oder Wörtern, oder durch häufiges Zögern und Innehalten, das den rhythmischen Sprechfluss unterbricht, gekennzeichnet. Es soll als Störung nur klassifiziert werden, wenn die Sprechflüssigkeit deutlich beeinträchtigt ist.
- Exklusive: Poltern (F98.6), Ticstörungen (F95.‑)
- F98.6: Poltern
- Eine hohe Sprechgeschwindigkeit mit Störung der Sprechflüssigkeit, jedoch ohne Wiederholungen oder Zögern, von einem Schweregrad, der zu einer beeinträchtigten Sprechverständlichkeit führt. Das Sprechen ist unregelmäßig und unrhythmisch, mit schnellen, ruckartigen Anläufen, die gewöhnlich zu einem fehlerhaften Satzmuster führen.
- Exklusive: Stottern (F98.5), Ticstörungen (F95.‑)
- F98.8: Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität
- Daumenlutschen
- Exzessive Masturbation
- Nägelkauen
- Nasebohren
- F98.9: Nicht näher bezeichnete Verhaltens- oder emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.