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Fetale Alkoholspektrumstörung

Letzte Aktualisierung: 5.4.2023

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Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft kann zu Zelltod und Entwicklungsstörungen der Organe beim Kind führen. Besonders vulnerabel ist das Gehirn des Ungeborenen. Die pränatale alkoholtoxische Gehirnschädigung ist irreparabel und geht mit einer chronischen Behinderung einher. Die aus pränataler Alkoholexposition resultierende Erkrankung wird unter dem Begriff Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) zusammengefasst. Hierzu zählen die drei Formen: Fetales Alkoholsyndrom (FAS), partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS) und alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND).

Statistischen Schätzungen zufolge ist die FASD eine der häufigsten angeborenen chronischen Erkrankungen in Deutschland (177 Fälle pro 10.000 Neugeborene). Eine vollständige Alkoholabstinenz während der Schwangerschaft verhindert die Erkrankung. Dennoch ergeben Daten einer Studie des RKI, dass etwa ein Drittel aller schwangeren Frauen Alkohol konsumiert. Für den deutschsprachigen Raum liegt eine evidenz- und konsensbasierte S3-Leitlinie zur Diagnose von Fetalen Alkoholspektrumstörungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis <18 Jahren vor. Sie dient der Einteilung der einzelnen Störungsbilder anhand von vier diagnostischen Säulen: Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten und pränatale Alkoholexposition.

Dieses Kapitel ist im Rahmen einer Kooperation zwischen AMBOSS und dem integrierten Sozialpädiatrischen Zentrum (iSPZ) im Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) entstanden. Beteiligte Autor:innen: Markovic A, Heinen F, Landgraf MN

Zur Differenzierung der einzelnen Formen siehe: Diagnosekriterien der FASD!

Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.

  • Risikofaktoren für mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft [4]
  • Risikofaktoren für die Entstehung einer FASD [4]
    • Hoher und/oder chronischer Alkoholkonsum
    • Alkoholkonsum während der Frühschwangerschaft
    • Abusus mehrerer Drogen
    • Höheres Alter (>30 Jahre)
    • Geringer sozioökonomischer Status
    • Väterlicher Alkoholkonsum [4][5]
    • Unterernährung
    • Geburtshilfliche Komplikationen

Die fetale Enzymfunktion und -konzentration ist im Vergleich zu Erwachsenen deutlich geringer!

Ethanol wird ungehindert von der Schwangeren auf das ungeborene Kind übertragen!

Die klinischen Auffälligkeiten einer FASD lassen sich in Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten und ZNS-Auffälligkeiten unterteilen. Zusammen mit der pränatalen Alkoholexposition bilden sie die vier diagnostischen Säulen der S3-Leitlinie FASD. Die einzelnen Kriterien dienen der Diagnose und Differenzierung der verschiedenen Formen der Fetalen Alkoholspektrumstörung. Zur Diagnosestellung siehe: Diagnosekriterien der FASD. [4]

Wachstumsauffälligkeiten

Faziale Auffälligkeiten

Kurze Lidspalten, schmale Oberlippe und verstrichenes Philtrum sind die wegweisenden Merkmale einer FASD!

ZNS-Auffälligkeiten

Fast alle Kinder mit FASD weisen Störungen der Exekutivfunktionen auf!

Für eine möglichst frühzeitige und adäquate Diagnostik ist bei V.a. FASD eine Überweisung an ein interdisziplinäres Zentrum sinnvoll (z.B. Sozialpädiatrisches Zentrum oder Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie). [4][14]

Mögliche Vorstellungsgründe

  • Entwicklungsstörungen
  • Kognitive Beeinträchtigungen, Schwierigkeiten in der Schule
  • Verhaltensauffälligkeiten, geringe Frustrationstoleranz
  • Kein altersadäquates Erledigen von Alltagsaufgaben, Unselbstständigkeit
  • Bekannte pränatale Alkohol- und/oder Drogenexposition

Anamnese

Klinische Untersuchung

  • Somatische Daten: Gewicht, Größe, Kopfumfang
  • Faziale Auffälligkeiten siehe: Symptome der FASD
  • Hirnnerven
  • Sensomotorik
    • Haltung, Spontanmotorik, Tonus, Kraft, Reflexe
    • Grob- und feinmotorische Fertigkeiten und Koordination

Neuropsychologische Untersuchung

  • Verhaltensbeobachtung
  • Spezifische Tests und Fragebögen für die Bereiche
    • Intelligenz
    • Sprache
    • Räumlich-visuelle Wahrnehmung oder räumlich-konstruktive Fähigkeiten
    • Lern- oder Merkfähigkeiten
    • Exekutivfunktionen
    • Rechenfertigkeiten
    • Aufmerksamkeit und Konzentration
    • Soziale Fertigkeiten und Verhalten

Diagnosestellung [4]

Die Unterformen der FASD werden anhand klinischer Kriterien der vier diagnostischen Säulen (Wachstumsauffälligkeiten, faziale Auffälligkeiten, ZNS-Auffälligkeiten, pränatale Alkoholexposition) diagnostiziert. Siehe auch: Symptome der FASD.

Diagnosekriterien der Fetalen Alkoholspektrumstörung (FASD)
Diagnose Wachstumsauffälligkeiten Faziale Auffälligkeiten ZNS-Auffälligkeiten Pränatale Alkoholexposition

Fetales Alkoholsyndrom (FAS)

  • Mind. 1 Kriterium erfüllt
  • Alle 3 Kriterien erfüllt
  • Mind. 1 Kriterium erfüllt
  • Zu beachten
    • Epilepsie zählt nicht als alleinstehendes Kriterium
    • Signifikante Beeinträchtigung in Leistungsbereichen zählt nur dann als Kriterium, wenn mind. 3 Bereiche betroffen sind (bei Epilepsie mind. 2 Bereiche)
  • Muss nicht bestätigt oder wahrscheinlich sein
Partielles Fetales Alkoholsyndrom (pFAS)
  • Kein Kriterium notwendig
  • Mind. 2 Kriterien erfüllt
  • Mind. 3 Kriterien erfüllt
  • Muss nicht bestätigt, aber mind. wahrscheinlich sein
Alkoholbedingte entwicklungsneurologische Störung (ARND)
  • Kein Kriterium notwendig
  • Kein Kriterium notwendig
  • Mind. 3 Kriterien erfüllt
  • Muss bestätigt sein

Für die Diagnosen FAS und pFAS muss der pränatale Alkoholkonsum nicht bestätigt sein!

Bei Wachstumsauffälligkeiten [4]

Bei fazialen Auffälligkeiten [4]

Bei ZNS-Auffälligkeiten [4]

AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Da der FASD eine alkoholtoxische und biologisch irreparable Gehirnschädigung zugrunde liegt, ist eine Kausaltherapie nicht möglich. Um eine möglichst gute Alltagsfunktionalität und Lebensqualität zu erreichen, sollte hauptsächlich funktionell therapiert werden. Unterstützend kann eine medikamentöse Behandlung erwogen werden.

Funktionell [15][16][17][18][19][20]

Medikamentös [21]

  • Therapie zur Verbesserung der Aufmerksamkeit, Konzentration, teils auch der Impulsivität und Hyperaktivität

Persistenz der Symptome

Aufgrund der irreversiblen gehirntoxischen Schädigung können Defizite bis ans Lebensende persistieren.

Persistierende Symptome und Auffälligkeiten der Fetalen Alkoholspektrumstörung
Wachstumsauffälligkeiten [22]
Faziale Auffälligkeiten [22]
  • Schmale Oberlippe (ca. 92%)
  • Flaches Mittelgesicht (ca. 46%)
ZNS-Auffälligkeiten [22][23]
  • Strukturell: Mikrozephalie (ca. 49%)
  • Funktionell
    • Sehr häufig Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen
    • Reduzierte Aufmerksamkeit
    • Störungen des Verhaltens und der Kognition
    • Intelligenzminderung
    • Schulbildung und Arbeit
      • Häufig Förderschule
      • Meist keine abgeschlossene Berufsausbildung und keine langfristige Beschäftigung (ca. 86%)
    • Eingeschränkte Selbstständigkeit (ca. 70%)
Psychische Auffälligkeiten [24][25][26]

Ca. 70% aller Erwachsenen mit FASD sind im Alltag auf Hilfe angewiesen!

Protektive Faktoren [1][27]

  • Frühe Diagnose (<6 Jahren)
  • Stabiles, förderndes Umfeld
  • Gewaltfreie Kindheit

Ziel der präventiven Maßnahmen ist die Vermeidung der FASD durch möglichst vollständige Alkoholabstinenz während der gesamten Schwangerschaft.

Universelle Prävention [28]

  • Zielgruppe: Gesamte Bevölkerung
  • Maßnahme: Aufklärung über Alkoholkonsum und die FASD
  • Beispiele
    • Pädagogische Projekte an Schulen
    • Öffentliche Ausstellungen
    • Hinweise auf alkoholischen Getränken
    • Aufklärungskampagnen, die sich insb. an Schwangere richten
  • Projekte siehe: Tipps & Links

Durch universelle Prävention soll die FASD bereits vor Entstehung einer potenziellen Risikosituation vermieden werden!

Selektive und indizierte Prävention [28]

  • Zielgruppe
  • Anlaufstellen
    • Gesundheitspersonal
    • Gesundheitsämter
    • Schwangeren- und Familienberatungsstellen
    • Erziehungs- und Suchtberatungsstellen
    • Frühförderstellen und Jugendämter
    • Mütter- und Familienzentren

Selektive und indizierte Prävention setzen die Identifikation von Risikofaktoren voraus (siehe: Ätiologie der FASD)!

Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.

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  3. May et al.: Prevalence of Children with Severe Fetal Alcohol Spectrum Disorders in Communities Near Rome, Italy: New Estimated Rates Are Higher than Previous Estimates In: International Journal of Environmental Research and Public Health. Band: 8, Nummer: 6, 2011, doi: 10.3390/ijerph8062331 . | Open in Read by QxMD p. 2331-2351.
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