Zusammenfassung
Kongenitale Anomalien der Nieren und ableitenden Harnwege (CAKUT ) sind die häufigste Ursache für ein Nierenversagen im Kindes- und Jugendalter. Eine embryonale Entwicklungsstörung der Nierenanlage führt dabei zu einer Vielzahl unterschiedlicher Krankheitsbilder wie bspw. Nierenagenesie, -dysplasie und -hypoplasie, Doppelnieren und Anomalien der ableitenden Harnwege. Dabei kommen die Anomalien isoliert oder kombiniert vor und treten in etwa einem Drittel der Fälle im Rahmen von Syndromen auf, die auch andere Organsysteme betreffen. Die Diagnosestellung erfolgt je nach Ausprägung pränatal bis ins frühe Erwachsenenalter, i.d.R. mittels Sonografie, Miktionszystourethrografie (MCU), Miktionsurosonografie (MSU) und Nierenszintigrafie, ggf. erfolgt ein MRT. Die genetische Diagnostik ist bei V.a. ein übergeordnetes Syndrom oder eine familiäre Form indiziert. Die Therapie richtet sich nach dem Krankheitsbild und dessen Ausprägung und hat den Erhalt der Nierenfunktion sowie die Prävention von Harnwegsinfektionen zum Ziel.
Definition
- CAKUT
- Akronym: Congenital Anomalies of the Kidney and Urinary Tract
- Übersetzung: Kongenitale Anomalien der Nieren und ableitenden Harnwege
- Definition: Heterogene Gruppe angeborener Fehlbildungen der Nieren und ableitenden Harnwege
- Mögliche Folge: Eingeschränkte Nierenfunktion
Epidemiologie
- Prävalenz: 3–9:1000 Neugeborene
- Häufigste Ursache für ein Nierenversagen bis zum 30. Lebensjahr
- Ca. 50% der Nierenversagen im Kindes- und Jugendalter
- Ca. 10% der Nierenversagen mit Beginn im Erwachsenenalter
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Multifaktorielle Genese [1]
- Umwelt
-
Genetik
- Monogenetisch: 10–20%
- Polygenetisch: 5–10%
- In 85% der Fälle sporadisches Auftreten, in 15% familiäre Häufung [1][2]
Pathophysiologie
- Gestörte Differenzierung des Metanephros oder gestörte Interaktion von Ureterknospe und Blastemkappe
- Siehe auch: Entwicklung der Niere
-
Phänotyp variiert je nach Zeitpunkt der embryonalen Entwicklungsstörung
- Störung der Ureterknospeninduktion → Nierenagenesie oder Dopplungsfehlbildung der Niere
- Wachstumsstörung von Ureter und metanephrogenem Mesenchym → Nierenhypoplasie
- Störung der Nephrogenese → Nierendysplasie
Klassifikation
Kongenitale Anomalien der Nieren und ableitenden Harnwege – Übersicht möglicher Phänotypen [2][3] | |||
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Phänotyp | Beschreibung | ||
Nierenagenesie |
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Nierenhypoplasie |
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Nierendysplasie | Multizystische Nierendysplasie (Potter II) |
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Zystische Nierendysplasie bei fetaler Obstruktion des unteren Harntrakts (Potter IV) |
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Nierendystopie/Nierenektopie |
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Hufeisenniere |
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Doppelniere | Pelvis bifidus |
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Ureter fissus |
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Ureter duplex |
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Ureterabgangsstenose |
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Primärer Megaureter |
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Primärer vesikoureteraler Reflux | |||
Posteriore Harnröhrenklappen |
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Blasenekstrophie |
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Blasenagenesie |
Meyer-Weigert-Regel: Bei Ureter duplex mündet der Harnleiter für die kraniale Nierenanlage immer kaudal des Harnleiters für die untere Nierenanlage in die Harnblase!
Die verschiedenen Phänotypen können sowohl isoliert als auch in Kombination auftreten! In einem Drittel der Fälle sind zusätzlich andere Organsysteme betroffen!
Hufeisenniere
- Definition: Verwachsung beider Nieren am Unterpol
- Häufigkeit: 1:400 Neugeborene
- Symptomatik
- Häufig keine Symptome
-
Harnabflussstörungen der Niere möglich
- Ggf. rezidivierende Harnwegsinfekte, Hypertonie
- Diagnostik
- Sonografie der Niere: Fehllage der Niere, ggf. Darstellung der Konfluenz
- Miktionszystourethrografie: Nieren liegen medial, mögliche Harnabflussstörung
- Szintigrafie der Niere: Hufeisenform der Niere
- Therapie
- Meist keine Therapie notwendig
- Bei relevanter Harnabflussstörung mit Komplikationen: Evtl. OP
Symptomatik
- Pränatal: Hydronephrose und/oder Oligohydramnion durch pränatale Nierenfunktionseinschränkung; Potter-Sequenz [1]
- Postnatal: Je nach Phänotyp und Ausprägung bspw.
Diagnostik
- Sonografie von Niere und Harnblase: Anatomische Verhältnisse
- Miktionszystourethrografie (MCU) oder Miktionsurosonografie (MSU): VUR, Urethralklappen
- Nierenszintigrafie: Nierenfunktion
- Ggf. Kontrastmittel-MRT des Abdomens mit Darstellung der ableitenden Harnwege: Anatomische und funktionelle Verhältnisse
- Ggf. genetische Untersuchung
Die Diagnosestellung erfolgt je nach Ausprägung pränatal oder im frühen Kindes- bis ins frühe Erwachsenenalter!
Differenzialdiagnosen
Ren mobilis
- Synonyme: Wanderniere, Senkniere, Nephroptose
- Definition: Übermobilität der Niere
- Ätiologie: Absinken der Niere aufgrund einer verminderten renalen Fettkapsel → Minderperfusion der Niere und/oder passagere Harnabflussstörung (v.a. im Stehen)
- Symptomatik
- Schmerzen in der Flanke und im Unterbauch im Stehen (Senkung mit Schmerzen durch Zug)
- Schmerzrückbildung im Liegen
- Diagnostik: Im Stehen und Liegen
- Therapie
- Konservativ: Training der Bauchmuskulatur und Anpassung eines stabilisierenden Korsetts
- Operativ: Laparoskopische Nephropexie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Abhängig vom Phänotyp bzw. der Ausprägung
- Ziele
- Prävention von Harnwegsinfektionen
- Möglichst langer Erhalt der Nierenfunktion
- Regelmäßige Kontrollen mittels Urin-Stix und Blutdruckmessung, ggf. Sonografie
- Bei vesikoureteralem Reflux (VUR): Siehe Vesikoureteraler Reflux - Therapie
- Bei Harnröhrenklappen: Resektion
- Bei Nierenversagen: Nierenersatztherapie mittels Dialyse oder Transplantation
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- Q60.-: Nierenagenesie und sonstige Reduktionsdefekte der Niere
- Inklusive: Angeborenes Fehlen der Niere, Nierenatrophie (angeboren, infantil)
- Q60.0: Nierenagenesie, einseitig
- Q60.1: Nierenagenesie, beidseitig
- Q60.2: Nierenagenesie, nicht näher bezeichnet
- Q60.3: Nierenhypoplasie, einseitig
- Q60.4: Nierenhypoplasie, beidseitig
- Q60.5: Nierenhypoplasie, nicht näher bezeichnet
- Q60.6: Potter-Syndrom
- Q63.-: Sonstige angeborene Fehlbildungen der Niere
- Exklusive: Angeborenes nephrotisches Syndrom (N04.‑)
- Q63.0: Akzessorische Niere
- Q63.1: Gelappte Niere, verschmolzene Niere und Hufeisenniere
- Q63.2: Ektope Niere
- Angeborene Nierenverlagerung, Malrotation der Niere
- Q63.3: Hyperplastische Niere und Riesenniere
- Q63.8: Sonstige näher bezeichnete angeborene Fehlbildungen der Niere
- Angeborene Nierensteine
- Q63.9: Angeborene Fehlbildung der Niere, nicht näher bezeichnet
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.