Zusammenfassung
Da es keine allgemeingültige Norm für Sexualität gibt, definiert sich eine sexuelle Funktionsstörung subjektiv durch den persönlichen Leidensdruck, der durch unbefriedigendes Erleben entsteht. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität kann dabei erheblich sein und das Ausmaß chronischer Krankheiten erreichen.
Bei Frauen äußern sich sexuelle Funktionsstörungen v.a. als vermindertes sexuelles Verlangen, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Orgasmusprobleme. Bei Männern sind die erektile Störung, deren Häufigkeit mit dem Alter stark zunimmt, sowie Ejakulationsstörungen wie der vorzeitige Samenerguss am weitesten verbreitet.
Die Ursachen sind vielfältig und reichen von psychischen Faktoren wie Stress, Angst oder Depression über Beziehungsprobleme bis hin zu organischen Erkrankungen wie Diabetes mellitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Eine umfassende Anamnese und körperliche Untersuchung bilden die Basis der Diagnostik. Die Behandlung richtet sich nach der Ursache und kombiniert oft psychosoziale Interventionen wie Paar- oder Sexualtherapie mit spezifischen medizinischen Ansätzen. Dazu gehören bei Männern bspw. PDE-V-Hemmer, während bei Frauen je nach Störung bspw. Beckenbodentraining Linderung verschaffen kann.
Allgemeine Informationen zu physiologischen Abläufen und Regelkreisen finden sich in den Grundlagenkapiteln Sexualität und Sexualmedizin, Penis, Erektion und Ejakulation und Sexualhormone.
Definition
Allgemeine diagnostische Kriterien nach DSM-5
- Symptome seit ≥6 Monaten
- Klinisch signifikanter Leidensdruck
- Keine andere Ursache
Weibliche sexuelle Funktionsstörungen
Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens der Frau [2]
- Fehlen oder Verminderung von ≥3 der folgenden Kriterien
- Interesse an sexueller Aktivität
- Sexuelle Gedanken oder Fantasien
- Initiierung oder Teilnahme an sexuellen Aktivitäten
- Sexuelle Erregung/Lust bei ≥75% der sexuellen Begegnungen
- Sexuelle Erregung auf sexuelle Reize
- Genitale oder nicht-genitale sexuelle Empfindungen bei ≥75% der sexuellen Begegnungen
Genitopelviner Schmerz (Penetrationsstörung)
- Anhalten oder Wiederkehren von ≥1 der folgenden Kriterien
- Schwierigkeiten bei der vaginalen Penetration beim Geschlechtsverkehr
- Starke vulvovaginale oder pelvine Schmerzen beim vaginalen Geschlechtsverkehr oder dessen Versuch
- Starke antizipatorische Angst in Bezug auf vulvovaginale oder pelvine Schmerzen
- Starke Anspannung der Beckenbodenmuskulatur beim Versuch der vaginalen Penetration
Weibliche Orgasmusstörung
- Auftreten von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen
- Stark verzögerter, seltener oder ausbleibender Orgasmus
- Reduzierte Intensität der Orgasmusempfindung
Männliche sexuelle Funktionsstörungen
- Physiologische Erektion (Exkurs)
- Reflexogene Erektion: Größtenteils von kortikalen Wirkungen gelöst – Verlauf in folgenden Schritten: Stimulation des Genitals → Afferenzen über den N. pudendus → Sakrales Erektionszentrum S2–S4 (Parasympathikus) → Plexus hypogastricus inferior → Efferenzen aus dem Plexus führen zur Erektion → Glattmuskuläre Relaxation der Schwellkörpermuskulatur → Vasodilatation → Vermehrter Bluteinstrom → Erektion (vorwiegend Corpora cavernosa ursächlich)
- Psychogene Erektion: Kortikale Stimulation über visuelle, akustische und sensible Reize oder Fantasie → Beeinflussung des sakralen Erektionszentrums S2–S4 → Plexus hypogastricus inferior → Efferenzen aus dem Plexus führen zur Erektion → Glattmuskuläre Relaxation der Schwellkörpermuskulatur → Vasodilatation → Vermehrter Bluteinstrom → Erektion (hauptsächlich Corpora cavernosa ursächlich)
Bei Verletzungen des zervikalen oder thorakalen Rückenmarks kann eine reflexogene Erregung weiter möglich sein!
Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens des Mannes [2]
- Anhalten oder Wiederkehren von ≥1 der folgenden Kriterien
- Mangel oder Fehlen sexueller Gedanken
- Mangel oder Fehlen des Verlangens nach sexueller Aktivität
Erektile Störung oder Dysfunktion (Impotentia coeundi) [3]
- Auftreten von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen
Ejakulationsstörungen
- Vorzeitige Ejakulation (Ejaculatio praecox)
- Anhalten oder Wiederkehren von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen
- Ejakulation innerhalb von 1–2 Minuten nach dem Eindringen [1][4]
- Ejakulation, bevor die Person ejakulieren möchte
- Anhalten oder Wiederkehren von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen
- Verzögerte Ejakulation (Ejaculatio retarda)
- Auftreten von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen mit adäquater sexueller Stimulation und dem Wunsch zu ejakulieren
- Keine Ejakulation möglich
- Unregelmäßige Ejakulation
- Exzessive Latenz der Ejakulation
- Auftreten von ≥1 der folgenden Kriterien bei ≥75% aller sexuellen Begegnungen mit adäquater sexueller Stimulation und dem Wunsch zu ejakulieren
Epidemiologie
- Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens der Frau
- Prävalenz: 6–32% (nimmt mit dem Alter zu) [2]
- Altersgipfel: Mittleres Lebensalter
- Genitopelviner Schmerz (Penetrationsstörung): 8–28% der sexuell aktiven Frauen [5][6][7][8]
- Weibliche Anorgasmie mit Leidensdruck [2]
- <40 Jahre: 7–8%
- 40–64 Jahre: 5–7%
- >64 Jahre: 3–6%
- Erektile Störung [9]
- Prävalenz
- <40 Jahre: <10% [9]
- 30–80 Jahre: 13–71% (nimmt mit dem Alter zu) [9][10][11]
- Prävalenz
- Ejakulationsstörungen [4]
- Prävalenz (geschätzt): <5%
- Hohe Dunkelziffer vermutet
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Allgemeine Faktoren [2][4][9][12]
- Anamnestisch, z.B.
- Negatives Körperbild, geringes Selbstwertgefühl
- Trauer, Stressoren
- Beziehung und Partnerschaft
- Psychiatrische Komorbiditäten
- Nicht-psychiatrische Erkrankungen und Lebensstil, z.B.
- Diabetes mellitus
- Tabakkonsum
- Unzureichende körperliche Bewegung
- Kulturelle oder religiöse Faktoren
- Anamnestisch, z.B.
- Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens der Frau [2]
- Hormonelle Faktoren (insb. niedrige Östrogenlevel, bspw. nach der Menopause)
- Endokrine Störungen: Diabetes mellitus, adrenale Insuffizienz, PCOS
- Chronische Begleiterkrankungen
- Psychosoziale und interpersonelle Faktoren
- Medikamente: Kombinierte orale Kontrazeptiva, Antidepressiva, kardiale und blutdrucksenkende Medikamente
- Alkohol oder andere psychoaktive Substanzen
- Genitopelviner Schmerz der Frau
- Erektile Störung [9][11][12]
- Primär organisch
- Vaskulär: Atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankung , oft bei Hyperlipidämie
- Neurogen
- Rückenmarksverletzung
- Parkinson-Krankheit
- Multiple Sklerose
- Polyneuropathie
- Schlafapnoe
- Endokrinologisch: Hypogonadismus
- Medikamente: Neuropsychiatrische Medikamente, 5α-Reduktase-Hemmer
- Alkohol oder andere psychoaktive Substanzen
- Posttraumatisch, -operativ, -radiogen
- Induratio penis plastica
- Primär psychogen: Stress, Angst und Depression
- Primär organisch
- Vorzeitige Ejakulation [4]
- Assoziiert mit
- Urogenitaler Infektion, insb. Prostatitis
- Hyperglykämie
- Erhöhtem Serumtestosteron
- Hyperthyreose
- Erektiler Störung
- Primär psychogen: Angst, Beziehungsprobleme, unregelmäßiger Geschlechtsverkehr, sexueller Missbrauch in der Vorgeschichte, verminderte Fähigkeit zur emotionalen Intimität
- Assoziiert mit
- Verzögerte Ejakulation, assoziiert mit [4]
- Neuropathie
- Metabolischen Störungen
- Traumen (Becken, Nervensystem)
- Niedrigem Testosteronspiegel
Diagnostik
Allgemein
- Anamnese: Medizinisch, sexuell und psychosozial
- Körperliche Untersuchung [4][12]
- Vitalzeichen
- BMI
- Genitale Untersuchung: Inspektion auf Hautläsionen und Lageanomalien, Untersuchung der Brust
- Neurologische Untersuchung [11]
- Validierter Fragebogen: Sexual Desire Inventory-2 (SDI-2)
Weibliche sexuelle Funktionsstörungen
- Menstruationsanamnese
- Gynäkologische Untersuchung
- Laborchemie: Hormonstatus [2]
Männliche sexuelle Funktionsstörungen
Erektile Störung oder Dysfunktion [9][12]
- Körperliche Untersuchung
- Validierte Fragebögen
- International Index of Erectile Dysfunction (IIEF oder IIEF-5)
- Erection Hardness Scale (EHS)
- Sexual Health Inventory for Men (SHIM)
- Laborchemie
- Endokrinologie: Testosteron , Prolaktin
- Screening auf Komorbiditäten: Glucosestoffwechsel, Lipidprofil, Leberenzyme, Serumkreatinin
- Spezialisierte Diagnostik
- Nocturnale Tumeszenz-Messung (Messung spontaner nächtlicher Erektionen): Differenzierung organischer und psychogener Genesen
- Vaskuläre Bildgebung
- Penile Duplexsonografie, ggf. in Kombination mit SKIT
- Kavernosometrie
- Selektive interne Pudendus-Angiografie
Ejakulationsstörungen [4]
- Spezialisierte Diagnostik bei vorzeitiger Ejakulation
- Ggf. Laborchemie: Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse
- Ggf. Screening auf Komorbiditäten: Schilddrüsenfunktion, Glucosestoffwechsel, chronisches pelvines Schmerzsyndrom des Mannes, Prostatitis [4]
Bei Verletzungen des zervikalen oder thorakalen Rückenmarks kann eine reflexogene Erregung weiter möglich sein!
Ein plötzlicher Beginn, situative Variabilität oder nächtliche Erektionen deuten auf eine psychogene Ätiologie hin!
Eine erektile Störung kann ein früher Indikator für eine zugrunde liegende Herz-Kreislauf-Erkrankung sein!
Therapie
Allgemein
- Lebensstiländerungen [2][9][11][12]
- Basisinterventionen: Aufklärung, Sexualberatung [13]
- Sexualpsychotherapie [13]
- Sensualitätstraining
- Rekonditionierung sexueller Erregung
- Partnerschaftstherapie
- Individuelle Psychotherapie
Weibliche sexuelle Funktionsstörungen [2]
- Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens der Frau
- In Deutschland keine zugelassene medikamentöse Therapie
- Genito-pelvine Schmerz-Penetrations-Störung
- Spezielle Physiotherapie: Beckenbodenentspannungstraining oder Benutzung von Vaginaldilatatoren , siehe auch: Therapie der Vulvodynie
- Gleit- und Feuchtigkeitsmittel
- Bei postmenopausalen Frauen mit mittelschweren bis schweren Symptomen: Östrogencreme, Prasteron
- Weibliche Orgasmusstörung: Sexuelle Hilfsmittel (bspw. für bessere klitorale Stimulation)
Männliche sexuelle Funktionsstörungen [9][12]
- Hypoaktive Störung des sexuellen Verlangens beim Mann: Ggf. hormonelle Kausaltherapie (Testosteron)
- Erektile Störung
- Sexualpsychotherapie: Teasing [13]
- Mittel der 1. Wahl: Orale Pharmakotherapie
- Orale Phosphodiesterase-V-Hemmer (z.B. Sildenafil)
- Ggf. zusätzlich hormonelle Kausaltherapie
- Lokale Pharmakotherapie mit Prostaglandin E1 (Alprostadil)
- Corpora cavernosa: Schwellkörper-Autoinjektionstherapie (SKAT/ICI) [11]
- Intraurethral: MUSE
- Mechanische Hilfsmittel
- Konstriktionsvorrichtung
- Unterdruckpumpe: Hohlzylinder mit Vakuumpumpe
- Operative Therapie: Penisprothese, bspw. aus folgenden Bestandteilen
- Penil eingesetzte Schwellkörperimplantate
- Skrotal eingesetzte Pumpe
- Flüssigkeitsreservoir im Unterbauch
- Weitere Verfahren: Stoßwellentherapie niedriger Intensität (LiSWT)
- Vorzeitige Ejakulation [4]
- Sexualpsychotherapie: Squeezing [13]
-
Off-Label: Medikamentöse Therapie
- Täglich (höhere Wirksamkeit): SSRIs oder Clomipramin (Trizyklikum) oder
- Bei Bedarf 3–6 h vor Geschlechtsverkehr (mäßige Wirksamkeit): Dapoxetin oder Clomipramin (Trizyklikum)
- Topische Anästhetika : Lidocain, Prilocain
- Verzögerte Ejakulation [4]
- Ggf. auslösende Medikamente anpassen oder absetzen
- Ggf. hormonelle Kausaltherapie (Testosteron)
- Evtl. komorbide erektile Störung behandeln
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- F52.-: Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit
- F52.0: Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen
- Der Verlust des sexuellen Verlangens ist das Grundproblem und beruht nicht auf anderen sexuellen Störungen wie Erektionsstörungen oder Dyspareunie.
- Inklusive: Frigidität, sexuelle Hypoaktivität
- F52.1: Sexuelle Aversion und mangelnde sexuelle Befriedigung
- Entweder ist der Bereich sexueller Partnerbeziehungen mit so großer Furcht oder Angst verbunden, dass sexuelle Aktivitäten vermieden werden (sexuelle Aversion) oder sexuelle Reaktionen verlaufen normal und ein Orgasmus wird erlebt, aber ohne die entsprechende Lust daran (Mangel an sexueller Befriedigung).
- Inklusive: Sexuelle Anhedonie
- F52.2: Versagen genitaler Reaktionen
- Das Hauptproblem ist bei Männern die Erektionsstörung (Schwierigkeit, eine für einen befriedigenden Geschlechtsverkehr notwendige Erektion zu erlangen oder aufrecht zu erhalten). Bei Frauen ist das Hauptproblem mangelnde oder fehlende vaginale Lubrikation.
- Erektionsstörung (beim Mann)
- Psychogene Impotenz
- Störung der sexuellen Erregung bei der Frau
- Exklusive: Impotenz organischen Ursprungs (N48.4)
- Das Hauptproblem ist bei Männern die Erektionsstörung (Schwierigkeit, eine für einen befriedigenden Geschlechtsverkehr notwendige Erektion zu erlangen oder aufrecht zu erhalten). Bei Frauen ist das Hauptproblem mangelnde oder fehlende vaginale Lubrikation.
- F52.3: Orgasmusstörung
- Der Orgasmus tritt nicht oder nur stark verzögert ein.
- Inklusive: Gehemmter Orgasmus (weiblich) (männlich), psychogene Anorgasmie
- F52.4: Ejaculatio praecox
- Unfähigkeit, die Ejakulation ausreichend zu kontrollieren, damit der Geschlechtsverkehr für beide Partner befriedigend ist.
- F52.5: Nichtorganischer Vaginismus
- Spasmus der die Vagina umgebenden Beckenbodenmuskulatur, wodurch der Introitus vaginae verschlossen wird. Die Immission des Penis ist unmöglich oder schmerzhaft.
- Inklusive: Psychogener Vaginismus
- Exklusive:Vaginismus (organisch)
- F52.6: Nichtorganische Dyspareunie
- Eine Dyspareunie (Schmerzen während des Sexualverkehrs) tritt sowohl bei Frauen als auch bei Männern auf. Sie kann häufig einem lokalen krankhaften Geschehen zugeordnet werden und sollte dann unter der entsprechenden Störung klassifiziert werden. Diese Kategorie sollte nur dann verwendet werden, wenn keine andere primäre nichtorganische Sexualstörung vorliegt (z.B. Vaginismus oder mangelnde/fehlende vaginale Lubrikation).
- Inklusive: Psychogene Dyspareunie
- Exklusive: Dyspareunie (organisch)
- F52.0: Mangel oder Verlust von sexuellem Verlangen
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.