Zusammenfassung
Müdigkeit ist ein weit gefasster Begriff für eine subjektive Beeinträchtigung, die sich bspw. als Schläfrigkeit, Erschöpfung, Energiemangel, Schlappheit oder rasche Ermüdbarkeit äußern kann. Physiologischerweise weist sie darauf hin, dass eine Person Erholung und Schlaf benötigt. Kann die Müdigkeit jedoch nicht hinreichend erklärt oder durch Ruhephasen reduziert werden, wird sie oft als pathologisch wahrgenommen und ist ein häufiger Vorstellungsgrund in der hausärztlichen Praxis. Es sollte bedacht werden, dass Müdigkeit i.d.R. multifaktoriell und in den meisten Fällen durch psychosoziale Faktoren (chronischer Schlafmangel, Stress) sowie psychische Erkrankungen (Depression, Angststörung) bedingt ist. Daher sollte immer ein biopsychosozialer Ansatz verfolgt und unnötige (Labor‑)Diagnostik vermieden werden. Bei Müdigkeit ohne zugrunde liegende organische oder psychische Erkrankung stehen allgemeine Maßnahmen zur Stressreduktion und Steigerung der körperlichen Aktivität im Vordergrund.
Definition
- Nach ICD-11 : Gefühl verringerter Wachsamkeit und geistiger Leistungsfähigkeit, teils mit Einschlafneigung
- Nach DEGAM-Leitlinie „Müdigkeit“ [1]
- Vielfältiges, subjektives Empfinden, das Betroffene auf unterschiedliche Weise beschreiben, z.B. als
- Schläfrigkeit, Einschlafneigung am Tag
- Erschöpfung, Energiemangel, Schlappheit, Fatigue
- Rascher Ermüdbarkeit
- Bedeutung
- Primär physiologisch
- Wird als pathologisch gewertet, wenn Beeinträchtigung
- Nicht angemessen erklärt werden kann
- Nicht mehr kompensiert/hingenommen werden kann
- Dauer >6 Monate: Chronische Müdigkeit [1]
- Vielfältiges, subjektives Empfinden, das Betroffene auf unterschiedliche Weise beschreiben, z.B. als
Epidemiologie
- Müdigkeit als Beratungsanlass in der hausärztlichen Praxis [1]
- Hauptanlass: Ca. 1–10%
- Haupt- und/oder Nebenanlass: Ca. 20–30%
- Häufiger betroffen, u.a. [1]
- Frauen
- Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status
- Personen mit geringer körperlicher Aktivität
Müdigkeit ist ein sehr häufiges Symptom und zählt weltweit zu den 10 häufigsten Beratungsanlässen in der Primärversorgung!
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Häufige Ursachen [1][2][3]
- Psychosoziale Faktoren
- Allgemeine Belastungssituation, bspw.
- Beruflich: Unsichere Arbeitsverhältnisse, Über-/Unterforderung am Arbeitsplatz, schwierige Arbeitsbedingungen
- Privat: Pflege von Angehörigen, familiäre Belastungen, finanzielle Sorgen
- Chronischer Schlafmangel, bspw.
- Beruflich: Arbeitszeiten entgegen dem individuellen Biorhythmus (insb. Schichtarbeit)
- Privat: Aktivitäten bis in den späten Abend, nächtliche Lärmbelästigung
- Allgemeine Belastungssituation, bspw.
- Psychische Erkrankungen, insb.
- Schlaf-Wach-Störungen, bspw.
Müdigkeit ist i.d.R. multifaktoriell bedingt. Zu den häufigsten Ursachen zählen psychosoziale Belastungsfaktoren und psychische Erkrankungen!
Bei ca. 18,5% der Personen, die sich wegen Müdigkeit in der hausärztlichen Praxis vorstellen, liegt eine Depression oder Angststörung vor!
Weitere Ursachen (Auswahl) [1][3]
- Infektionen (infektassoziiert/postinfektiös), u.a.
- EBV-Infektion
- Virale Atemwegsinfekte
- Hepatitis
- Endokrine Ursachen, u.a.
- Im Rahmen chronischer Grunderkrankungen, u.a.
- Herzinsuffizienz
- Diabetes mellitus
- Chronische Nierenerkrankung
- Rheumatologische Erkrankungen
- Neurologische Erkrankungen
- Weitere Ursachen
- Eisenmangel-/Anämie
- Malignome
- Funktionelle Syndrome, bspw.
- Zöliakie
- Medikamenteneinnahme und Störungen durch Substanzgebrauch (insb. Alkohol)
- Flüssigkeitsmangel (insb. bei älteren Personen) [2]
- Z.n. OP / intensivmedizinischer Behandlung
- Vitamin-B12-Mangel
Müdigkeit ist eher selten das einzige Symptom. Meist ergeben sich weitere anamnestische oder klinische Hinweise!
Diagnostisches Vorgehen
Allgemeine Hinweise zum Vorgehen bei Müdigkeit [1]
- Tragfähige Beziehung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen aufbauen
- Aktiv und empathisch explorieren
- Glaubwürdigkeit der Symptomatik bestätigen
- Biopsychosoziales Modell verfolgen
- Somatische Fixierung vermeiden
- Praxistipp: Erklären, dass auch organische Erkrankungen psychosoziale Komponenten haben
- Vermeidung möglicher Fallstricke
- Chronische organische oder psychische Grunderkrankung i.d.R. nicht alleinige Erklärung für bestehende Müdigkeit
- Auffälliger (Labor‑)Befund nicht immer (alleine) ursächlich für Müdigkeit
Anamnese [1]
- Symptomorientierte Anamnese
- Qualitative Komponenten der Müdigkeit
- Beginn und zeitlicher Verlauf
- Begleitsymptome
- Einschränkungen der Alltagsaktivitäten
- Schlafverhalten (siehe auch: Diagnostik bei Insomnie)
- Bei V.a. obstruktive Schlafapnoe: Ggf. Anwendung des STOP BANG oder GOAL-Fragebogens
- Körperliche Aktivität und Belastbarkeit
- Individuelles Krankheitsmodell erfragen
- Psychosoziale Anamnese
- Soziales Umfeld, familiäre und berufliche Situation
- Gezieltes Fragen nach Stressoren und Resilienzfaktoren
- Soziales Umfeld, familiäre und berufliche Situation
- Screening auf psychische Störungen
- Angststörungen
- Gab es in den vergangenen 4 Wochen Phasen, in denen Sie sich
- Viele Sorgen gemacht haben?
- Innerlich angespannt, ängstlich oder emotional aus dem Gleichgewicht gebracht gefühlt haben?
- Haben Sie in den letzten 4 Wochen Panikattacken erlebt?
- Siehe auch: Diagnostik bei Angststörungen
- Gab es in den vergangenen 4 Wochen Phasen, in denen Sie sich
- Depression, siehe:
- Angststörungen
- Weiteres, u.a.
- Vorerkrankungen, Familienanamnese
- Medikamenteneinnahme
- Ernährung, Gewichtsverlauf
- Suchtanamnese
Die Ursachenabklärung bei Müdigkeit sollte sich auf häufige und potenziell gefährliche Ursachen konzentrieren! Da letztere jedoch selten sind, sollte eine somatische Fixierung vermieden und stets ein biopsychosoziales Modell verfolgt werden.
Basisdiagnostik [1]
Körperliche Untersuchung
- Internistische Untersuchung
- Inspektion von Haut und Schleimhäuten
- Puls- und Blutdruckmessung
- Auskultation von Herz und Lunge
- Untersuchung des Abdomens
- Palpation von Lymphknoten
- Orientierende neurologische Untersuchung: Insb. orientierende Prüfung der Hirnnerven und der groben Kraft
Labordiagnostik
- Differenzialblutbild
- Blutzucker
- BSG/CRP
- Transaminasen oder γGT
- TSH
- Bei Frauen im gebärfähigen Alter: Ggf. Ferritin
- Bei Symptomen/Risikofaktoren einer Nierenkrankheit : Kreatinin
Die Laborwerte sollten mit Vorsicht interpretiert werden – nicht immer ist ein auffälliger Wert auch die kausale Erklärung für die Müdigkeit! [1]
Gibt es in Anamnese und Basisdiagnostik keine relevanten Auffälligkeiten, sind organische Erkrankungen als Ursache der Müdigkeit sehr unwahrscheinlich! Zusätzliche Untersuchungen sollten nur in begründeten Verdachtsfällen erfolgen! [3]
Therapie
Allgemein [1]
- Beachte: Allgemeine Hinweise zum Vorgehen bei Müdigkeit
- Bei spezifischer Ursache
- (Optimierung der) Therapie der Grunderkrankung
- Ggf. in Kombination mit Verhaltenstherapie und/oder aktivierenden Maßnahmen (s.u.)
- Bei ungeklärter Ursache (und/oder Hinweisen auf psychosoziale Belastungen)
- Prinzip des „abwartenden Offenhaltens“ mit Vereinbarung fester Termine (bspw. alle 4–6 Wochen)
- Ggf. Führen eines Symptomtagebuchs für gezielteren Therapieansatz
- Ggf. Verhaltenstherapie und/oder aktivierende Maßnahmen (s.u.)
- Motivation zu gesunder Lebensführung
- Ausgewogene Ernährung
- Gewichtsabnahme bei Übergewicht [1]
- Bei Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit siehe auch: Therapie von Abhängigkeiten
- Maßnahmen zur Stressreduktion: Bspw. Entspannungsverfahren, Einhalten von Ruhephasen
Die hier aufgeführten Maßnahmen gelten nicht für das chronische Fatigue-Syndrom! Siehe hierzu: ME/CFS - Therapie.
Nicht-medikamentöse Therapie [1]
Aktivierende Maßnahmen
- Prinzip: Durchbrechen des Teufelskreises „Müdigkeit → Inaktivität (Dekonditionierung) → Körperliche Schwäche → Müdigkeit“
- Indikation
- Unklare, körperliche oder psychische Ursachen von Müdigkeit
- Ausnahme: (V.a.) ME/CFS
- Durchführung
- Setzen realistischer Aktivitätsziele
- Integration in den Alltag (bspw. 3×/Woche 30 min oder ein täglicher, zügiger Spaziergang)
- Effekt: Nachweisbare positive Effekte in allen „Ursachengruppen“ (außer ME/CFS)
Psychotherapie
- Verfahren: Insb. Verhaltenstherapie, u.a
- Ziel: Symptomlinderung und Verbesserung der Krankheitsbewältigung
Medikamentöse Therapie [1]
- Eisensubstitution: Verbesserung der Symptomatik möglich bei
- Personen mit Herzinsuffizienz
- Frauen im gebärfähigen Alter bei Ferritinwerten <15 μg/L oder Transferrinsättigung <20%
- Substitution von Vitaminen/Spurenelementen: Nur bei nachgewiesenem Mangel (bspw. Folsäuremangel, Vitamin-B12-Mangel)
Bei anhaltender, ungeklärter Müdigkeit über mind. 3 Monate sollten die ME/CFS-Kriterien geprüft werden! [1]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- R53: Unwohlsein und Ermüdung
- Inklusive: Allgemeiner körperlicher Abbau, Asthenie o.n.A., Fatigue, Lethargie, Müdigkeit, Schwäche: chronisch, Schwäche: o.n.A.
- Exklusive: Altersschwäche (R54), angeborene Schwäche (P96.9), Erschöpfung und Ermüdung (durch) (bei): Hitze (T67.‑), Kriegsneurose (F43.0), Neurasthenie (F48.0), Schwangerschaft (O26.88), übermäßige Anstrengung (T73.3), Witterungsunbilden (T73.2), chronisches Fatigue-Syndrom (G93.3)
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.