Abstract
Bei mehr als der Hälfte aller Neugeborenen entwickelt sich innerhalb der ersten Lebenswoche ein sichtbarer Ikterus. Häufig liegt dieser Gelbfärbung der Haut ein physiologischer Anstieg des Bilirubins zugrunde, der u.a. durch eine verminderte Lebensdauer der Erythrozyten und eine langsame Verstoffwechselung in der noch unreifen Leber bedingt ist. Ein Anstieg des Bilirubins über altersentsprechende Normwerte sollte jedoch rasch untersucht und ggf. therapiert werden: Einerseits müssen zugrundeliegende Pathologien identifiziert werden (z.B. Hämolyse, Stoffwechselerkrankungen, Infektionen), andererseits führen massiv erhöhte Bilirubinspiegel auch unabhängig von der Ursache zu gravierenden akuten und chronischen Schädigungen (z.B. Enzephalopathie).
Diagnostisch sollte die Blickdiagnose (Gelbfärbung) durch eine transkutane und eine genauere „blutige“ Bestimmung der Bilirubinkonzentration im Serum bestätigt werden. Je nach Höhe des Wertes ist dann eine Phototherapie indiziert, bei der durch blaues Licht das hydrophobe Bilirubin in eine wasserlösliche (über die Nieren ausscheidbare) Form überführt wird. Bei Therapieresistenz ist alternativ eine Austauschtransfusion mit Spenderblut zur Elimination des kumulierenden Stoffes zu erwägen.
Definition
Einteilung des Icterus neonatorum
- Physiologischer Neugeborenenikterus
- Zeitraum: 3.–10. Lebenstag (Maximum um den 5. Lebenstag)
- Asymptomatisch bis auf eine Gelbfärbung der Haut und/oder Skleren
- Höhe des Gesamtbilirubins: 5–15 mg/dL (bei reifgeborenem, gestilltem Kind)
- Pathologischer Ikterus
- Icterus praecox: Gesamtbilirubin >7 mg/dL innerhalb der ersten 24 Lebensstunden
- Icterus gravis: Gesamtbilirubin >15 mg/dL
- Icterus prolongatus: Erhöhte Bilirubinspiegel nach dem 10. Lebenstag
Epidemiologie
- Etwa 60% aller Neugeborenen werden innerhalb der 1. Lebenswoche sichtbar ikterisch
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Ursachen der physiologischen Hyperbilirubinämie
- 2- bis 3-fach höhere Bilirubinproduktion durch höhere Erythrozytenzahl und Hämoglobinkonzentration
- Kurze Lebensdauer der Erythrozyten des Neugeborenen
- Tiefstand des Hb-Wertes im 3. Lebensmonat (sog. Trimenonreduktion)
- Unzureichende Leberleistung beim Neugeborenen (Verstoffwechselung des Bilirubins verlangsamt)
- Gesteigerte Rückresorption im Darm (enterohepatischer Kreislauf)
Ursachen von pathologischen Hyperbilirubinämien
- Allgemein
- Kurze Gestationsdauer (<37+0 Schwangerschaftswochen)
- Geringe Nahrungszufuhr
- Ursachen für einen Anstieg des unkonjugierten Bilirubin
-
Bilirubin-Stoffwechselstörungen
- Hyperbilirubinämie-Syndrome (z.B. Crigler-Najjar-Syndrom oder Morbus Meulengracht)
- Glucuronyltransferase-Mangel
- Hämolyse
- Hypothyreose
- Medikamente
- Mangelernährung
- Muttermilchikterus
-
Bilirubin-Stoffwechselstörungen
- Ursachen für einen Anstieg des konjugierten Bilirubins
- Intrahepatische Pathologie
- Neonatale „idiopathische” Hepatitis
- Stoffwechselstörungen (z.B. Galactosämie, homozygoter α1-Antitrypsin-Mangel)
- Alagille-Syndrom
- Infektiöse Hepatitis
- Extrahepatisch
- Extrahepatische Gallengangsatresie
- Choledochuszyste (sonografische Abklärung)
- Intrahepatische Pathologie
Symptome/Klinik
- Physiologischer Neugeborenenikterus: Asymptomatisch
- Pathologische Hyperbilirubinämie
- Wird meist (durch Phototherapie) behandelt → Danach zumeist asymptomatisch
- Komplikationen (selten)
- Akute Bilirubinenzephalopathie: Diffusion von unkonjugiertem (lipophilem) Bilirubin ins ZNS, v.a. in die Basalganglien
- Fieber, schrilles Schreien
- Lethargie, muskuläre Hypotonie, Trinkschwäche
- Stupor, Apnoe, Krampfanfälle
- Kernikterus: Chronische Bilirubinenzephalopathie
- Zerebralparese, Hörstörung, vertikale Blickparese
- Evtl. Intelligenzminderung, Zahnschmelzdefekte
- Akute Bilirubinenzephalopathie: Diffusion von unkonjugiertem (lipophilem) Bilirubin ins ZNS, v.a. in die Basalganglien
Diagnostik
- Anamnese: Insb. Abfragen der Ergebnisse des Neugeborenenscreenings
- Basisdiagnostik
- Körperliche Untersuchung
- Transkutane Bilirubinbestimmung
- Labor: Bei erhöhten Werten der transkutanen Bilirubinmessung oder bei Ikterus innerhalb der ersten 24 Lebensstunden
- Gesamtbilirubin
- Konjugiertes/unkonjugiertes Bilirubin (siehe „Ätiologie“)
- Ggf. weitere Abklärung: Bei einem Bilirubinwert über der Phototherapiegrenze
- Labor
- Großes Blutbild (mit Retikulozyten)
- Blutgruppe
- Rhesusfaktor
- Direkter/indirekter Coombs-Test (siehe auch: Rhesus-Inkompatibilität)
- Entzündungsparameter
- Leberenzyme
- Gesamteiweiß, Albumin
- fT4
- Evtl. Bestimmung der G6PD-Aktivität (bei V.a. G6PD-Mangel)
- Labor
Die Diagnose eines physiologischen Neugeborenenikterus ist eine Ausschlussdiagnose! Bei deutlich vorhandener Hyperbilirubinämie müssen alle weiteren pathologischen Ursachen mittels Labordiagnostik ausgeschlossen werden!
Therapie
Phototherapie bei Neugeborenenikterus [1]
- Prinzip: Blaulicht (Wellenlänge 420–480 nm) → Umwandlung des in der Haut vorhandenen (hydrophoben) indirekten Bilirubins in eine wasserlösliche Form → Ausscheidung über Galle und Urin
- Indikation: Erhöhung des Gesamtbilirubins (GSB) über die Phototherapiegrenze
- Behandlungsbedürftigkeit der Hyperbilirubinämie wird nach dem Nomogramm eingeschätzt
- Phototherapiegrenze (nach AWMF-Leitlinie, Stand 2015)
- Für Reifgeborene ohne Hämolysezeichen (Alter ≥72 h): Gesamtbilirubin ≥20 mg/dL
- Für Gestationsalter <38+0 SSW (Alter ≥72 h): Phototherapiegrenze (in mg/dL) = Aktuelles Gestationsalter (in Wochen) − 20
- Bis zum Erreichen eines Lebensalters von 72 h: Zusätzliche Absenkung der Phototherapiegrenze um 2 mg/dL pro 24 h
- Für Phototherapie mit geringer Effektivität sowie bei schwer kranken Neugeborenen mit Kapillarleck und Hypalbuminämie: Zusätzliche Absenkung der Phototherapiegrenze um 2 mg/dL
- Untere Phototherapiegrenze: Gesamtbilirubin 5 mg/dL
- Durchführung
- Therapie bis Absinken des Bilirubinwertes unter den berechneten Grenzwert
- Phototherapie des entkleideten Kindes
- Augenschutz durch Schutzbrille; Gonadenschutz durch Windel
- Auf ausreichende Flüssigkeitsmengen achten
- Zu Beachten
- Erschwerte Beurteilbarkeit des Hautkolorits durch permanent strahlendes, blaues Licht
- Trennung von der Mutter
- Ggf. Assoziation zwischen Phototherapie und Auftreten von
- Hautveränderungen: Melanozytischen Naevi, Café-au-lait-Flecken
- Akuter myeloischer Leukämie
Blutaustauschtransfusion
- Indikation
- Akute Bilirubinenzephalopathie
- Bilirubinwert >10 mg/dL über der Phototherapiegrenze
- Bilirubinwert ≥5 mg/dL über der Phototherapiegrenze mit unzureichendem Ansprechen auf die Phototherapie (fehlendem GSB-Abfall innerhalb 4–6 h)
- Durchführung
- Verwendung von AB0-identischem und Rhesus-negativem Erythrozytenkonzentrat
- Austausch in Portionen von 5–20 mL über Nabelvenenkatheter
- Nebenwirkungen: Erhöhte Mortalität und Morbidität durch Infektionen, Azidose, Thrombosen, Hypotension, Elektrolytentgleisungen
Prognose
- Gute Prognose
- Bleibende Schäden i.d.R. nur selten: Im Rahmen des Kernikterus
Prävention
- Unterbrechung des enterohepatischen Kreislaufs [1]
- Konsequente enterale Ernährung (häufige Mahlzeiten, gutes Stillmanagement)
- Eiweißreiche Ernährung durch Muttermilch, ggf. zusätzlich Formula-Nahrung
- Bei Dehydratation eiweißreiche Nahrung bevorzugen gegenüber Tee, Glucose oder Wasser
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- P57.-: Kernikterus
- P57.0: Kernikterus durch Isoimmunisierung
- P57.8: Sonstiger näher bezeichneter Kernikterus
- Exklusive: Crigler-Najjar-Syndrom (E80.5)
- P57.9: Kernikterus, nicht näher bezeichnet
- P58.-: Neugeborenenikterus durch sonstige gesteigerte Hämolyse
- Exklusive: Ikterus durch Isoimmunisierung (P55–P57)
- P58.0: Neugeborenenikterus durch Quetschwunde
- P58.1: Neugeborenenikterus durch Blutung
- P58.2: Neugeborenenikterus durch Infektion
- P58.3: Neugeborenenikterus durch Polyglobulie
- P58.4: Neugeborenenikterus durch Arzneimittel oder Toxine, die von der Mutter übertragen oder dem Neugeborenen verabreicht wurden
- P58.5: Neugeborenenikterus durch Verschlucken mütterlichen Blutes
- P58.8: Neugeborenenikterus durch sonstige näher bezeichnete gesteigerte Hämolyse
- P58.9: Neugeborenenikterus durch gesteigerte Hämolyse, nicht näher bezeichnet
- P59.-: Neugeborenenikterus durch sonstige und nicht näher bezeichnete Ursachen
- Exklusive: Durch angeborene Stoffwechselstörungen (E70–E90), Kernikterus (P57.‑)
- P59.0: Neugeborenenikterus in Verbindung mit vorzeitiger Geburt
- Hyperbilirubinämie bei Prämaturität
- Ikterus infolge verzögerter Konjugation in Verbindung mit vorzeitiger Geburt
- P59.1: Gallepfropf-Syndrom
- P59.2: Neugeborenenikterus durch sonstige und nicht näher bezeichnete Leberzellschädigung
- Fetale oder neonatale (idiopathische) Hepatitis
- Fetale oder neonatale Riesenzellhepatitis
- Exklusive: Angeborene Virushepatitis (P35.3)
- P59.3: Neugeborenenikterus durch Muttermilch-Inhibitor
- P59.8: Neugeborenenikterus durch sonstige näher bezeichnete Ursachen
- P59.9: Neugeborenenikterus, nicht näher bezeichnet
- Physiologischer Ikterus (verstärkt) (verlängert) o.n.A
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.