Abstract
Bei der Trigeminusneuralgie handelt es sich um einen blitzartig einschießenden einseitigen Gesichtsschmerz. Er ist extrem stark und tritt bevorzugt im Versorgungsgebiet des zweiten und dritten Trigeminusastes auf. Der Schmerz hält einige Sekunden an und kann bis zu 100 mal pro Tag auftreten. Schmerzereignisse sind in Ruhe möglich oder können durch Triggerfaktoren wie Kauen oder Berührung ausgelöst werden. Der Leidensdruck der Betroffenen ist sehr hoch. Man unterscheidet eine klassische Form, der ein pathologischer Kontakt zwischen N. trigeminus und einem Gefäß zugrundeliegt, von einer symptomatischen Form, beispielsweise im Rahmen einer Multiplen Sklerose. Die medikamentöse Behandlung erfolgt vor allem mit Carbamazepin. Auch eine operative Dekompression (mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta), eine Ausschaltung von Schmerzfasern durch Hitze oder eine Bestrahlung des N. trigeminus kann sinnvoll sein.
Epidemiologie
Ätiologie
- Klassisch (früher idiopathisch)
- Pathologischer Gefäß-Nerven-Kontakt
- In ca. 80% der Fälle Kompression des Nervus trigeminus durch die A. superior cerebelli (sog. „Jannetta-Mechanismus“)
- Symptomatisch
- Multiple Sklerose
- Raumforderungen (insb. durch Meningeome sowie Schwannome des N. vestibulocochlearis)
- Hirnstammischämien
Pathophysiologie
- Neurovaskuläres Kompressionssyndrom
- Komprimierung des Nerven durch Gefäß → Lokale Demyelinisierung → Generierung ektoper Impulse an demyelinisierten Fasern → Hyperexzitation und Signalübertragung zwischen demyelinisierten sensiblen und nozizeptiven Fasern
- Im Verlauf auch axonale Schädigung möglich
Symptome/Klinik
- Leitsymptome
- Blitzartig einschießende, heftige, einseitige Gesichtsschmerzen
- Auftreten als einzelne Attacke oder in Serien, teilweise bis zu 100×/Tag
- Reflektorische Spasmen der mimischen Muskulatur
- Spontan oder durch Triggerfaktoren ausgelöst: Kauen, Sprechen, Berührungen (Waschen des Gesichts, Zähneputzen etc.)
- Blitzartig einschießende, heftige, einseitige Gesichtsschmerzen
- Lokalisation: Betroffen ist meist der zweite (N. maxillaris) und/oder der dritte Trigeminusast (N. mandibularis)
- Der Kornealreflex ist häufig ungestört auslösbar
- Im Verlauf: Dumpfer Dauerschmerz zwischen den Attacken möglich
Diagnostik
Die Trigeminusneuralgie wird über die typische Schmerzsymptomatik diagnostiziert. Die Zusatzdiagnostik dient insbesondere der Abgrenzung symptomatischer Formen
Klinisch-neurologische Diagnostik
- Klassische Trigeminusneuralgie
- Zwischen Attacken unauffällig
- Hyperalgesie im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven während Attacke möglich
- Symptomatische Trigeminusneuralgie
- Schmerzen im Versorgungsgebiet zwischen Attacken möglich
- Sensibilitätsstörungen im Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven möglich
- Ggf. andere fokale Defizite durch ursächliche Läsion oder Raumforderung
Diagnosekriterien der Trigeminusneuralgie der International Headache Society
Klassische Trigeminusneuralgie
Kriterien | Beschreibung |
---|---|
A | Anfallsartige Schmerzattacken
|
B | Der Schmerz erfüllt mindestens ein Charakteristikum:
|
C | Stereotypes Attackenmuster beim einzelnen Patienten |
D | Klinisch kein neurologisches Defizit |
E | Beschwerden können nicht auf andere Erkrankung zurückgeführt werden |
Symptomatische Trigeminusneuralgie
Kriterien | Beschreibung |
---|---|
A | Anfallsartige Schmerzattacken
|
B | Der Schmerz erfüllt mindestens ein Charakteristikum:
|
C | Stereotypes Attackenmuster beim einzelnen Patienten |
D | Ursächliche Läsion (keine vaskuläre Kompression) ergibt sich aus
|
Bildgebung des Kopfes
- MRT: Ausschluss/Nachweis von Raumforderungen, demyelinisierenden Prozessen (MS) und anderen Ursachen einer symptomatischen Trigeminusneuralgie
- Zusätzliche Sequenzen
- Time-of-Flight-MRA (TOF-MRA): Darstellung von Arterien
- Kontrastmittelgestützte MRA: Darstellung von Arterien und Venen
- Hochauflösende 3D-CISS-Sequenzen
- Darstellung des Gefäß-Nerven-Kontaktes
- Nur bei Operationsplanung durchführen
- Zusätzliche Sequenzen
Neurophysiologische Diagnostik (fakultativ)
- Ziel: Nachweis einer Affektion des N. trigeminus , ggf. topografische Zuordnung
- Blinkreflex
- Ziel: Nachweis einer Affektion des 1. Trigeminusastes (N. ophthalmicus)
- Befund
- Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
- Symptomatische Trigeminusneuralgie: Fehlen der Reflexantworten 1 und 2 möglich
- Trigeminus-SEP
- Ziel: Nachweis einer Affektion des 2. und 3. Trigeminusastes (N. maxillaris bzw. N. mandibularis)
- Befund
- Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
- Symptomatische Trigeminusneuralgie: Verlängerte Latenzen im betroffenen Ast möglich
- Masseterhemmreflex (Kieferöffnungsreflex)
- Ziel: Nachweis einer Affektion des 3. Trigeminusastes (N. mandibularis)
- Befund
- Klassische Trigeminusneuralgie: Häufig normal
- Symptomatische Trigeminusneuralgie: Abnorme Befunde beider Reflexantworten möglich
Weitere Diagnostik
- Lumbalpunktion bei Verdacht auf entzündliche Genese, Ausschluss einer MS
- Bei atypischen Befunden HNO-ärztliche oder stomatologische Vorstellung
Differenzialdiagnosen
- Clusterkopfschmerz
- Paroxysmale Hemikranie
- SUNCT-Syndrom
- Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz (früher: Atypischer Gesichtsschmerz)
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Medikamentös
- Wirkstoffe (zumeist Antikonvulsiva)
- Mittel der 1. Wahl: Carbamazepin, Oxcarbazepin
- Mittel der 2. Wahl: Baclofen, Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin, Phenytoin
- Akuttherapie: Carbamazepin als Suspension oder bei schweren Exazerbationen Phenytoin i.v.
- Allgemeine Therapieprinzipien
- Monotherapie anstreben (Beginn mit Carbamazepin)
- Langsame Titration nach therapeutischem Effekt
- Langsame Reduktion/Ausschleichen bei gutem Ansprechen im Verlauf der Therapie
- Nichtansprechen bei hohen Dosen oder dosislimitierende Nebenwirkungen: Umstellung auf andere Monotherapie
- Kombinationstherapie, wenn verschiedene Monotherapien erfolglos bleiben
Gängige Schmerzmittel wie nichtsteroidale Antiphlogistika sind bei der Trigeminusneuralgie wirkungslos!
Mittel der 1. Wahl
- Carbamazepin
- Indikation: Medikamentöse Basistherapie bei Trigeminusneuralgie
- Therapiehinweise
- Ältere Patienten: niedrigere Maximaldosis
- Akutsituation: Gabe als schnellwirksame Suspension sinnvoll
- Wirksamkeit
- Ein Großteil der Patienten (>80%) spricht anfangs auf die Therapie an, langfristig allerdings nur noch jeder zweite
- Bei Wirkabschwächung zu Therapiebeginn: Aufdosierung aufgrund etwaiger Enzyminduktion
- Im Verlauf der Therapie sind für den gleichen klinischen Effekt höhere Dosen notwendig
- Nebenwirkungen sind häufig dosis- und therapielimitierend
- Laborkontrolle
- Natrium, Blutbild und Leberwerte
- Umstellung der Therapie bei Neutro- oder Leukopenie, Leberfunktionsstörung
- Schwangerschaft
- Fortführung der Therapie, wenn klinisch notwendig
- Monotherapie
- Möglichst geringe Dosierung (Einstellung im unteren therapeutischen Bereich, Spiegelkontrollen)
- Stillzeit: Strenge Indikationsstellung
- Oxcarbazepin
- Indikation: Umstellung von Carbamazepin bei guter Wirksamkeit, aber untolerierbaren Nebenwirkungen oder Interaktionen
- Therapiehinweise
- Off-label-Therapie
- Bei Umstellung von Carbamazepin:
- Niedrige und mittlere Carbamazepindosen: Verhältnis 1,5 zu 1 (Oxcarbazepin zu Carbamazepin)
- Hohe Carbamazepindosen: Verhältnis 1 zu 1
- Schnellerer Wirkeintritt
- Insgesamt weniger Nebenwirkungen als Carbamazepin
- Geringe Enzyminduktion
- Laborkontrollen: Wie Carbamazepin, aber häufigere Natriumkontrollen (nach zwei Wochen, dann monatlich) aufgrund höherer Hyponatriämierate als bei Carbamazepin
Mittel der 2. Wahl
- Baclofen
- Therapiehinweise
- Off-label-Therapie
- Langsame Aufdosierung
- Wirkt bei großem Teil der Patienten, die auf Carbamazepin nicht ansprechen
- Bei Beschwerdefreiheit erreichte Erhaltungsdosis über 6 Wochen fortführen, dann Dosisreduktion um 10mg/Woche erwägen
- Bei unzureichendem Ansprechen auf Carbamazepin oder Baclofen: Kombinationstherapie probieren
- Kein abruptes Absetzen
- Laborkontrollen: Leberwerte zu Therapiebeginn wöchentlich, dann monatlich
- Therapiehinweise
- Lamotrigin
- Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
- Therapiehinweise
- Off-label-Therapie
- Sehr langsame Eindosierung um das Risiko für Hautreaktionen zu minimieren (deshalb nicht geeignet für Akuttherapie)
- Hautexantheme
- Treten häufig auf, selten lebensbedrohlich (Stevens-Johnson-Syndrom, toxische epidermale Nekrolyse)
- Immer absetzen
- Hautexantheme
- Carbamazepin beschleunigt über Enzyminduktion den Abbau von Lamotrigin
- Gabapentin
- Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
- Therapiehinweise
- Gabapentin ist Carbamazepin therapeutisch unterlegen, aber besser verträglich
- Geringes Interaktionspotenzial, kein Einfluss auf orale Kontrazeption
- Pregabalin
- Indikation: Unzureichende Wirkung bzw. Unverträglichkeit von Mitteln der 1. Wahl
- Therapiehinweise
- Häufig Besserung der Beschwerden, geringe Rate von Schmerzfreiheit
- Geringes Interaktionspotenzial
Akuttherapie
- Carbamazepin
- Als schnellwirksame Suspension
- Phenytoin
- Indikation: Schwere Exazerbation
- Verordnung
- Langsame i.v.-Gabe
- Bei Bedarf weitere Aufsättigung
- Ersatz durch anderes Präparat nach klinischer Stabilisierung
Operativ
- Indikation bei klassischer Trigeminusneuralgie: Versagen der medikamentösen Therapie (spätestens nach 3 Monotherapien oder erfolgloser Kombinationstherapie) oder untolerierbare Nebenwirkungen
- Wahl der Methode:
- Kein erhöhtes Operationsrisiko: Vorzugsweise mikrovaskuläre Dekompression
- Erhöhtes Operations- oder Anästhesierisiko: Perkutanes oder radiochirurgisches Verfahren
- Symptomatische Trigeminusneuralgie bei Multipler Sklerose: Gute Ergebnisse bei radiochirurgischer Therapie
Mikrovaskuläre Dekompression nach Jannetta
- Prinzip (einzige kausale Therapieoption): Aufhebung des Gefäß-Nerven-Kontakts zwischen N. trigeminus und (meist) der A. superior cerebelli durch Einbringen eines kleinen Stück Materials (z.B. Teflon)
- Durchführung
- Allgemeinanästhesie
- Halbsitzende Position oder Rückenlage
- Subokzipitale, retromastoidale Kraniotomie
- Darstellung des Austritts des N. trigeminus aus dem Hirnstamm
- Mobilisierung und Verlagerung des komprimierenden Gefäßes
- Einbringen eines Interponats etwa aus Teflon
- Ergebnisse
- Erfolgsquote
- 98% nach Operation
- 67% nach 10 Jahren
- Komplikationen
- Perioperative Mortalität 0,5%
- Hörverlust auf operierter Seite (selten)
- Hypästhesie im Versorgungsgebiet des N. trigeminus (selten)
- Erfolgsquote
Perkutane Radiofrequenzthermokoagulation des Ganglion trigeminale (Ggl. Gasseri)
- Prinzip: Destruktives Verfahren mit Schädigung der nozizeptiven Fasern des Ganglions durch thermische Koagulation
- Durchführung
- Elektive Analgosedierung
- Zugang über das Foramen ovale (unter Durchleuchtungskontrolle) mit Radiofrequenzsonde
- Prüfung der Elektrodenlage durch elektrische Stimulation
- Applikation von Wärme (60–70°C für 60–70 Sekunden)
- Ergebnisse
- Erfolgsquote
- Hoch, über 90% nach Eingriff
- Etwa 50% nach 5 Jahren
- Das Verfahren kann wiederholt werden, die Erfolgswahrscheinlichkeit ist dann häufig geringer
- Komplikationen
- Hypästhesie bzw. unangenehme/schmerzhafte Dysästhesie im Versorgungsgebiet eines oder mehrerer Äste des N. trigeminus (sehr häufig, Hypästhesie >50% bzw. Dysästhesie bis 40%)
- Anaesthesia dolorosa (1,5%)
- Erfolgsquote
- Andere perkutane Verfahren mit Schädigung des Ganglions
- Glycerolinjektion
- Ballondilatation
Radiochirurgische Therapie
- Prinzip: Hirnstammnahe stereotaktische Bestrahlung des N. trigeminus durch Gamma-Knife oder Linearbeschleuniger einmalig mit Dosen zwischen 70 und 90 Gy
- Ergebnisse
- Verzögerter Wirkeintritt (i.d.R. 2 Wochen bis 2 Monate)
- Erfolgsquote
- Im Vergleich zu anderen Verfahren geringer, steigt mit zunehmender Dosis
- Etwa 70% Schmerzfreiheit nach Eingriff
- Etwa 45% nach 5 Jahren und 25% nach 10 Jahren
- Komplikationen
- Vergleichsweise niedrige Rate an Komplikationen
- Sensibilitätsstörungen häufig (zwischen 10 und 40%), Häufigkeit korreliert mit applizierter Dosis
- Insbesondere bei MS-Patienten mit symptomatischer Trigeminusneuralgie: Guter Erfolg des Verfahrens
Prognose
- Etwa ⅓ der Patienten hat nur eine Episode im Leben
- Häufig progredient im Lebensverlauf
- Häufig Phasen mit Spontanremission
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- G50.-: Krankheiten des N. trigeminus [V. Hirnnerv]
- G50.0: Trigeminusneuralgie
- Syndrom des paroxysmalen Gesichtsschmerzes
- Tic douloureux
- G50.1: Atypischer Gesichtsschmerz
- G50.8: Sonstige Krankheiten des N. trigeminus
- G50.9: Krankheit des N. trigeminus, nicht näher bezeichnet
- G50.0: Trigeminusneuralgie
- G53.-*: Krankheiten der Hirnnerven bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- B02.-: Zoster [Herpes zoster]
- B02.2†: Zoster mit Beteiligung anderer Abschnitte des Nervensystems
- Entzündung des Ganglion geniculi nach Zoster (G53.0*)
- Polyneuropathie nach Zoster (G63.0*)
- Trigeminusneuralgie nach Zoster (G53.0*)
- B02.2†: Zoster mit Beteiligung anderer Abschnitte des Nervensystems
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.