Zusammenfassung
Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) ist ein primäres Schmerzsyndrom, das durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen und Müdigkeit gekennzeichnet ist. Die Entstehung ist multifaktoriell und wird im Rahmen eines biopsychosozialen Modells verstanden, das genetische Faktoren, psychosoziale Belastungen und auslösende Stressoren berücksichtigt. Zentral für die Pathophysiologie sind eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit, Dysfunktionen des schmerzmodulierenden Systems und eine Dysregulation der Stressantwort. Die Diagnose wird klinisch gestellt anhand der Anamnese und körperlichen Untersuchung sowie durch den Ausschluss anderer körperlicher Erkrankungen, die die Symptome erklären könnten.
Die Therapie ist multimodal und überwiegend nicht-medikamentös ausgerichtet. Sie umfasst Patientenedukation, körperliche Aktivierung und psychotherapeutische Verfahren. Bei schwereren Verläufen kann eine zeitlich begrenzte medikamentöse Behandlung sinnvoll sein. Ziel der Behandlung sind die Verbesserung der Lebensqualität, Funktionsfähigkeit und Schmerzbewältigung.
Epidemiologie
- Punktprävalenz: 2,1% [2]
- Geschlechterverteilung: ♀ > ♂
- Altersgipfel (im klinischen Setting): 40–60 Jahre
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
Die genauen Ursachen des Fibromyalgiesyndroms sind weitgehend unbekannt; folgende Faktoren können allerdings assoziiert sein:
- Biologische Faktoren [1]
- Entzündlich-rheumatische Erkrankungen [3]
- Genetische Faktoren [3]
- Vitamin-D-Mangel
- Biografische/psychische Faktoren [1]
- Körperliche und sexuelle Gewalterfahrungen in Kindheit und Erwachsenenalter
- Frühe negative Schmerzerfahrungen
- Anhaltende kritische Lebensereignisse, hohes Stressniveau [3]
- Depressionen
- Lebensstilfaktoren [1]
- Rauchen
- Adipositas
- Mangelnde körperliche Aktivität
Die genaue Ätiologie des Fibromyalgiesyndroms ist bislang unbekannt!
Pathophysiologie
Es existieren verschiedene Konzepte zur pathophysiologischen Entstehung des Fibromyalgiesyndroms. Neben einem biopsychosozialen Krankheitsmodell zählen dazu u.a.
- Veränderte zentrale Schmerzverarbeitung (zentrale Sensibilisierung)
- Veränderungen zentralnervöser Transmitter: Serotonin, Noradrenalin und Dopamin ↓ [4]
- Dysregulation des sympathischen Nervensystems
- Reduzierte intraepidermale Nervenfaserdichte (Small-Fiber-Neuropathie) [5]
Symptomatik
Klinisches Bild [1][3]
- Kernsymptome
- Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP)
- Schlafstörungen bzw. nicht-erholsamer Schlaf
- Müdigkeit bzw. Erschöpfungsneigung
- Begleitsymptome, u.a.
- Steifigkeit (insb. morgens und nach längeren Ruhephasen)
- Kognitive Störungen (sog. „Fibro Fog“)
-
Funktionelle Beschwerden
- Gastrointestinal: Chronische Unterbauchschmerzen, Dyspepsie, Stuhlunregelmäßigkeiten, Globusgefühl
- Urogenital: Reizblase
- Neurologisch: Spannungskopfschmerz, Schwindel
- Muskuloskelettal: Bruxismus, temporomandibuläre Dysfunktion
- Vegetative Symptomatik
- Palpitationen
- Mundtrockenheit
- Hyperhidrosis, vermehrtes Frieren
- Lärm- und Geruchsüberempfindlichkeit
Häufige Komorbiditäten
Diagnostik
Basisdiagnostik [1][3]
- Anamnese inkl.
- Gezielter Erhebung der Kernsymptome
- Schmerzanamnese (mit Erfassung der Schmerzlokalisation, bspw. mittels Schmerzskizze)
- Ausfüllen des Fibromyalgie-Symptomfragebogens (siehe unter Tipps & Links)
- Medikamentenanamnese
- Biografischer und psychosozialer Anamnese
- Siehe auch: DGS-Praxisleitfaden zur Fibromyalgie-Diagnostik unter Tipps & Links
- Körperliche Untersuchung, inkl. neurologischem, dermatologischem und orthopädischem Befund
- Basislabor (bei FMS i.d.R. unauffällig)
- Kleines Blutbild, Elektrolyte (inkl. Calcium), BSG, CRP, CK, TSH, Vitamin-D-Spiegel
- Nicht empfohlen: Routinemäßige Bestimmung von antinukleären Antikörpern (ANA)
- Screening auf psychische Komorbiditäten: Insb. Angststörungen und Depression, bspw. mittels
- Patient Health Questionnaire-4 (PHQ-4)
- Depressions-Angst-Stress-Skala 21 (siehe unter Tipps & Links)
Die Untersuchung der Tender Points ist unspezifisch und wird bei der Diagnostik des Fibromyalgiesyndroms nicht mehr empfohlen! [2]
Weiterführende Diagnostik [1]
- Apparative Diagnostik: Nur bei klinischen oder laborchemischen Hinweisen auf somatische (Mit‑)Ursachen
- Ggf. psychiatrische/psychotherapeutische Untersuchung: Bei Hinweisen für
- Erhöhte psychische Belastung
- Psychosoziale Stressoren
- Frühere psychiatrische Behandlungen
- Maladaptive Krankheitsverarbeitung
- Subjektive psychische Krankheitsattributionen
Schweregradeinteilung des FMS [1]
- Krankheitsspezifische Tests, bspw.
- Krankheitsübergreifende Verfahren: Patient Health Questionnaire-15 (PHQ-15)
- Leicht: 5–9
- Mittel: 10–14
- Schwer: 15–30
Diagnostische Kriterien
ACR-Kriterien (2016) [2]
- Generalisierte Schmerzen in mind. 4 von 5 Körperregionen
- Dauer: Konstante Beschwerden für ≥3 Monate
- Widespread Pain Index (WPI) ≥7 + Symptom Severity Scale (SSS) ≥5 oder WPI 4–6 + SSS ≥9
- Siehe auch: DGS-Praxisleitfaden zur Fibromyalgie-Diagnostik unter Tipps & Links
Für die Diagnose müssen alle Kriterien erfüllt sein!
Das gleichzeitige Vorliegen anderer (Schmerz‑)Erkrankungen schließt die Diagnose nicht aus!
Differenzialdiagnosen
- Andere funktionelle Syndrome, bspw. Reizdarmsyndrom
- Entzündlich-rheumatische Erkrankungen (z.B. rheumatoide Arthritis, Polymyalgia rheumatica)
- Muskelerkrankungen, bspw. Myositis
- Medikamenteninduzierte Myopathien
- Endokrinopathien (z.B. Hypothyreose, Hyperparathyreoidismus)
- Systemischer Lupus erythematodes
- Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
- Tumorerkrankungen
- Lyme-Arthritis
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Prinzipien [1][3]
- Therapieziele
- Linderung der Symptome (nicht Heilung) [4]
- Partizipatives Erarbeiten von realistischen Zielen
- Therapiestrategie
- Berücksichtigung von Komorbiditäten und Präferenzen der Betroffenen
- I.d.R. multimodal
- Je nach Schweregrad (siehe auch: Schweregradeinteilung des FMS)
- Leicht: Bewegungstherapie und psychosoziale Aktivierung
- Schwer: Multimodale Therapie und medikamentöse Therapie
- Therapieevaluation: Regelmäßige Überprüfung von Nutzen und unerwünschten Wirkungen der eingeleiteten Therapie
Nicht-medikamentöse Therapie[1][3]
Psychoedukation
- Funktionelles Syndrom, keine organisch-rheumatische Erkrankung
- Normale Lebenserwartung
- Symptomlinderung durch eigene Aktivität möglich
- Verweis auf Selbsthilfegruppen (siehe unter Tipps & Links)
Die Basis jeder FMS-Therapie ist eine umfassende Edukation der Betroffenen über das biopsychosoziale Krankheitsmodell. Dies fördert die aktive Mitarbeit und kann bereits zu einer signifikanten Schmerzreduktion beitragen!
Bewegungstherapie und physikalische Verfahren [1]
- Indikation: Alle Patient:innen mit FMS
- Trainingsformen, insb. [2]
- Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität) oder
- Beispiele: Schnelles Spazierengehen, Walking, Fahrradfahren, Tanzen, Aquajogging
- Frequenz und Dauer: 2–3 ×/Woche über mind. 30 min
- Wasser- und Trockengymnastik
- Kombination aus aerobem Training, Flexibilitäts-, Koordinations- und Kräftigungsübungen
- Frequenz und Dauer: 2–3 ×/Woche über mind. 30 min
- Ausdauertraining (geringe bis mittlere Intensität) oder
- Weitere
- Krafttraining (geringe bis mäßige Intensität)
- Spa-Therapie (Balneotherapie, Hydrotherapie und Thalassotherapie)
- Muskeldehnung (Stretching)
- Vibrationstraining
- Wärmeanwendungen (bspw. Biosauna, Infrarotkabine)
- Physiotherapie
- Ergotherapie
Bewegung ist wesentlicher Bestandteil der Therapie!
Zahlreiche Verfahren wie Massage, Kältekammertherapie, Chirotherapie oder TENS sollen bei FMS nicht empfohlen werden!
Psychotherapeutische Verfahren
- Indikationen
- Maladaptive Krankheitsbewältigung (z.B. Katastrophisieren)
- Relevanter Einfluss von Alltagsstress oder interpersonellen Konflikten auf Symptomatik
- Komorbide psychische Störungen
- Verfahren
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
- Biofeedback
- Hypnotherapie und Imaginationsverfahren
- Ggf. adjuvant
- Siehe auch: Psychologische Methoden der Schmerzbewältigung
Komplementäre und weitere Verfahren
- Meditative Bewegungstherapien: Tai-Chi, Qigong, Yoga
- Gewichtsabnahme bei Adipositas
- Ggf. Elektroakupunktur
- Nicht empfohlen: Nahrungsergänzungsprodukte, Reiki, Tanztherapie als Monotherapie
Medikamentöse Therapie [1][8]
- Indikation: Schweres FMS
- Dauer: Zeitlich befristet (Evaluation nach 6 Monaten)
- Wirkstoffe: Siehe Medikamentöse Therapieoptionen beim Fibromyalgiesyndrom
- Zu beachten
- Nicht als Monotherapie (nur im Rahmen einer multimodalen Therapie)
- Keine zugelassene Substanz in Deutschland (ohne Komorbidität: Off-Label Use)
| Medikamentöse Therapieoptionen beim Fibromyalgiesyndrom [1][8] | |||
|---|---|---|---|
| Wirkstoff | Dosierung | Indikationen/Besonderheiten | |
| 1. Wahl | 100–200 mg/d [8] |
| |
| Duloxetin | 60–120 mg/d [8] |
| |
| Pregabalin | 300–450 mg/d [8] |
| |
| 2. Wahl | Amitriptylin | 25–50 mg/d [8] |
|
| 3. Wahl | 50–300 mg/d [8] |
| |
In Deutschland ist kein Medikament explizit zur Therapie des FMS zugelassen. Der zeitlich befristete Einsatz bestimmter Medikamente erfolgt im Rahmen eines Gesamttherapiekonzepts zur Behandlung chronischer Schmerzen oder komorbider psychischer Erkrankungen!
Starke Opioide sollen zur Therapie des FMS nicht eingesetzt werden! Es besteht keine Indikation und die Gefahr einer opiatinduzierten Hyperalgesie. Auch andere Substanzklassen wie Anxiolytika, Hypnotika, NSAR, Muskelrelaxanzien und Cannabinoide werden nicht empfohlen!
Kinder und Jugendliche
Definition
- Keine validierten Definitionskriterien
- Bevorzugte Diagnosen
- Chronische Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41)
- Anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40)
Da für Kinder und Jugendliche bislang keine validierten Definitionskriterien eines juvenilen Fibromyalgiesyndroms existieren, sollte die Diagnose (M79.7) in dieser Altersgruppe nicht verwendet werden!
Epidemiologie
Ätiologie
- Ursachen: Weitgehend unbekannt
- Mögliche Einflussfaktoren
- Familiär
- Positive Familienanamnese
- Elterliche Krankheiten/Auffälligkeiten
- Weitere (im Vorfeld)
- Kopf- und Bauchschmerzen
- Verhaltensauffälligkeiten
- Vermehrte sportliche Aktivität
- Familiär
Klinisches Bild
- Leitsymptom: Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP)
- Mögliche Begleitsymptome
- Schlafstörungen, Müdigkeit
- Druckdolente Muskeln
- Kopf- oder Bauchschmerzen
- Reizdarmsyndrom
- Angst
- Depressivität
- Verlauf: Oft fluktuierend
Bei einer chronischen Schmerzstörung in mehreren Körperregionen mit somatischen und psychischen Faktoren ist ein wechselhafter Verlauf mit symptomarmen/-freien Intervallen typisch!
Diagnostik
- Indikation: Chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen (CWP)
- Basisdiagnostik
- Anamnese (inkl. Schmerzfragebogen )
- Körperliche Untersuchung
- Labordiagnostik
-
Psychologische Diagnostik, bspw.
- Depressionsinventar für Kinder und Jugendliche (DIKJ)
- Angstfragebogen für Schüler (AFS)
- IQ-Testung
- Weiterführende Diagnostik
- Labordiagnostik
- Apparative Diagnostik
- Siehe auch: Leitfaden zur Primärdiagnostik musuloskelettaler Schmerzen bei Kindern und Jugendlichen unter Tipps & Links
Differenzialdiagnosen
- Psychisch
- Somatisch
- Juvenile idiopathische Arthritis
- Akute Leukämien
- Stoffwechselerkrankungen
Therapie
- Ziele
- Setting
- Bei leichtem Verlauf primär ambulant
- Bei schwerem Verlauf ggf. stationär
- Maßnahmen
- Psychoedukation
- Multimodale Schmerztherapie
- Psychotherapie (z.B. kognitive Verhaltenstherapie )
- Physiotherapie
- Ergotherapie
- Physikalische Therapie
- Medikamentöse Therapie von Komorbiditäten, z.B. Depression (siehe auch: Depression - Kinder und Jugendliche)
- Ggf. komplementäre und alternative Therapieverfahren (fehlende Evidenz )
Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen (ohne relevante Komorbiditäten) sollten nicht medikamentös behandelt werden!
Prognose
- Keine erhöhte Mortalität
- Krankheitsverlauf: Oft chronisch und fluktuierend
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- M79.-: Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert
Lokalisation der Muskel-Skelett-Beteiligung
- 0 Mehrere Lokalisationen
- 1 Schulterregion
- 2 Oberarm
- 3 Unterarm
- 4 Hand
- 5 Beckenregion und Oberschenkel
- 6 Unterschenkel
- 7 Knöchel und Fuß
- 8 Sonstige
- 9 Nicht näher bezeichnete Lokalisation
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.