Abstract
Das Kompartmentsyndrom beschreibt einen Zustand, in dem bei geschlossenem Weichteilmantel und Faszien ein erhöhter Gewebedruck zu einer verminderten Gewebeperfusion führt. Mit fortschreitender Zeit resultieren daraus zunehmende Gewebe-, Muskel- oder Organschäden sowie neuromuskuläre Schäden. Am häufigsten sind der Unterarm und der Unterschenkel vom Kompartmentsyndrom betroffen. Beim Unterschenkel manifestiert sich dieses am häufigsten im Bereich der Tibialis-anterior-Loge, weshalb es auch Tibialis-anterior-Syndrom genannt wird. Ferner ist ein abdominelles Kompartmentsyndrom bekannt. Therapeutisch von großer Bedeutung ist eine frühe Faszienspaltung (Fasziotomie) innerhalb der ersten sechs Stunden nach Manifestation, um schwerwiegende Nekrosen abzuwenden.
Ätiologie
- Kompression des Kompartments
- Einengende (Gips‑)Verbände
- Tourniquet-Syndrom mit ischämischem Reperfusionsödem
- Druckbedingt bei Lagerung
- Inhaltszuwachs
- Blutungen bei Gefäßverletzung oder Antikoagulation
- Funktionelles Kompartmentsyndrom bei Überbeanspruchung
- Erhöhte Kapillarpermeabilität, z.B. im Schock
- Posttraumatisch
- Frakturhämatom, posttraumatisches Muskelödem
- Enger, ungespaltener Gips oder zirkuläre Verbände
- Verbrennungsödem
Bei polytraumatisierten Patienten im Schock ist die periphere Durchblutung vermindert, sodass bei steigendem Druck in einem Kompartment frühzeitig ein erhöhtes Ischämie-Risiko besteht!
Klassifikation
- Drohendes Kompartmentsyndrom
- Spannungsschmerz
- Periphere Durchblutung erhalten
- Eventuell leichte neurologische Symptome
- Manifestes Kompartmentsyndrom
- Schmerz und Schwellung
- Periphere Durchblutung beeinträchtigt
- Ausgeprägte neurologische Symptomatik
Pathophysiologie
- Reduktion der Gewebeperfusion bei Anstieg des Gewebedrucks, der normalerweise <10 mmHg beträgt
- Irreversible Gewebeschädigung an Muskeln und Nerven nach vierstündiger Ischämie
Symptome/Klinik
Allgemeine Symptome des Kompartmentsyndroms
- Leitsymptome: Stark progredienter, nicht auf Analgetika ansprechender (Druck‑)Schmerz und bretthart gespannte Muskulatur
- Neurologische Defizite: Störung von Motorik und Sensibilität
- Weichteilschwellung
- Glänzende, überwärmte Haut mit Spannungsblasen
Der arterielle Puls ist i.d.R. noch erhalten und fehlt erst bei einem sehr schweren Kompartmentsyndrom!
Tibialis-anterior-Syndrom
Symptome ergeben sich aus der Läsion des in der Extensorenloge verlaufenden N. peroneus profundus (N. fibularis profundus) als Ast des N. peroneus
- Motorisch: Zehenheberschwäche
- Sensibel: Sensibilitätsverlust/Parästhesien im Autonomiegebiet des Nerven → 1. Interdigitalraum der Zehen
Verlaufs- und Sonderformen
Kompartmentsyndrom des Oberarmes [1][2]
- Epidemiologie: Eher selten
- Ätiologie: Insb. distale Humerusfraktur und schwere Weichteilquetschung
- Anatomie: Ventrales Beugerkompartiment, dorsales Streckerkompartiment plus M.-deltoideus-Kompartiment
- Symptome
- I.d.R. stark ausgeprägt mit extremer Weichteilschwellung
- Weitere Symptome siehe: Allgemeine Symptome des Kompartmentsyndroms
- Therapie: Analog zur allgemeinen Therapie des Kompartmentsyndroms
- Besonderheiten bei der Dermatofasziotomie
- Bei distaler Humerusfraktur: Schnittführung von Oberarmmitte bis über das Ellenbogengelenk + zusätzliche Durchtrennung der Aponeurosis musculi bicipitis
- Bei M.-deltoideus-Kompartmentspaltung: Zusätzlich zur Kompartmenteröffnung Durchtrennung des intermuskulären Septums wichtig!
- Besonderheiten bei der Dermatofasziotomie
Kompartmentsyndrom des Unterarmes [1][2]
- Epidemiologie: Zweithäufigste Lokalisation für Kompartmentsyndrom (nach Unterschenkel)
- Ätiologie: Insb. Unterarmfraktur und distale Humerusfraktur
- Anatomie
- Unterteilung in 5 Räume : Oberflächliche und tiefe Flexoren, oberflächliche radiale, oberflächliche ulnare und tiefe Extensoren
- Symptome : Insb. achten auf
- Verhärtung der Muskellogen
- Schmerzen bei passivem Strecken der Finger: Hinweis auf Kompartmentsyndrom der tiefen Beugerloge
- Weitere Symptome siehe: Allgemeine Symptome des Kompartmentsyndroms
- Therapie: Analog zur allgemeinen Therapie des Kompartmentsyndroms
- Besonderheiten bei der Dermatofasziotomie: Durchtrennung von Karpaltunnel, Guyon-Loge und Aponeurosis musculi bicipitis erwägen!
Abdominelles Kompartmentsyndrom
Das abdominale Kompartmentsyndrom entsteht durch Druckerhöhungen in der Bauchhöhle bspw. nach Bauchverletzungen oder ausgedehnten Operationen. Die resultierende Kompression mit Beeinträchtigung der Perfusion kann nicht nur die Bauchorgane schädigen, sondern auch zu Multiorganversagen und hämodynamischer Instabilität führen. Daher handelt es sich um ein lebensbedrohliches Krankheitsbild, das schnell erkannt und therapiert werden muss.
- Definitionen [3]
- Intraabdomineller Druck (IAP): Gleichgewichtsdruck in der Bauchhöhle
- Ätiologie
- Trauma des Beckens oder Abdomens
- Intraabdominelle Blutungen
- Ausgedehnte Bauchoperationen
- Massive Volumengabe
- Barrierestörungen wie bei Sepsis
- Klinik
- Prall gespanntes Abdomen
- Ansteigende Beatmungsdrücke
- Oligurie
- Hämodynamische Instabilität
- Diagnostik: Messung des intraabdominellen Druckes
- Goldstandard: Druckabnehmer in Harnblasenkatheter
- Vorteil: Wenig invasiv, ein Harnblasenkatheter ist ohnehin in der Regel erforderlich
- Experimentell über invasive Bauchdeckensonden
- Alternativ auch über gastrale Sonde möglich, aber nicht etabliert
- Goldstandard: Druckabnehmer in Harnblasenkatheter
- Komplikationen
- Nierenversagen
- Respiratorische Insuffizienz
- Darmatonie, Barrierestörung, Peritonitis
- Multiorganversagen bis Tod
- Therapie: Laparotomie zur Dekompression
- Prävention: Nach ausgedehnten Operationen oder Unfällen ggf. kein sofortiger vollständiger Wundverschluss
- Identifizierung von Risikogruppen, standardisierte Bestimmung des IAP
Diagnostik
- Messung des Gewebedrucks mit Messfühler
- Normaldruck: <10 mmHg
- Kompartmentdruck: 30–40 mmHg
- Erfassung der Durchblutung: Bei nicht palpablen peripheren Pulsen mit Pulsoxymeter und Dopplersonographie
Therapie
Konservative Therapie bei drohendem Kompartment-Syndrom
- Kühlen und leichtes Anheben der Extremität zur Druckentlastung
- Antiphlogistische Therapie
- Entfernen komprimierender (Gips‑)Verbände
- Regelmäßige Kontrolle → Im Zweifelsfall sehr frühes operatives Vorgehen!
Hochlagerung kann durch Senkung der Durchblutung die Ischämie verschlimmern!
Operative Therapie bei manifestem Kompartment-Syndrom
- Wiederherstellung der Perfusion durch Entlastung mittels konsequenter Gewebe- und Faszienspaltung (Dermatofasziotomie ) innerhalb der ersten 6 h mit anschließender offener Wundbehandlung
Komplikationen
- Muskel- und Weichteilnekrosen mit erhöhter Infektionsgefahr
- Nervenläsion (v.a. N. tibialis und N. peroneus)
- Rhabdomyolyse, Crush-Niere
- Muskelkontrakturen
- Rebound-Kompartmentsyndrom: Tritt 6–12 h nach operativer Reperfusion aufgrund von erhöhter Kapillarpermeabilität auf
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- M62.-: Sonstige Muskelkrankheiten
- M62.2-: Ischämischer Muskelinfarkt (nichttraumatisch) [0–9]
- Nichttraumatisches Kompartmentsyndrom
- Exklusive: Traumatische Muskelischämie (T79.6‑), Traumatisches Kompartmentsyndrom (T79.6‑), Volkmann-Kontraktur [ischämische Muskelkontraktur] (T79.60)
- M62.2-: Ischämischer Muskelinfarkt (nichttraumatisch) [0–9]
- T79.-: Bestimmte Frühkomplikationen eines Traumas, anderenorts nicht klassifiziert
- T79.6-: Traumatische Muskelischämie
- Kompartmentsyndrom
- Exklusive: Nichttraumatisches Kompartmentsyndrom (M62.2‑)
- T79.60: Traumatische Muskelischämie der oberen Extremität
- Volkmann-Kontraktur [ischämische Muskelkontraktur]
- T79.61: Traumatische Muskelischämie des Oberschenkels und der Hüfte
- T79.62: Traumatische Muskelischämie des Unterschenkels
- T79.63: Traumatische Muskelischämie des Fußes
- T79.68: Traumatische Muskelischämie sonstiger Lokalisation
- T79.69: Traumatische Muskelischämie nicht näher bezeichneter Lokalisation
- T79.6-: Traumatische Muskelischämie
Lokalisation der Muskel-Skelett-Beteiligung
- 0 Mehrere Lokalisationen
- 1 Schulterregion
- 2 Oberarm
- 3 Unterarm
- 4 Hand
- 5 Beckenregion und Oberschenkel
- 6 Unterschenkel
- 7 Knöchel und Fuß
- 8 Sonstige
- 9 Nicht näher bezeichnete Lokalisation
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.