Zusammenfassung
Die prähospitale Notfallnarkose ist eine zentrale, aber hochriskante Maßnahme in der Notfallmedizin. Sie dient in erster Linie der Atemwegssicherung, um eine suffiziente Oxygenierung und Ventilation sicherzustellen, sowie dem Aspirationsschutz. Im Vergleich zur innerklinischen Narkose ist das Verfahren präklinisch mit deutlich höheren Risiken verbunden, da Faktoren wie beengte räumliche Verhältnisse, Zeitdruck, eingeschränkte Ressourcen und fehlende Nüchternheit hinzukommen. Standardisiert empfohlen wird die Durchführung als Rapid Sequence Induction (RSI) mit vorheriger Präoxygenierung, vorbereitetem Equipment und vollständigem Monitoring einschließlich Kapnografie. Eine sorgfältige Indikationsstellung, eine klare Kommunikation im Team und eine strukturierte Vorbereitung sind essenziell, um Komplikationen zu vermeiden.
Dieses Kapitel behandelt primär die prähospitale Notfallnarkose bei Erwachsenen. Für die Behandlung von Kindern siehe: Grundlagen der Kinderanästhesie.
Übersicht
Ziele [1]
- Amnesie, Anxiolyse, Analgesie, Hypnose, Stressreduktion
- Reduktion des Sauerstoffverbrauchs
- Rasche und sichere Atemwegssicherung
- Aspirationsschutz
- Effektive Oxygenierung und Ventilation
Häufigkeit [1][2]
- Prozentualer Anteil an allen notärztlichen Einsätzen
- Erwachsene: Ca. 3–5%
- Kinder <18 Jahre: 4–7%
- Absolute Häufigkeit
- Bodenrettung: Einmal alle 6 Wochen
- Luftrettung: Einmal alle 2 Wochen
Indikation
- Akute respiratorische Insuffizienz
- Hypoxie und/oder extreme Atemfrequenz (<6/min oder >29/min) und
- Kontraindikationen gegen NIV oder NIV-Versagen
- Quantitative Bewusstseinsstörung mit Aspirationsgefahr, bspw. durch
- Schweres Trauma/Polytrauma, siehe: Intubationskriterien bei Polytrauma
- Kritische internistische oder neurologische Erkrankungen, bspw.
- Kardiopulmonale Instabilität: Hypertensiver Notfall mit Lungenödem oder kardiogener Schock
- Z.n. kardiopulmonaler Reanimation
- Status epilepticus
In die Indikationsstellung zur prähospitalen Notfallnarkose sollten der Patientenzustand, die Einsatzbedingungen und die Erfahrung des Teams einfließen!
Besonderheiten im präklinischen Setting
- Patientenabhängige Faktoren
- Alle Personen gelten als nicht nüchtern
- Oft schwierige Bedingungen für Gefäßzugänge
- Erhöhtes Risiko für schwierige Maskenbeatmung und/oder schwierige Intubation
- Erhöhtes Risiko für Narkosekomplikationen durch Verletzungen und/oder (unbekannte) Komorbiditäten
- Einsatz- und umgebungsabhängige Faktoren
- Ggf. beengte Platzverhältnisse
- Begrenzte Auswahl an Material und Medikamenten
- Begrenzte Zeit
- Witterung und Arbeitsbedingungen am Einsatzort
- Umweltfaktoren durch Art und Dauer eines Transports
- Teamabhängige Faktoren
- Individuelle Erfahrung des Personals
- Zusammenarbeit im Team
- Begrenzte personelle Ressourcen
- Komplexe Entscheidungsfindung unter Unsicherheit
Material und Medikamente
- Basismaterial
- Verbrauchsmaterial
- Material für periphervenösen oder intraossären Zugang
- Infusionslösungen und Zubehör
- Absaugkatheter, Absauggerät
- Magensonde
- Stethoskop
- Material für Beatmung und Intubation
- Beatmungsbeutel mit Reservoir oder Demand-Ventil
- Beatmungsmasken in verschiedenen Größen
- Guedel-Tubus, Wendl-Tubus
- Videolaryngoskop
- Endotrachealtuben in verschiedenen Größen
- Führungsstab, Magill-Zange
- Blockerspritze, Gleitgel, Fixierungsmaterial
- Alternativen zur Atemwegssicherung
- Medikamente
- Injektionsanästhetikum, bspw. Propofol, Etomidat
- Analgetikum: Opioid, bspw. Fentanyl, Sufentanil, Remifentanil
- Muskelrelaxans, bspw. Rocuronium, Succinylcholin
- Notfallmedikamente, bspw. Adrenalin, Noradrenalin, Atropin
- Ggf. weitere Medikamente, bspw. Antiemetika, Antihistaminika
- Siehe auch: Medikamente für die prähospitale Notfallnarkose
- Beatmung und Monitoring
- Beatmungsfilter, ggf. Tubusverlängerung („Gänsegurgel“)
- Blutdruckmessgerät (nicht-invasiv), EKG, Pulsoxymeter, ggf. Relaxometer
- Beatmungsgerät mit Kapnografie
Vorbereitung
- Indikation prüfen: Notwendigkeit einer Notfallnarkose kritisch prüfen [3]
- Sehr erfahrenes Team, lange Transportdauer, vermutlich einfacher Atemweg: Eher invasive Atemwegssicherung bevorzugen
- Wenig erfahrenes Team, kurze Transportdauer, vermutlich schwieriger Atemweg: Eher (unterstützte) Spontanatmung bevorzugen
- Siehe auch: LEMON-Score und Abschätzung der Intubationsbedingungen
- Kommunikation: Entscheidung zur Notfallnarkose klar kommunizieren und alle Aufgaben verteilen
- Umgebungsbedingungen optimieren
- Weitere Maßnahmen möglichst im Rettungswagen durchführen
- Person bestmöglich lagern, insb. Kopfposition zur Sicherung der Atemwege
- Präoxygenierung: Bei Spontanatmung unmittelbar beginnen
- 3–4 min bei dicht sitzender Mund-Nasen-Maske mit Sauerstoff-Flow von 12–15 L/min
- Demand-Ventil, Sauerstoffreservoir oder NIV nutzen
- Monitoring anschließen
- EKG, Pulsoxymetrie, nicht-invasive Blutdruckmessung
- Kapnografie einsatzbereit halten
- Zugänge legen
- Möglichst 2 sichere periphervenöse Zugänge etablieren
- Ggf. intraossären Zugang wählen
- Geeignete Infusion anschließen, wenn möglich
- Checkliste prüfen
- Alle Teammitglieder informiert und einsatzbereit?
- Lagerung optimiert?
- Alle Narkosemedikamente und Notfallmedikamente bereit?
- Material zur Atemwegssicherung vollständig und griffbereit?
- Intravenöser oder intraossärer Zugang sicher und mit laufender Infusion?
- Absaugung funktionsfähig und angeschaltet?
- Monitoring vollständig, Messintervalle eingestellt und Alarme aktiviert?
- Kapnografie einsatzbereit?
- Ausgangsblutdruck gemessen?
Eine strukturierte Vorbereitung und enge Kommunikation zwischen dem notärztlichen und dem rettungsdienstlichen Personal sind entscheidend für eine sichere und effektive Durchführung der prähospitalen Notfallnarkose!
Ablauf/Durchführung
- Rapid Sequence Induction (RSI)
- Bei Indikation zur HWS-Immobilisation: Passager manuelle Inline-Stabilisierung durchführen
- Wirkstoffe und Dosierungen zur RSI deutlich ansagen (Closed-Loop-Kommunikation)
- Applizieren und Wirkung abwarten (Bewusstseinsverlust und Relaxierung)
- Videolaryngoskopie (1. Wahl)
- Atemwegssicherung mit oder ohne Zwischenbeatmung
- Lagekontrolle des Endotrachealtubus, insb. Kapnografie und Auskultation
- Ggf. HWS-Immobilisationsschiene wieder anlegen
- Narkoseführung
- Narkose aufrechterhalten
- Kontinuierliches Monitoring inkl. Kapnografie
- Überwachung der maschinellen Beatmung
- Komplikationen einer Notfallnarkose erkennen und behandeln
| Übersicht über gängige Medikamente für die prähospitale Notfallnarkose [1] | ||
|---|---|---|
| Substanz | Beispielhafte Dosierung | Besonderheiten im Notfallsetting |
| Propofol |
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| Etomidat |
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| Thiopental |
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| Midazolam |
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| Fentanyl |
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| Sufentanil |
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| Esketamin |
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| Ketamin | ||
| Succinylcholin |
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| Rocuronium |
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Zur Muskelrelaxierung bei prähospitaler Notfallnarkose eignen sich Succinylcholin sowie alternativ Rocuronium bei Kontraindikationen gegen Succinylcholin! [12]
Klinische Beispiele
Notfallnarkose bei Polytrauma
- Betroffene Person: Junger Mann nach Verkehrsunfall, ca. 80 kgKG
- Narkoseeinleitung
- Analgetikum, bspw.
- Injektionsanästhetikum, bspw.
- Muskelrelaxans: Bspw. Rocuronium 80–100 mg i.v.
- Atemwegssicherung
- Ggf. Narkosevertiefung
- Siehe auch: Rapid Sequence Induction bei Polytrauma
- Narkoseaufrechterhaltung: Repetitionsdosis alle 20–30 min
Bei Polytrauma ist eine kontinuierliche Überwachung von Kreislauf, Oxygenierung und Beatmung entscheidend, da Blutverlust und Hämodynamik sehr variabel sind!
Notfallnarkose bei V.a. intrazerebrale Blutung
- Betroffene Person: Ältere Frau, Pupillendifferenz, GCS 6, ca. 60 kgKG
- Narkoseeinleitung
- Analgetikum, bspw.
- Injektionsanästhetikum, bspw.
- Thiopental 250 mg i.v. oder
- Propofol 120 mg i.v.
- Muskelrelaxans, bspw.
- Rocuronium 60–80 mg i.v. oder
- Succinylcholin 60 mg i.v.
- Atemwegssicherung
- Ggf. Narkosevertiefung
- Narkoseaufrechterhaltung: Repetitionsdosis alle 20–30 min
Bei V.a. Neurotrauma oder intrakranielle Blutung ist besonders auf die Kontrolle des intrakraniellen Drucks, die Sauerstoffversorgung und die Vermeidung einer Hypotonie zu achten!
Notfallnarkose bei schwerer kardiopulmonaler Erkrankung
- Betroffene Person: Älterer Mann mit kardialem Lungenödem und NIV-Versagen, ca. 90 kgKG
- Narkoseeinleitung
- Analgetikum, bspw.
- Fentanyl 0,2 mg i.v. oder
- Sufentanil 30 μg i.v.
- Injektionsanästhetikum, bspw.
- Muskelrelaxans, bspw.
- Rocuronium 80–100 mg i.v. oder
- Succinylcholin 100 mg i.v.
- Analgetikum, bspw.
- Atemwegssicherung
- Ggf. Narkosevertiefung
- Narkoseaufrechterhaltung: Repetitionsdosis alle 20–30 min
Bei kardial gefährdeten Personen ist besonders auf eine stabile Hämodynamik, die Sauerstoffversorgung und die Vermeidung einer Hypotonie zu achten!
Komplikationen
Inadäquate Narkosetiefe
- Mögliche Ursachen
- Zu geringe Dosierung von Injektionsanästhetikum und/oder Opioid
- Fehlendes Abwarten des Wirkungseintritts
- Verwechslung von Medikamenten
- Fehllage des periphervenösen Zugangs
- Management
Hämodynamische Instabilität
- Mögliche Ursachen
- Vasodilatation durch Anästhetika
- Volumenmangel
- Hämorrhagischer Schock
- Management
- Engmaschiges Monitoring
- Medikamente vorsichtig dosieren
- Frühzeitige Volumengabe
- Medikamentöse Kreislaufunterstützung bereithalten
Hypoxie
- Mögliche Ursachen
- Unzureichende Präoxygenierung
- Schwierige Atemwegssicherung bzw. Verzögerung bei der Intubation
- Diskonnektion der Beatmungsschläuche oder des Tubus
- Management
- Ausreichende Präoxygenierung
- Zügige Atemwegssicherung
- Engmaschiges Monitoring und frühzeitige Intervention bei Sättigungsabfall
- Technische Fehler ausschließen bzw. beheben
Aspiration
- Mögliche Ursachen
- Regurgitation
- Blutung im Mund-/Rachenraum
- Management
- Sofort absaugen
- Atemweg sichern, ggf. mit alternativen Atemwegshilfen
- Sauerstoffgabe
- Siehe auch: Therapeutisches Vorgehen bei Aspiration
Schwieriges Atemwegsmanagement
- Mögliche Ursachen
- Anatomische Besonderheiten, Prädiktoren für einen schwierigen Atemweg
- Blut oder Erbrochenes im Atemweg
- Ursachen je nach Verfahren
- Management, siehe: Vorgehen bei unerwartet schwierigem Atemweg
Die sichere Beherrschung von Komplikationen erfordert präventive Maßnahmen, vorbereitete Alternativen und ein strukturiertes Vorgehen im Team!
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.