Abstract
Frakturen innerhalb des Beckenrings zeigen eine zweigipflige Altersverteilung: Bei jüngeren Patienten (2.–3. Lebensjahrzehnt) treten sie meist im Rahmen eines Polytraumas bei Verkehrsunfällen oder Stürzen aus großer Höhe auf, bei älteren Patienten (um das 7. Lebensjahrzehnt) hingegen aufgrund der osteoporotischen Knochenstruktur häufiger nach Niedrigrasanztraumen (wie Sturz aus dem Stand).
Bei der Einteilung der Beckenringfrakturen nach der AO-Klassifikation ist insb. der Zustand des hinteren Beckenrings von Bedeutung, aus dem sich die Stabilität ergibt: Bei Typ-A-Frakturen ist er intakt, bei Typ-B-Frakturen partiell und bei Typ-C-Frakturen komplett unterbrochen. Die Einteilung ist therapiebestimmend und erfordert eine zügige Bildgebung.
Stabile Beckenringfrakturen können meist konservativ mit kurzzeitiger Bettruhe und anschließender schmerzadaptierter Mobilisation behandelt werden. Instabile Beckenringfrakturen erfordern hingegen eine operative Versorgung. In der Notfallsituation (insb. bei starken Blutungen und hämodynamischer Instabilität) kann die Anlage einer Beckenzwinge oder eines Fixateur externe nötig sein. Eine definitive osteosynthetische Versorgung (z.B. durch eine Plattenosteosynthese oder Verschraubung) erfolgt dann nach Stabilisierung der hämodynamischen Situation.
Die Acetabulumfraktur gehört zu den Beckenfrakturen, wird aber aufgrund ihrer unterschiedlichen Klinik und Therapie von den Beckenringfrakturen abgegrenzt und in einem gesonderten Kapitel behandelt.
Formen der Beckenfrakturen
Zu den Frakturen des Beckenknochens gehören die Beckenring- sowie die Acetabulumfrakturen. Inhalt dieses Kapitels sind nur die Beckenringfrakturen.
- Beckenringfrakturen : Frakturen innerhalb des Beckenrings, der aus dem Os sacrum und den Ossa coxae gebildet wird
- Einteilung nach Lokalisation
- Vordere Beckenringfraktur = Fraktur im anterioren Bereich des Beckenrings
- Sonderform Schmetterlingsfraktur: Beidseitige vordere Beckenringfraktur
- Hintere Beckenringfraktur = Fraktur im hinteren Bereich des Beckenrings
- Vordere Beckenringfraktur = Fraktur im anterioren Bereich des Beckenrings
- Einteilung nach Schweregrad
- Komplexe Beckenringfraktur: Beckenringfraktur mit peripelvinen Begleitverletzungen. [1]
- „Unkomplizierte“ Beckenringfraktur: Rein osteoligamentäre Verletzung ohne schwerwiegende Begleitverletzungen
- Einteilung nach Lokalisation
- Acetabulumfrakturen : Acetabulumfrakturen werden in einem separaten Kapitel behandelt.
Epidemiologie
- Inzidenz: Etwa 3–8% aller Frakturen [2]
- Zwei Altersgipfel [2]
- Zusammenhang mit Polytraumen
- Polytrauma-Patienten weisen zu etwa 25% Beckenverletzungen auf [3]
- Patienten mit Beckenringfraktur sind zu 50% polytraumatisiert [4]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Hochrasanztrauma: Häufigster Unfallmechanismus bei jungen Menschen [2]
- Verkehrsunfall
- Sturz aus großer Höhe
- Niedrigrasanztrauma: Häufigster Unfallmechanismus bei alten Menschen [2]
- „Inadäquates“ Trauma führt zu einer Insuffizienzfraktur (oder auch „Fragilitätsfraktur“) aufgrund einer verminderten Knochenfestigkeit, meist durch Osteoporose [5]
- Mechanismus
- Stolpersturz aus dem Stand
- Sturz aus niedriger Höhe (Sitzen, Bett) auf die Hüfte
Klassifikation
AO-Klassifikation der Beckenringfrakturen - Stand 2018 [6]
Die Frakturklassifikation der AO (Stand 2018) richtet sich nach der Intaktheit bzw. dem Verletzungsgrad des hinteren Beckenrings. Hieraus ergibt sich die Stabilität.
Frakturtyp | Komplexität | Stabilität |
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A - Intakter hinterer Beckenring |
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B - Partielle Unterbrechung des hinteren Beckenrings |
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C - Komplette Unterbrechung des hinteren Beckenrings |
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Klassifikation der Fragilitätsfraktur des Beckens (FFP)
Fragilitätsfrakturen des Beckens sind häufig osteoporoseassoziiert. Ihre Klassifikation basiert auf der Frakturmorphologie sowie der daraus resultierenden Stabilität und dient u.a. zur Hilfe bei Therapieentscheidungen. Verletzungen vom Typ I und Typ II gelten eher als stabil und können meist konservativ behandelt werden, wogegen Typ-III- und Typ-IV-Verletzungen als instabil gelten und i.d.R. operativ versorgt werden sollten.
FFP-Klassifikation nach Rommens (2013) [7] | ||
---|---|---|
Klassifikation | Verletzungsmuster | Komplexität |
Typ I | Isolierte Fraktur des vorderen Beckenrings | IA: Einseitige Verletzung |
IB: Beidseitige Verletzung | ||
Typ II | Nicht-dislozierte Fraktur des hinteren Beckenrings | IIA: Isolierte dorsale Verletzung |
IIB: Stauchungsfraktur des Os sacrum plus Verletzung des vorderen Beckenrings | ||
IIC: Fraktur des Os sacrum oder Os ilium oder iliosakrale Ruptur plus Verletzung des vorderen Beckenrings | ||
Typ III | Dislozierte unilaterale Fraktur des hinteren Beckenrings + Verletzung des vorderen Beckenrings | IIIA: Os-ilium-Fraktur |
IIIB: Iliosakrale Ruptur | ||
IIIC: Os-sacrum-Fraktur | ||
Typ IV | Dislozierte bilaterale Fraktur des hinteren Beckenrings | IVA: Beidseitige Os-ilium-Fraktur oder iliosakrale Ruptur |
IVB: Beidseitige Os-sacrum-Fraktur | ||
IVC: Kombinationsverletzungen mit beidseitiger dorsaler Instabilität |
Pathophysiologie
Biomechanischer und anatomischer Hintergrund
- Aufbau
- Das knöcherne Becken bildet eine Ringstruktur aus Os sacrum (dorsal) und den Ossa coxae (Hüftbeinen)
- Ventral wird der Beckenring durch die Symphyse, eine faserknorpelige Verbindung (Synchondrose) mit schwachen Bandverbindungen, geschlossen
- Dorsal stabilisieren feste Bänder des Sakroiliakalgelenkes den Beckenring
- Trotz fester Verbindungen über SI-Gelenk und Symphyse ist eine Restflexibilität möglich
- Für weitere Informationen zum knöchernen Aufbau siehe auch: Becken und Hüfte - Knöcherne Anatomie
- Stabilität: Ergibt sich insb. aus der Intaktheit des hinteren Beckenrings
- Stabil: Mobilisation provoziert keine Dislokation im Beckenring
- Rotatorische Instabilität: Rotation der Beckenhälfte(n) um die Achse des Körpers
- Vertikale Instabilität: Vertikale Verschiebung entlang der Achse des Körpers
Verletzungsmuster nach Art der Krafteinwirkung
- Anterior-posteriore Krafteinwirkung → Open-Book-Verletzungen (Symphysensprengung mit ggf. Verletzung des hinteren Beckenringes)
- Laterale Krafteinwirkung → Komprimierung des Beckens mit folgender Innenrotation der betroffen Beckenhälfte und meist konsequenter Fraktur
- Axiale Krafteinwirkung → Vertikale Abscherfraktur mit kompletter Unterbrechung des hinteren Beckenringes – ligamentär und/oder ossär
Symptome/Klinik
- Schmerz
- Bewegungsminderung im Hüftgelenk
- Beckenschiefstand und Beinlängendifferenz
- Perineales oder inguinales Hämatom
- Ggf. Zeichen eines hämorrhagischen Schocks
- Ggf. Begleitverletzungen
- Siehe hierzu auch: Begleitverletzungen von Beckenringfrakturen
Eine isolierte einseitige vordere Beckenringfraktur kann mit milder Symptomatik einhergehen!
Präklinisches Management
Das präklinische Management richtet sich nach der Schwere und Komplexität des Traumas. Bei komplexer Beckenringverletzung (bspw. im Rahmen eines Polytraumas) stehen eine hämodynamische und mechanische Stabilisierung sowie ein schneller Transport in die Klinik im Vordergrund.
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- Ersteinschätzung: Kontrolle und Sichern der Vitalfunktionen
- Ggf. Sauerstoffgabe, i.v.-Zugang, Volumenersatz, Katecholamine bei Hypotonie/Bradykardie, ggf. Intubation
- (Notfall‑)Anamnese: Bspw. nach SAMPLE-Schema mit Fokus auf Unfallmechanismus, ggf. als Fremdanamnese
- Körperliche Untersuchung (bei polytraumatisierten Patienten: Vorgehen nach dem ABCDE-Schema)
- Trauma-Check: Mit Fokus auf Becken und mögliche Begleitverletzungen
- Inspektion
- Ggf. vorsichtige Untersuchung der Beckenstabilität [1][2]
- Ausschluss von Begleitverletzungen, inkl. rektaler/vaginaler Untersuchung
- Neurologischer Status (grob orientierend, Fokus auf Innervationsgebiet des Plexus sacralis: Ausfälle an Ober- und Unterschenkel)
- Trauma-Check: Mit Fokus auf Becken und mögliche Begleitverletzungen
- Ersteinschätzung: Kontrolle und Sichern der Vitalfunktionen
- Monitoring: Pulsoxymetrie, Blutdruck, EKG
- Venöser Zugang und schmerzadaptierte Analgesie: Bspw. mit Piritramid
- Behandlung und Prophylaxe einer opioidinduzierten Übelkeit: Insb. bei opioidnaiven Patienten, bspw. mit Dimenhydrinat
- Lagerung und Transport
- Lagerung mit stabilisiertem Becken , ggf. Kompression der Beckenhälften zum Schluss des Beckenrings mit Vakuummatratze, Beckengurt oder Tuchumschlingung
- Transport in ein Krankenhaus mit unfallchirurgischer Versorgung
- Bei Polytrauma-Patienten: Voranmeldung und Transport in ein Krankenhaus mit Schockraum [1]
Vorgehen in der Notaufnahme
Bei Patienten nach Polytrauma erfolgt die Versorgung nach ATLS-Algorithmus im Schockraum, siehe hierzu auch: Klinische Primärversorgung beim Polytrauma
Neben der Sicherung der Vitalparameter hat eine schnelle Identifikation einer Blutung höchste Priorität.
- Erstmaßnahmen
- Übergabe durch Rettungspersonal
- Kontrolle von Vigilanz und Vitalparametern
- Monitoring: Pulsoxymetrie, Blutdruck, EKG
- Venöser Zugang: Mind. 2 großlumige, periphere Zugänge
- Anamnese und körperliche Untersuchung
- (Fremd‑)Anamnese: I.d.R. als Notfallanamnese, bspw. nach SAMPLE-Schema
- Fokus: Unfallhergang, Schmerzanamnese, Bewusstseinsstatus und Medikamentenanamnese (orale Antikoagulation)
- Trauma-Check: Mit Fokus auf Becken und mögliche Begleitverletzungen
- Inspektion
- Ggf. vorsichtige Untersuchung der Beckenstabilität [1][2]
- Ausschluss von Begleitverletzungen, inkl. rektaler/vaginaler Untersuchung
- (Fremd‑)Anamnese: I.d.R. als Notfallanamnese, bspw. nach SAMPLE-Schema
- Blutentnahme
- Kleines Blutbild, Gerinnungsanalyse, klinische Chemie
- Ggf. Kreuzblut
- Ggf. Laktat und BGA
- Bei Frauen in gebärfähigem Alter: Schwangerschaftstest
- Schmerzadaptierte Analgesie: Unter Berücksichtigung bereits erhaltener Medikamente
- Bildgebung [1]
- Beckenübersichtsaufnahme (ggf. plus Inlet-/Outlet-Aufnahme) und/oder
- CT des Beckens (Ggf. bei Polytrauma als Ganzkörper-CT)
- FAST (Sonografie): Ausschluss innerer Blutungen, insb. bei instabiler Fraktur, Polytrauma oder Hochrasanztrauma
- Bei hämodynamischer Instabilität
- Atemwegssicherung: Intubation und Beatmung (wenn nicht schon präklinisch erfolgt)
- Aggressive Volumengabe
- Gabe kristalloider und kolloidaler Lösungen
- Transfusion von Plasma- und Erythrozytenkonzentraten
- Siehe auch: Transfusion bei hämorrhagischem Schock und Hypovolämischer Schock - Klinisches Management
- Mechanische Blutstillung [1]: Bspw. mit
- Fixateur externe
- Beckenzwinge
- Beckengürtel
- Bei anhaltender Blutung/Instabilität: Je nach Befund Blutstillung durch
- Beckentamponade
- Angiografie und Embolisation
- Nach Stabilisierung
- ITS-Aufnahme zur weiteren Stabilisierung und Optimierung vor definitiver chirurgischer Versorgung
- Definitive Versorgung in Abhängigkeit vom Frakturtyp, siehe Beckenringfrakturen - Therapie
- Bei vermutetem Arbeitsunfall: Meldung an die gesetzliche Unfallversicherung
Diagnostik
Bei Beckenringfrakturen im Rahmen eines Polytraumas laufen diagnostische und therapeutische Maßnahmen parallel ab. Siehe für das entsprechende Vorgehen:
Anamnese und klinische Untersuchung [2][9]
Die Ausführlichkeit von Anamnese und klinischer Untersuchung richtet sich nach dem Schweregrad des Traumas.
- Ersteinschätzung: Allgemeinzustand, Vitalparameter und Vigilanz
- Prüfen, ob eine unmittelbare Lebensgefahr durch hämodynamische Instabilität besteht
- (Notfall‑)Anamnese mit Fokus auf Unfallmechanismus, ggf. fremdanamnestisch
- Besonderheit bei älteren Patienten mit minderer Knochenstruktur: Unfall oft nicht erinnerlich
- Inspektion: Fokus auf
- Wunden, Hämatome, Prellmarken
- Beinlängendifferenz
- Asymmetrien
- Blutung aus Urethra/Vagina/Anus
- Palpation/Funktionsuntersuchung
- Lokalisation des Schmerzes
- Ggf. vorsichtige Prüfung der Beckenstabilität [1]
- Stabiles Becken: Seitliche und ventrodorsale Kompression des Beckens lösen keine Bewegung aus
- Federnde Instabilität: Bei ventrodorsaler und seitlicher Kompression federnde Bewegung innerhalb des Beckenrings
- Rotationsinstabilität: „Schließen“ bei seitlicher Kompression des Beckens, keine Beweglichkeit nach kranial/kaudal
- Komplette Instabilität: Beweglichkeit des Beckenrings bei seitlicher und ventrodorsaler Kompression sowie unabhängige Beweglichkeit der jeweiligen Beckenhälfte bei Bewegung des Beins vom Rumpf
- Untersuchung des Hüftgelenks
- Digital-rektale Untersuchung [9]
- Prüfung peripherer Durchblutung beider Beine: Tastbarkeit der peripheren Fußpulse
- Neurologischer Status: Fokus auf sensible und motorische Innervation der unteren Extremität (Versorgungsgebiet des Plexus lumbosacralis )
Bei Beckenringverletzungen ist ein massiver, lebensbedrohlicher Blutverlust möglich!
Bildgebung [2][9]
Je nach Komplexität des Traumas und örtlichen Verfügbarkeiten variiert der Ablauf. Teilweise erfolgt die CT erst nach einer konventionellen Röntgenaufnahme, teilweise (insb. bei Polytraumen) wird diese primär durchgeführt.
- Röntgen
- Standard: Konventionelle Beckenübersicht a.p.
- Bei Frakturnachweis: Zusätzliche a.p.-Schrägaufnahmen (Inlet-/Outlet-Projektion)
- CT
- Bei Polytrauma: Standard im Rahmen der Trauma-Diagnostik als kontrastmittelgestützte CT [2]
- Bei V.a. Verletzung des dorsalen Beckenrings [9]
- Bei älteren Patienten großzügige Indikation zur CT [10]
- Vorteil gegenüber Beckenübersichtsaufnahme: Detailliertere Darstellung und Ausschluss weiterer Verletzungen (Weichteile, Bänder, intraabdominelle Organe)
- E-FAST (Sonografie): Zum Ausschluss innerer Blutungen, insb. bei Polytrauma-Patienten
- Erweiterte Bildgebung
- Ausscheidungsurografie, retrograde Urethrografie oder Zystogramm: Bei V.a. eine Verletzung der ableitenden Harnwege
- MRT: Keine Routinediagnostik bei Erwachsenen, ggf. jedoch bei [2]
- Geriatrischen Patienten
- Kindern
- Knochendichtemessung: Bei V.a. Osteoporose-assoziierte Fraktur [11]
Labordiagnostik [2]
- Blutbild, Gerinnungslabordiagnostik und klinische Chemie: Einschätzung von Blutverlusten, OP-Vorbereitung
- Kreuzblut und Bestimmung der Blutgruppe: Zur Bereitstellung von Erythrozytenkonzentraten bei schweren Blutungen bzw. zur OP-Vorbereitung
- BGA (inkl. Laktat und Base Excess): Beurteilung der Schwere eines hämorrhagischen Schocks
- Frauen im gebärfähigen Alter: HCG (Schwangerschaftstest)
Therapie
Allgemeine Überlegungen zur Therapie
Die Therapie hängt vom Ausmaß der Fraktur und der Kreislaufsituation ab: Bei instabilen und komplexen Frakturen mit hämodynamischer Instabilität ist häufig eine Notfallstabilisierung des Beckens bis hin zur operativen Blutstillung indiziert. Die definitive osteosynthetische Versorgung erfolgt im Nachgang. Bei unkomplizierten Beckenringfrakturen hingegen ist die Frakturklassifikation und definitive operative Versorgung (sofern indiziert) vordergründig.
Notfalltherapie bei hämodynamisch instabiler Beckenringfraktur [1][12]
- Ausgangssituation
- Mechanisch instabile, meist komplexe Beckenringfraktur mit starkem Blutverlust
- Häufig im Rahmen eines Polytraumas
- Vorgehen: Initiale Stabilisierung im Rahmen des Polytrauma-Managements
- Primärphase: Notfallmäßige Stabilisierung durch
- Mechanische Stabilisierung des Beckens mit bspw. [12][13]
- Beckengurt
- Beckenzwinge nach Ganz
- Fixateur externe
- Siehe auch: Versorgung kritischer Blutungen bei Beckenfraktur
- Infusionstherapie und Massivtransfusion
- Versorgung lebensbedrohlicher Begleitverletzungen
- Bei erfolgloser Stabilisierung ggf. operative/interventionelle Blutstillung mit bspw.
- Operativer Beckentamponade
- Angiografie und Embolisation [3]
- Mechanische Stabilisierung des Beckens mit bspw. [12][13]
- Sekundärphase (nach erfolgreicher hämodynamischer Stabilisierung)
- Weitere Diagnostik und Therapie anderer Körperregionen gemäß Traumaprotokoll
- Entscheidung über definitive Versorgung je nach Frakturtyp
- Primärphase: Notfallmäßige Stabilisierung durch
Konservative Therapie von Beckenringfrakturen [14]
- Indikation
- Typ-A-Frakturen
- Ausnahmen
- Beckenrandverletzungen bzw. Abrissfrakturen des Beckens mit größerer Fragmentdislokation >2 cm, Athleten
- Dislozierte Sakrumfraktur mit Nervenwurzeldefizit
- Ausnahmen
- Stabile Typ-B1-Frakturen
- Minimal dislozierte Open-Book-Verletzung
- Stabile eingestauchte laterale Kompressionsfraktur
- Bei Vorliegen von Kontraindikationen für eine operative Versorgung
- Typ-A-Frakturen
- Durchführung
- Adäquate Schmerztherapie [5]
- Thromboseprophylaxe
- Frühfunktionelle physio- und ergotherapeutische Beübung
- Schrittweise Mobilisierung auf Unterarmgehstützen
- Bei Osteoporose-assoziierter Fraktur: Therapie der Osteoporose [5]
Übersicht: Operative Therapie von Beckenringfrakturen
Die folgende Zusammenfassung gibt einen groben Überblick über Ziele, Indikationen und gängige Therapieverfahren der Beckenringfraktur. Für Details siehe auch: Operative Verfahren bei Beckenringfraktur
- Therapieziel: Wiederherstellung der Stabilität des Beckens und frühzeitige Mobilisation des Patienten
- Indikation
- Zugang: Ventral oder dorsal, abhängig von Stabilität und Frakturform
- Verfahren
- Häufig: Osteosynthese mittels Verschraubung oder Verplattung angewandt
- Zusätzlich: Zeitnahe Versorgung möglicher Begleitverletzungen
Operative Therapie bei Beckenringfrakturen
Therapieziel
- Wiederherstellung der rotatorischen und vertikalen Stabilität des Beckens
- Frühzeitige Mobilisation des Patienten: Vermeidung einer langfristigen Immobilisation und den damit verbundenen Folgekomplikationen
Indikation zur operativen Versorgung
- Typ-A-Fraktur
- Stark dislozierte Frakturen mit (drohender) Perforation
- Transpubische Instabilität
- Typ-B-Fraktur mit (partieller) Instabilität
- Typ-C-Fraktur
- Sakrumfraktur
- Transalarer Frakturverlauf
- Zentraler Frakturverlauf : Bei instabiler Fraktur
- Transforaminaler Frakturverlauf
OP-Zeitpunkt
- Notfall mit relevanter Kreislaufinstabilität: Sofort vor ausführlicher Diagnostik
- Bei Polytrauma: Endgültige Versorgung nach Stabilisierung der Vitalparameter und weiterer lebensbedrohlicher Verletzungen
- Siehe auch: Notfalltherapie bei hämodynamisch instabiler Beckenringfraktur
- (Partielle) Stabilität des Beckens ohne Kreislaufinstabilität: Frühestmöglicher Zeitpunkt nach ausführlicher Diagnostik
- Insuffizienzfrakturen : Zeitnah innerhalb der 1. Woche nach Diagnosestellung
Präoperatives Management
- Chirurgische Aufklärung über Art des Eingriffs und Risiken, insb.
- Verletzung benachbarter Strukturen, insb. Hohlorgane
- Lebensbedrohliche (Nach‑)Blutung
- Thrombose und konsekutive (Lungen‑)Embolie
- Materialdislokation, -lockerung und -bruch
- Pseudarthrose
- Postoperative Beschwerdepersistenz
- Ausweitung des Eingriffs nach intraoperativem Befund und ggf. Folgeeingriffe
- Für weitere Details siehe auch: Chirurgische Aufklärung
- Anordnungen
- Präoperative Planung
- Cell Saver, siehe auch: Maschinelle Autotransfusion
- Carbontisch und 3D-Bildwandler
- Sicherstellung einer postoperativen, intensivstationären Überwachung
- Für weitere Informationen zum präoperativen Management siehe auch: Präoperative Diagnostik und Laboruntersuchungen und elektive OP-Vorbereitung
Durchführung der OP
Perioperatives Management
- Perioperative Antibiotikaprophylaxe
- Für allgemeine Hinweise siehe auch: Unmittelbar perioperatives Management
Zugang [16][17]
- Pfannenstielzugang in Rückenlage
- Modifizierter Stoppa-Zugang
- Ilioinguinaler Zugang nach Letournel
- Dorsaler Zugang zum Sakrum in Bauchlage: Inzision median über den sakralen Dornfortsätzen bis in die Rima ani
- Lateraler, minimalinvasiver Zugang auf Höhe S1 in Bauch- oder Rückenlage
Operative Verfahren bei Beckenringfraktur (nach Frakturform) [2][16][17][18]
Abhängig von Stabilität und Frakturform wird sich zunächst für eine ventrale oder dorsale operative Frakturversorgung entschieden. Typ-A- und Typ-B-Frakturen werden meist nur von ventral versorgt, Typ-C-Frakturen zunächst von dorsal und ggf. anschließend von ventral. In vielen Fällen wird eine Osteosynthese mittels Verschraubung oder Verplattung angewandt, bei schlechter Knochenstruktur kann diese auch einzementiert werden.
Frakturform | Häufige Zugänge und Verfahren |
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Stark dislozierte Typ-A-Frakturen mit Gefahr der Perforation |
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Transpubische Instabilität |
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Symphysenruptur
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Kombination: Symphysenruptur + transpubische Instabilität |
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Open-Book-Verletzung |
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Fraktur des Os ilium |
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Iliosakralfugensprengung |
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Transiliakale Fraktur |
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Laterale und transforaminale Sakrumfrakturen |
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Postoperatives Prozedere
- Postoperatives Akutmanagement
- Sicherstellung einer adäquaten Schmerztherapie: Beispielalgorithmus für die Schmerztherapie auf Station
- Verordnung von Physiotherapie und Organisation von Hilfsmitteln zur physiotherapeutischen Beübung
- Wenn nicht präoperativ erfolgt: TVT-Prophylaxe für 28–35 Tage
- Siehe auch: Postoperative Thromboseprophylaxe in der Orthopädie und Unfallchirurgie
- Postoperative ärztliche Verlaufskontrollen in der Orthopädie und Unfallchirurgie inkl. regelmäßiger Wundkontrollen
- Bei ausreichender Mobilisation: Entfernung des Blasenkatheters
- Siehe auch: Postoperatives Management auf Station
- Planung von Rehabilitationsmaßnahmen und Sicherstellung der weiteren häuslichen Versorgung
- Nachbehandlungsschema
- Funktionelle Nachbehandlung mit frühzeitiger, schmerzadaptierter Mobilisation an Unterarmgehstützen
- Nach Symphysenverplattung: Volle Belastungsstabilität
- Nach transpubischer Osteosynthese: Abrollbelastung für 6 Wochen
- Sonst meist Teilbelastung mit 15–20 kg für 6 Wochen
- Als Musterbeispiel eines Nachbehandlungsschemas siehe auch: DGOU-Nachbehandlungsempfehlung: Operativ versorgte Beckenfraktur
- Röntgenkontrolle : Postoperativ, nach 6 Wochen
- Nach 6 Wochen Beginn einer Aufbelastung bis zur Vollbelastung nach 10–12 Wochen
- Je nach Verfahren: Planung einer Metallentfernung nach 6–8 Monaten , sonst generell eher keine Metallentfernung
- Funktionelle Nachbehandlung mit frühzeitiger, schmerzadaptierter Mobilisation an Unterarmgehstützen
- Für weitere Informationen siehe auch: Nachsorge in der Orthopädie und Unfallchirurgie
DGOU-Nachbehandlungsempfehlung: Operativ versorgte Beckenfraktur
Allgemeines [19]
Thromboseprophylaxe
- Basismaßnahmen und physikalische Maßnahmen
- Medikamentöse Prophylaxe für 28–35 Tage, siehe auch: Thromboseprophylaxe - Operative Eingriffe
Stabilität
- Bis Woche 2: Bewegungsstabilität
- Bis Woche 12: Belastungsstabilität
- Anschließend: Trainingsstabilität
Zeitliches Vorgehen
Zeit | Behandlungsziel | Maßnahmen |
---|---|---|
OP-Tag |
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≥Tag 1 |
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≤Tag 2 |
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≤Tag 3 |
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≤Woche 2 |
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≤Woche 6 |
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Woche 6 |
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≤Woche 12 |
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≤Woche 16 |
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≥5. Monat |
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≥9. Monat |
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Komplikationen
- Intra- und retroperitoneale Blutungen bis hin zum hämorrhagischen Schock
- Kompartmentsyndrom des Beckens [12]
- Thrombose
- Begleitverletzungen von Beckenringfrakturen: Insb. im Rahmen eines Polytraumas häufig, bspw.
- Schädel-Hirn-Trauma
- Thoraxtrauma
- Verletzungen von Blase, Urethra oder Darm
- Gefäßverletzungen [12]
Aufgrund der hohen Thrombosegefahr bei Beckenverletzungen muss immer eine Thromboseprophylaxe durchgeführt werden!
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- 1-Jahres-Mortalität nach Beckenringfraktur zwischen 8–27% [11]
- Letalität von Patienten bei instabilen Beckenfrakturen und starker Blutung: 55% [20]
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- S32.-: Fraktur der Lendenwirbelsäule und des Beckens
- S32.1: Fraktur des Os sacrum
- S32.2: Fraktur des Os coccygis
- S32.3: Fraktur des Os ilium
- S32.5: Fraktur des Os pubis
- S32.7: Multiple Frakturen mit Beteiligung der Lendenwirbelsäule und des Beckens
- S32.8-: Fraktur sonstiger und nicht näher bezeichneter Teile der Lendenwirbelsäule und des Beckens
- S32.81: Os ischium
- S32.82: Lendenwirbelsäule und Kreuzbein, Teil nicht näher bezeichnet
- S32.83: Becken, Teil nicht näher bezeichnet
- S32.89: Sonstige und multiple Teile des Beckens
- Laterale Kompressionsfraktur
- Malgaigne-Fraktur
- Schmetterlingsbruch
- Sonstige komplexe Beckenfrakturen
- Vertikale Abscher-Fraktur [Vertical shear fracture]
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.