Zusammenfassung
Die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) ist eine globale Schädigung des Gehirns, die durch eine Sauerstoffmangelversorgung entsteht. Die häufigste Ursache ist ein reduzierter zerebraler Blutfluss infolge eines Herz-Kreislauf-Stillstands, der durch kardiopulmonale Reanimation überlebt wurde.
Klinisch zeigt sich ein zerebrales Allgemeinsyndrom mit quantitativen und qualitativen Bewusstseinsstörungen, die von leichten Defiziten (bspw. Aufmerksamkeitsstörungen, leichtes Delir) über komatöse Zustände bis zum persistierenden vegetativen Status reichen können. Die Mehrheit der Personen nach erfolgreicher Reanimation ist zunächst komatös. Therapeutisch steht unmittelbar nach Wiedererlangen des Spontankreislaufes die Neuroprotektion zur Minimierung der ischämischen Hirnschädigung sowie die Ursachenbehebung im Vordergrund. Danach ist die multimodale Prognoseeinschätzung von besonderer Bedeutung, um im intensivmedizinischen Setting eine Therapiestrategie festzulegen bzw. bei infauster Prognose eine Beendigung der Therapie einzuleiten. Die neurologische Prognoseeinschätzung sollte frühestens 72 Stunden nach der Reanimation erfolgen und integriert Zeichen einer Hirnschädigung aus der neurologischen Untersuchung, elektrophysiologische Befunde, Biomarker und bildgebende Befunde. Trotz der Schwere der Erkrankung können etwa die Hälfte der Patient:innen nach erfolgreicher außerklinischer Reanimation ein gutes neurologisches Outcome erreichen.
Für die Besonderheiten der HIE von Neugeborenen siehe: Perinatale Asphyxie und hypoxisch-ischämische Enzephalopathie!
Definition
- Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE)
- Enzephalopathie infolge einer globalen zerebralen Ischämie
- Auftreten bei Erwachsenen i.d.R. im Rahmen eines Herz-Kreislauf-Stillstands
- Bestandteil des Postreanimationssyndroms
Epidemiologie
- Geschätzte Inzidenz der HIE über alle Schweregrade: 5/100.000
- Schwere HIE (mit anhaltender schwerer Bewusstseinsstörung)
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Kardiale Erkrankungen (ca. ⅔ der Fälle)
- Koronare Herzkrankheit, insb. Myokardinfarkte
- Höhergradige Herzrhythmusstörungen im Rahmen anderer kardialer Erkrankungen
- Nicht-kardiale Ursachen (ca. ⅓ der Fälle), bspw.
- Respiratorische Insuffizienz
- Vaskuläre Notfälle
- Zerebrale Pathologien
- Stromunfall
- Intoxikation
Pathophysiologie
- Schädigungsmechanismen (i.d.R. kombiniert) [1][2]
- Ischämisch: Globale zerebrale Ischämie durch insuffizienten zerebralen Blutfluss
- Bspw. prolongierte Reanimation
- Hypoxisch: Primäre zerebrale Hypoxie durch Sauerstoffmangelversorgung, Blutfluss zunächst erhalten
- Ischämisch: Globale zerebrale Ischämie durch insuffizienten zerebralen Blutfluss
- Gemeinsame Endstrecke
- Diffuser Ausfall des Funktionsstoffwechsels der Neuronen → Vielgestaltige nicht-fokale Symptomatik (im Sinne eines zerebralen Allgemeinsyndroms); Störung aber noch prinzipiell reversibel
- Bei weiter persistierender Störung: Übergang zum Ausfall des Strukturstoffwechsels der Neuronen → Entstehung irreversibler Schäden
- Zeitlicher Verlauf (basierend auf tierexperimentellen Daten)
- 2 min: Hirngewebe nicht mehr oxygeniert
- 3 min: Beginnender Zelluntergang
- 4 min: ATP-Speicher auf 25% gesunken
Symptomatik
Für eine allgemeine Beschreibung der akuten Enzephalopathie-Symptomatik siehe: Zerebrales Allgemeinsyndrom!
Zeitlicher Verlauf und charakteristische Symptomatik [1][3]
- Erstsymptome
- Unspezifische Symptome wie Konzentrationsstörungen, Verwirrtheit, Schwindel
- Nach ca. 10 s Übergang in Bewusstlosigkeit
- Akutphase
- Koma
- Ggf. Myoklonien
- Ggf. Beugesynergismen oder Strecksynergismen als Reaktion auf Schmerzreiz
- Postakute Phase (nach ROSC)
- Bewusstsein
- Schwere HIE: Mehrheitlich Zustände persistierender schwerer Vigilanzminderung
- Koma
- Syndrom der reaktionslosen Wachheit
- Syndrom des minimalen Bewusstseins (SMB) bzw. Minimally conscious State (MCS)
- Eindeutige und reproduzierbare Anzeichen der Eigen- oder Umweltwahrnehmung vorhanden
- Befolgen einfacher Aufforderungen möglich
- Keine verbale oder non-verbale Kommunikation möglich
- Kognitiv-motorische Dissoziation („non-behavioraler MCS“)
- Leichte HIE: Erwachen häufiger, meist innerhalb einer Woche
- Schwere HIE: Mehrheitlich Zustände persistierender schwerer Vigilanzminderung
- Motorische Störungen
- Epileptische Anfälle
- Posthypoxische Myoklonien (20–30% der Patient:innen)
- Unwillkürliche, kurze, arrhythmische Zuckungen
- Generalisiert oder seltener lokal (bspw. nur Gesicht oder eine Extremität)
- Auch als Status myoclonicus
- Beuge- und Strecksynergismen
- Bewusstsein
Diagnostik
Basisdiagnostik zur Ursachensuche [1]
- Kardiale Abklärung
- Wiederholte 12-Kanal-EKGs
- TTE
- Ggf. Linksherzkatheteruntersuchung
- Notfallsonografie
- Bei V.a. nicht-kardiale Genese oder nach Ausschluss kardialer Ursachen: Unmittelbares CT von Kopf, Hals, Thorax und ggf. Abdomen
- Siehe auch: Management der Postreanimationsphase
Neurologische Prognoseabschätzung bei schwerer HIE (Erwachsene) [1]
- Ziel: Möglichst gute Einschätzung der Langzeitprognose der Hirnfunktion schwer vigilanzgeminderter Patient:innen zur Prüfung der Indikation für die Weiterführung lebenserhaltender Therapiemaßnahmen
- Zeitpunkt
- Tägliche klinische Befunderhebung mit regelmäßiger Reevaluation der Prognose
- Zusammenfassende Bewertung der multimodalen Diagnostik: Erstmals ≥ 72 h nach Reanimation
- Optimalen Zeitpunkt zur Durchführung der einzelnen Untersuchungen beachten
- Einflussfaktoren berücksichtigen
- Potenziell reversible Ursachen der Vigilanzminderung ausschließen und möglichst beseitigen
- Störfaktoren der jeweiligen Untersuchung beachten
HIE-Prognosealgorithmus nach DGN-Leitlinie (2023) [1] | |
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Parameter | Zeichen schwerer HIE |
Pupillenreflex |
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Serum-NSE-Konzentration |
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Kortikale SEP des N. medianus beidseits |
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EEG | |
cCT oder cMRT |
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Interpretation
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Die Prognostik muss multimodal in der Zusammenschau aller erhobenen Tests durchgeführt werden, niemals auf Grundlage einzelner Befunde!
In unklaren Fällen ist eine Verlaufsbeobachtung und ggf. Wiederholung von Untersuchungen vonnöten!
Neurologische Untersuchung [1]
- Parameter im HIE-Prognosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Ausgefallener Pupillenreflex ab ≥72 h
- Vollständige neurologische Untersuchung
- Täglich: Neurologische Untersuchung bei schwerer Vigilanzminderung
- Bei anhaltend schwer eingeschränkter Vigilanz
- Hinweise für irreversiblen Hirnfunktionsausfall?
- Differenzierung zwischen Koma, Syndrom der reaktionslosen Wachheit, Syndrom des minimalen Bewusstseins (wiederholte Untersuchungen)
- Störfaktoren: Analgosedierende und/oder muskelrelaxierende Medikation
- Charakteristische Befunde für eine schwere HIE
- Schwer eingeschränkte Vigilanz (siehe auch: Quantifizierung des Vigilanzniveaus)
- Motorische Reaktion auf Schmerzreiz: Keine motorische Reaktion, Strecksynergismen oder abnorme Beugesynergismen
- Kornealreflex: Bilateral ausgefallen
- Myoklonien: Myoklonien früh nach Reanimation, Status myoclonicus innerhalb der ersten 24–48 h
Bei Koma mit Hirnstammareflexie und Ausfall der Spontanatmung siehe: Feststellung eines irreversiblen Hirnfunktionsausfalls!
Das Vorliegen einzelner charakteristischer Befunde einer schweren HIE schließt ein gutes Outcome nicht aus!
Neurophysiologie [1]
- EEG
- Parameter im HIE-Prognosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Highly malignant EEG-Muster, Ableitung ab >48 h nach ROSC und ohne relevante Sedierung
- Generalisierte periodische Entladungen auf supprimiertem Hintergrund
- Burst-Suppression-Muster
- Supprimiertes EEG
- Weitere relevante Muster
- Status epilepticus im EEG (bei Verdacht EEG unmittelbar ableiten!)
- Status myoclonicus
- Prognostisch günstig: Erhaltende Reaktivität und kontinuierliche Hintergrundaktivität; Rückkehr eines EEG mit normalen Amplituden, kontinuierlicher Aktivität und Theta-/Alpha-Grundrhythmus
- Störfaktoren: Sedierende Medikation, schwere metabolische Störungen
- Parameter im HIE-Prognosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Highly malignant EEG-Muster, Ableitung ab >48 h nach ROSC und ohne relevante Sedierung
- Medianus-SEP beidseits
- Parameter im HIE-Prognosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Bilateral fehlende kortikale SEP ab ≥24 h nach ROSC und Erreichen der Normothermie
- Störfaktoren: Hoher Rauschpegel der kortikalen Ableitungen , vorbestehende oder selektive hypoxische Schädigung im Bereich der zentralen somatosensorischen Bahnen
Serum-Biomarker [1]
- Parameter im HIE-Prognosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Konzentration von NSE >90 ng/mL, 48–96 h nach Herzstillstand
- Störfaktoren: Hämolyse , Tumorerkrankung, andere akute Hirnerkrankungen, Verwendung von ECMO oder IABP, kürzlich stattgehabte Transfusionen von Erythrozyten oder Thrombozytenkonzentraten
- Weiterer Biomarker (bisher keine Routinediagnostik): Konzentration von Neurofilament-Leichtketten (NfL) >2.000 pg/mL
- Störfaktoren: Andere Hirnerkrankungen
Bildgebung [1]
- Parameter im HIE-Diagnosealgorithmus der DGN-Leitlinie (2023): Radiologische Hinweise auf schwere HIE in cCT oder cMRT im Zeitraum von 2 bis 5 Tagen nach ROSC
- Globales Hirnödem, kompletter Verlust der Mark-Rinden-Grenze
- cCT: Reduzierte „Grey-White-Matter-Ratio“, ggf. Umkehrzeichen
- cMRT: Ausgedehnte DWI-Restriktionen (Diffusionsstörungen), insb. in Kortex und Basalganglien
- Weitere Indikation: Ursachensuche unmittelbar nach ROSC
Differenzialdiagnosen
- Einfluss sedierender Wirkstoffe [1]
- Nicht-konvulsiver Status epilepticus [1]
- Postiktaler Zustand [3]
- Pseudo-Koma
- Irreversibler Hirnfunktionsausfall
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Allgemeine Therapieprinzipien
- Zu Akutmanagement und intensivstationärer Therapie bei komatösen ROSC-Patient:innen siehe
- Bei Wiedererwachen in Abhängigkeit von bestehenden Defiziten: Einschluss in neurologische Frührehabilitation Phase B, C oder D
- Bei länger anhaltendem Koma
- Behandlungsweiterführung prüfen, siehe: Neurologische Prognoseabschätzung bei schwerer HIE
- Supportive Maßnahmen, insb.
- Physiotherapie
- Enterale und parenterale Ernährung (siehe auch: Klinische Ernährung)
- Dekubitus-Prophylaxe
- Neurologische Frührehabilitation, s.u.
Neurologische Rehabilitation von Patient:innen mit schwerer HIE und anhaltender Bewusstseinsstörung [1][4]
- Ziele
- Verbesserung, bestenfalls Überwindung der schweren Bewusstseinsstörung
- Prävention sekundärer Komplikationen
- Grundsätze
- Regelmäßige standardisierte klinische Prüfung des Bewusstseinszustandes
- Regelmäßige Indikationsprüfung
- Sorgfältige Prüfung des mutmaßlichen oder dokumentierten Patientenwillens unter Einbeziehung der Angehörigen
- Therapeutische Ansätze zur Verbesserung der Bewusstseinsstörung
- Gabe von Amantadin [4][5]
- Positionierungsverfahren (Vertikalisierung mit Kipptisch)
- Sensorische Stimulationsverfahren
- Beim Syndrom des minimalen Bewusstseins: Anodale transkranielle Gleichstromstimulation des linken dorsolateralen präfrontalen Kortex mit 2 mA, 20 min/Tag über mind. 5 Tage
Aus der fehlenden Kommunikationsfähigkeit der Betroffenen ergibt sich die Pflicht zur besonders sorgfältigen Prüfung von Indikation und Patientenwillen! [4]
Komplikationen
- Lance-Adams-Syndrom: Persistieren von Myoklonien nach Wiedererwachen infolge einer hypoxischen Hirnschädigung
- Aktionsmyoklonien: Auslösung durch Willkürbewegungen
- Asterixis
- Manchmal auch mit zerebellärer Ataxie
- Verzögerte posthypoxische Leukenzephalopathie [1]
- Seltene Komplikation, ca. 2% der HIE-Betroffenen
- Ca. 1–4 Wochen nach Hypoxie-Ereignis
- Rasche klinische Verschlechterung nach initial guter Erholung mit u.a.
- Kognitiven Defiziten
- Extrapyramidal-motorischen Störungen
- cMRT: Symmetrische, homogene Läsionen im supratentoriellen Marklager (FLAIR und DWI)
- Kognitive und psychiatrische Komplikationen [1]
- Milde HIE: Kognitive Defizite bei etwa knapp der Hälfte der Betroffenen
- Depressionen und Angststörungen
- Posttraumatische Belastungsstörungen
- Fatigue
Es werden die wichtigsten Komplikationen genannt. Kein Anspruch auf Vollständigkeit.
Prognose
- Leichte HIE [1]
- Etwa 40% der außerklinisch erfolgreich reanimierten Patient:innen überleben mit gutem Outcome
- Häufig bestehen aber residuelle kognitive Defizite mit beeinträchtigter Erwerbsfähigkeit
- Schwere HIE [1]
- Bei persistierender Bewusstseinsstörung deutlich schlechteres Outcome
- Wiedererlangung des Bewusstseins möglich, aber mit zunehmender Dauer der Bewusstseinsstörung erhebliche neurologische Defizite mit Pflegebedürftigkeit anzunehmen
Die Prognose ist sehr variabel und reicht von vollständiger Erholung bis zu einem permanenten Syndrom der reaktionslosen Wachheit! Zur Prognosediagnostik siehe: Neurologische Prognoseabschätzung bei schwerer HIE!
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
G93.-: Sonstige Krankheiten des Gehirns
- G93.1: Anoxische Hirnschädigung, anderenorts nicht klassifiziert
- Exklusive
- Als Komplikation von: Abort, Extrauteringravidität oder Molenschwangerschaft
- Als Komplikation von: chirurgischen Eingriffen und medizinischer Behandlung
- Als Komplikation von: Schwangerschaft, Wehentätigkeit oder Wochenbett
- Asphyxie beim Neugeborenen
- Exklusive
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.