Abstract
Ein Hirnabszess entsteht aus einer lokal begrenzten Entzündung des Hirnparenchyms (Herdenzephalitis) durch Abkapselung. Ursächlich kann eine Vielzahl von Erregern sein. Meist handelt es sich um Bakterien; es können aber auch Infektionen mit Pilzen, Protozoen oder Würmern ätiologisch relevant sein. Die Erreger gelangen durch lokale Fortleitung (etwa bei Sinusitis oder Otitis), hämatogen (etwa bei infektiösen Endokarditiden) oder bei Traumata in das Hirnparenchym. Je nach Ort und Ausdehnung des Abszesses können Kopfschmerzen, Fieber und fokal-neurologische Defizite auftreten. Als typischer Befund zeigt sich in der Bildgebung des Kopfes durch die Abszesskapsel eine ringförmige Kontrastmittelanreicherung. Der Hirnabszess wird in der Regel operativ und mittels antibiotischer Mehrfachkombination behandelt.
Epidemiologie
Ätiologie
- Erreger: Vielzahl von Erregern mit ätiologischer Relevanz: Bakterien (teilweise als Mischinfektion, etwa ein Viertel der kulturellen Nachweise), Pilze, Protozoen und Würmer
- Bakterien [2]
- Streptokokken (ca. 40%)
- Enterobakterien (ca. 25%), darunter
- Bacteroides-Spezies (ca. 23%)
- Staphylokokken, größtenteils Staphylococcus aureus (ca. 13%)
- Peptostreptokokken (ca. 6%)
- Pasteurellaceae (ca. 6%), größtenteils Haemophilus-Spezies (ca. 4%)
- Fusobakterien (ca. 5 %)
- weitere
- Pilze
- Cryptococcus neoformans
- Protozoen
- Würmer
- Bakterien [2]
- Infektionswege
- Per continuitatem: Fortleitung bei Sinusitis, Otitis, Mastoiditis oder odontogenen Infektionen
- Hämatogen: Durch infizierte Thromben (z.B. infektiöse Endokarditis) oder im Rahmen der Ausbreitung einer Sepsis (z.B. aufgrund einer Pneumonie)
- Direkt/traumatisch: Durch offenes Schädelhirntrauma, bei neurochirurgischen Eingriffen
- Kryptogen
- Prädisposition
- Pulmonale arteriovenöse Malformationen
- Akute infektiöse Endokarditis
- Immunsuppressive Therapien (insb. nach Transplantationen, dann häufig Pilzinfektionen)
- Immunsuppression infolge Erkrankungen (insb. HIV-Infektion, dann häufig Abszesse in Folge von Toxoplasma-gondii-Infektionen)
Symptome/Klinik
- Meist subakute Symptomatik (fulminante Verläufe sind möglich)
- Kopfschmerzen (70%)
- Übelkeit oder Erbrechen (50%)
- Fieber (50 %)
- Epileptische Anfälle (25%)
- Vigilanzminderung
- Papillenödem (als Zeichen der Hirndruckerhöhung)
- Meningismus
- Weitere fokal-neurologische Defizite wie Paresen oder Aphasie je nach Abszesslokalisation und Größe des perifokalen Ödems
Meist wird die Symptomatik durch die raumfordernde Wirkung des Abszesses bestimmt! Fieber tritt nur bei etwa der Hälfte der Patienten auf!
Diagnostik
Anamnese
- Eigen- und ggf. Fremdanamnese
- Begleiterkrankungen, zurückliegende Infektionen (insb. im Kopfbereich), zurückliegendes Schädel-Hirn-Trauma
- Reiseanamnese
Bildgebung
- MRT oder CT, zur Differenzialdiagnostik jeweils mit Kontrastmittel
- Befundlokalisation: i.d.R. supratentoriell, insb. im Frontal- und Parietallappen, subkortikal
MRT
- T1: Zentral hypointense Läsion (= Nekrose), iso- bis hyperintenser Rand (= Kapsel), ggf. hypointenses Perifokalödem
- T1 mit Kontrastmittel: Zentral hypointense Läsion (= Nekrose), die ringförmig Kontrastmittel aufnimmt (= Kapsel), häufig perifokale hypointense Bereiche (= perifokales Ödem)
- T2: Zentraler hyperintenser Bereich (= Nekrose) mit iso- oder hypointensem Rand (= Kapsel) und perifokalen hyperintensen Bereichen (= perifokales Ödem)
- DWI-Sequenz: Hyperintenses zentrales Areal (hypointens in ADC)
- Magnetresonanzspektroskopie (MRS): Ermöglicht Metabolitencharakterisierung innerhalb des Abszesses; unterschiedliche Peaks erlauben (eingeschränkt) differenzialdiagnostische Überlegungen zur Abszess-Ätiologie und zu anderen Befunden
CT
- Typischer Befund: Zentral hypodense (nekrotische) Läsion mit ringförmiger Kontrastmittelaufnahme, umgeben von hypodensem Ödem
Hirnabszess - Stadienabhängigkeit der CT-Bildgebung (in MRT ähnlich) | |
---|---|
Frühes Zerebritis-Stadium |
|
Spätes Zerebritis-Stadium |
|
Frühes Kapselstadium |
|
Spätes Kapselstadium |
|
Erregerdiagnostik [2]
- Durchführung vor Beginn der kalkulierten antibiotischen Therapie!
- Blutkulturen
- Gewinnung von Abszessinhalt (mittels Punktion, Drainage oder Exzision), anschließend Kultur und/oder PCR
Weitere Diagnostik
- Serum
- CRP↑ (60–90% der Fälle)
- Leukozytose (ca. 60%)
- Kein diagnostischer Stellenwert: Procalcitonin
- Liquor
- Keine Routinediagnostik, Befunde häufig unspezifisch
- Bei raumfordernden Läsionen: Lumbalpunktion kontraindiziert (Herniationsgefahr!)
- Ggf. sinnvoll zur Erregerdiagnostik bei Begleitmeningitis oder Abszessruptur ins Liquorsystem
- EEG: Ggf. Herdbefund
Fokussuche
- Suche des infektiologischen Fokus, je nach klinischem Verdacht
- Abszess in Frontal- oder Temporallappen: Meist bei lokal fortgeleiteten Infektionen
- Multiple Abszesse: Meist nach hämatogener Ausbreitung entfernter Infektionen wie Endokarditis bzw. unter Immunsuppression
- Basisdiagnostik: Untersuchung von Mundhöhle, Rachen und Gehörgängen, HNO-ärztliche und ggf. zahnärztliche Vorstellung
- Bildgebung
- CT der Schädelbasis
- Röntgen- oder CT-Thorax
- Echokardiografie
- Abdomensonografie
- Weitere fachspezifische Untersuchungen nach vermutetem Fokus
Pathologie
Hirnabszess - Entwicklungsstadien
- Frühe Zerebritis (ca. Tag 1–3 nach Infektion)
- Fokal vorgeschädigtes Hirnparenchym (etwa mikrovaskuläre Läsion) obligat für Abszessentwicklung
- Übertritt von Erregern (meist Bakterien) aus geschädigten Gefäßen ins Parenchym
- Akkumulation von neutrophilen Granulozyten mit lokaler Entzündung und Ödembildung, in geringerem Maße auch nekrotische Areale
- Späte Zerebritis (ca. Tag 4–9 nach Infektion)
- Ausdehnung des von neutrophilen Granulozyten und Makrophagen dominierten inflammatorischen Areals
- Entwicklung einer zentralen Nekrose
- Frühes Kapselstadium (ca. Tag 10–13 nach Infektion)
- Neovaskularisation
- Kollagenfasern: Ausbildung einer dünnen vaskularisierten Kapsel (in Bildgebung: KM-Aufnahme!)
- Spätes Kapselstadium (ca. ≥14 Tage nach Infektion)
- Typische Abszesskonfiguration mit
- Zentraler Nekrose
- Saum aus Granulationsgewebe
- Vaskularisierter Kapsel aus Fibroblasten und Kollagen
- Typische Abszesskonfiguration mit
Differenzialdiagnosen
Andere raumfordernde Prozesse mit ringförmiger KM-Anreicherung in der CT
- Hirnmetastasen oder hirneigene Tumoren (Glioblastom) mit zentraler Nekrose
- Strahlennekrose
- In Resorption befindliche intrakranielle Blutung
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- In der Regel operative und antibiotische (ggf. auch antimykotische) Therapie des Hirnabszesses
- Indikation für alleinige Antibiotikatherapie
- Frühstadium ohne Abkapselung (Zerebritis)
- Multiple tief gelegene und/oder kleine Abszesse (keine Raumforderung/Liquorabflussstörung)
- Indikation für alleinige Antibiotikatherapie
- Behandlung des primären Infektionsfokus
Operative Therapie
- Ziele
- Erregerdiagnostik
- Reduktion der Raumforderung
- Methoden
- Abszessaspiration
- Standardverfahren
- Stereotaktische Bohrlochtrepanation → Abszesspunktion und -aspiration
- Anlage einer Spüldrainage möglich
- Kraniotomie mit Abszessexzision
- Offene Operation mit Entfernung der Abszesskapsel
- Indikation
- Kontraindikationen
- Frühstadium ohne Abkapselung (Zerebritis)
- Multiple Abszesse
- Gefahr iatrogener Schädigung eloquenter Areale, der Basalganglien und des Hirnstamms
- Kraniotomie ohne Abszessexzision
- Offene Operation mit Evakuation des Abszesses
- Keine Entfernung der Abszesskapsel
- Vorgehen bei Empyem
- Aspiration zerebraler subduraler Empyeme
- Notfallindikation zur OP aufgrund drohender Ausbreitung
- Bohrlochtrepanation mit Aspiration
- Aspiration zerebraler epiduraler Empyeme
- Weniger dringlich als bei subduralen Empyemen aufgrund geringerer Ausbreitungstendenz
- Bohrlochtrepanation mit Aspiration
- Aspiration zerebraler subduraler Empyeme
- Abszessaspiration
Medikamentöse Therapie
- Therapiebeginn
- Nach Abszesspunktion (mit Erregerdiagnostik) oder
- Nach Blutkultur, wenn Abszesspunktion nicht zeitnah (wenige Stunden) durchführbar
- Beginn als kalkulierte Kombinationstherapie (mehrere Antibiotika, ggf. mit Antimykotikum; gemäß Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie)
- Abszess ambulant und nosokomial/posttraumatisch erworben, bspw. mit: Cephalosporin der 3. Generation (Ceftriaxon oder Cefotaxim), Metronidazol und Vancomycin
- Dosisangaben und weitere Therapieschemata
- Im Verlauf Antibiotikatherapie nach Erregerdiagnostik und Resistenztestung
- Therapiedauer: 4–8 Wochen
- Serumspiegelkontrollen unter Therapie: Kontrolle des Talspiegels unmittelbar vor Gabe einer Einzeldosierung erforderlich bei
- Verlaufsbeurteilung mittels MRT
- Hinweisend auf Therapieerfolg: Abnahme der zentralen Läsion sowie der T2-Hypointensität der Kapsel
Hirnabszess ambulant erworben – Antibiotische Therapie
- Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- plus „Staphylokokken-Antibiotikum“ wie z.B.
- Vancomycin
- oder Flucloxacillin
- oder Rifampicin
- oder Fosfomycin
- oder Linezolid
Hirnabszess nosokomial oder posttraumatisch erworben – Antibiotische Therapie
- Vancomycin
- plus Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- plus Cephalosporin der 3. Generation
- oder
- Vancomycin
- plus Meropenem
Hirnabszess nach Organtransplantation oder Chemotherapie – Antibiotische Therapie
- Vancomycin
- plus Cephalosporin der 3. Generation
- Ceftriaxon
- oder Cefotaxim
- plus Metronidazol
- plus Cotrimoxazol
- plus Voriconazol
Antimykotische Therapie von Hirnabszessen
- Aspergillus spp.: Voriconazol
- Plasmaspiegelkontrollen u.a. indiziert bei: Unzureichendem Ansprechen (auch bei Komedikationen oder Verteilungsstörungen bei Sepsis), möglichen unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen
- Candida spp. oder Cryptococcus spp.
- Amphotericin B
- plus Flucytosin (regelmäßige Kontrolle der Nierenfunktion, zweimal wöchentlich Spiegelkontrollen)
- Therapiedauer
- Candida spp: Nach vollständiger Beschwerdefreiheit noch weitere 4 Wochen [3]
- Kryptokokkose: Etwa 6 Wochen plus anschließende Erhaltungstherapie mit Fluconazol [4] über 4 Wochen
Therapie des Amöbenhirnabszesses [5]
- Entamoeba histolytica: Metronidazol i.v.
- Siehe: Therapie der Amöbiasis
Therapie von Komplikationen
- Perifokalödem
- Corticosteroide
- Indikationen
- Dexamethason
- Osmotherapeutika
- Ggf. Mannitol oder Glycerin i.v.
- Corticosteroide
- Epileptische Anfälle
- Antikonvulsive Prophylaxe in Akutphase möglich, etwa mit Levetiracetam
- Bei Anfallsfreiheit und EEG ohne epilepsietypische Potenziale im Verlauf: Medikation ausschleichen
- Abszessruptur
- Behandlung der Ventrikulitis (erregerspezifische Therapie, externe Ventrikeldrainage bei Obstruktion)
- Hyponatriämie
- Therapie nach differenzialdiagnostischer Abgrenzung eines zerebralen Salzverlust-Syndroms vom Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion (SIADH)
- Obstruktiver Hydrozephalus
Prognose
- Letalität: Etwa 10–15% [1]
- Ein Drittel der Überlebenden mit residuellen Beschwerden
- Prognostische Faktoren für schlechteres Outcome
- Abszessruptur im Ventrikel
- Ausgeprägtes Hirnödem
- Entwicklung eines Hydrozephalus
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
G06.-: Intrakranielle und intraspinale Abszesse und Granulome
- G06.0: Intrakranieller Abszess und intrakranielles Granulom
- G06.1: Intraspinaler Abszess und intraspinales Granulom
- G06.2: Extraduraler und subduraler Abszess, nicht näher bezeichnet
G07*: Intrakranielle und intraspinale Abszesse und Granulome bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Inklusive
- Hirnabszess (durch): Amöben (A06.6†), Gonokokken (A54.8†), tuberkulös (A17.8†)
- Hirngranulom bei Schistosomiasis (B65.-†)
- Tuberkulom: Gehirn (A17.8†), Meningen (A17.1†)
Sonstiges
- A06.-: Amöbiasis
- A17.-†: Tuberkulose des Nervensystems
- A17.1†: Meningeales Tuberkulom (G07*)
- Tuberkulom der Meningen
- A17.8†: Sonstige Tuberkulose des Nervensystems
-
Tuberkulös:
- Hirnabszess (G07*)
- Meningoenzephalitis (G05.0*), Myelitis (G05.0*), Polyneuropathie (G63.0*), Tuberkulose/Tuberkulom in Gehirn (G07*), Tuberkulose/Tuberkulom in Rückenmark (G07*)
-
Tuberkulös:
- A17.1†: Meningeales Tuberkulom (G07*)
- A54.-: Gonokokkeninfektion
- A54.8: Sonstige Gonokokkeninfektionen
- Hirnabszess† (G07*) durch Gonokokken
- Endokarditis† (I39.8*), Hautläsionen, Meningitis† (G01*), Myokarditis† (I41.0*), Perikarditis† (I32.0*), Peritonitis† (K67.1*), Pneumonie† (J17.0*), Sepsis (jeweils durch Gonokokken)
- Exklusive: Gonokokkenpelviperitonitis (A54.2)
- A54.8: Sonstige Gonokokkeninfektionen
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.