Abstract
Pruritus (von lat. prurire = "jucken") bezeichnet eine unangenehme Empfindung der Haut, die eine Abwehrreaktion (Kratzen) hervorruft. Er ist Leitsymptom zahlreicher dermatologischer Erkrankungen, kann jedoch auch im Rahmen internistischer, neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen auftreten und sollte daher immer weiter abgeklärt werden. Neben einer ausführlichen Anamnese steht die Inspektion der gesamten Haut im Vordergrund, wobei auf primäre Hauterscheinungen sowie sekundäre Kratzläsionen geachtet werden sollte. Lässt sich der Pruritus anhand von Anamnese und klinischer Untersuchungen nicht sicher ätiologisch zuordnen, sollten weiterführende Untersuchungen (u.a. Labor, Bildgebung) erfolgen. Therapeutisch stehen neben der Therapie der Grunderkrankung symptomatische Maßnahmen (Kühlen, Antihistaminika, lokale Anwendung von Glucocorticoiden etc.) zur Verfügung.
Definition
Unangenehme Empfindung der Haut, die lokalisiert oder generalisiert auftreten kann und zu einer Abwehrreaktion führt (Kratzen).
Pathophysiologie
Die genaue Entstehung von Pruritus ist bisher unzureichend geklärt. Folgende Hypothesen werden diskutiert:
- Mechanische/thermische Einflüsse oder der Kontakt mit Mediatoren (u.a. Histamin, Serotonin, Prostaglandine, Kinine) führen zu einer Aktivierung freier Nervenendigungen von polymodalen C-Nervenfasern in der Haut, was im ZNS als Jucken gedeutet wird
- Erkrankungen/Medikamente, die zu einer vermehrten Freisetzung dieser Mediatoren führen, können Juckreiz hervorrufen. Dazu zählen:
- Entzündliche Veränderungen der Haut (z.B. Infektionen)
- Erhöhter opioiderger Tonus
- Gate-Control-Theorie: Von A-Fasern übermittelte Schmerzreize hemmen die Weiterleitung von Stimuli in den C-Fasern in der Substantia gelatinosa, wodurch dermale Schmerzreize eines Segmentes das Jucken unterdrücken (Mechanismus des Kratzens)
Diagnostik
Anamnese
- Mögliche Auslöser
- Lokalisation
- Verlauf
- Akut vs. chronisch (>6 Wochen)
- Abhängigkeit von der Tageszeit
- Abhängigkeit von der Jahreszeit
- "Kratzverhalten"
- Allergien
- Reise- und Umfeldanamnese
- Grunderkrankungen und Medikamenteneinnahme
- Begleitende Symptome, insb. B-Symptome
- Psychosoziale Anamnese
Klinische Untersuchung
- Inspektion der Haut
- Bei sichtbaren Hautveränderungen:
- Lokalisation
- Art der Hauterscheinung
- Hautveränderung durch Erkrankung vs. durch Kratzen
- Nicht immer sind jedoch sichtbare Hautveränderungen zu finden!
- Bei sichtbaren Hautveränderungen:
- Allgemeine körperliche Untersuchung
Es sollte immer die gesamte Haut untersucht werden und nicht nur die juckenden Stellen!
Weiterführende Diagnostik
Bei einem akuten Pruritus sind meist die Anamnese und klinische Untersuchung für eine Diagnosestellung ausreichend. Bei einem chronischen Pruritus sind jedoch i.d.R. weitere laborchemische und apparative Untersuchungen erforderlich.
- Labor
- Basisuntersuchungen: Blutbild, Elektrolyte (inkl. Phosphat ), Entzündungswerte, Nierenparameter, Transaminasen, γGT, alkalische Phosphatase, Bilirubin, Glucose, TSH, Eisen, Ferritin
- Weiterführende Untersuchungen: Autoantikörper, Vitamin B12, Vitamin D, Folsäure, Zink, HIV-Test, Hepatitis-Serologie, allergologische Diagnostik usw.
- Bildgebung
- Ggf. Röntgen-Thorax, Sonografie des Abdomens, CT/MRT bei Tumorverdacht
Ein Pruritus ohne Hautkorrelat muss immer gründlich abgeklärt werden, da ihm schwerwiegende Erkrankungen wie Malignome zugrunde liegen können!
Differenzialdiagnosen
Differenzialdiagnostische Grundüberlegungen
- Dermatologische Erkrankungen sind die Hauptursache für einen Pruritus. Daher sollten diese immer als erstes bedacht werden - zumal sie oftmals allein durch die Inspektion zu diagnostizieren sind
- Liegen keine Hautveränderungen vor, ist eine systemische, nicht-dermatologische Erkrankung (bzw. Medikamentennebenwirkung) in Betracht zu ziehen
- Die Einteilung in lokalisierten vs. generalisierten Pruritus ist meist nicht wegweisend, da auch systemische Erkrankungen zu einem lokalen Pruritus führen können oder ein generalisierter Pruritus an einer Lokalisation besonders stark wahrgenommen werden kann
Chronische Kratzläsionen können sich mit unterschiedlichen Morphologien manifestieren (z.B. Lichenifizierung), so dass eine Abgrenzung zu primären dermatologischen Erkrankungen große Schwierigkeiten bereiten kann und im Zweifel einem Dermatologen überlassen werden sollte!
Differenzialdiagnosen nach ätiologischen Gruppen
- Dermatologische Erkrankungen
- Medikamente
- Infektionen
- Parasiten (z.B. Skabies)
- Mykosen
- Exanthematische Viruserkrankungen (z.B. Windpocken)
- HIV-Infektion
- Hepatitis
- Cholestase
- Hervorzuheben sind dabei chronische Lebererkrankungen, insb. die primär biliäre Cholangitis
- Stoffwechselerkrankungen/endokrine Ursachen
- Diabetes mellitus
- Hyperurikämie
- Hyper-/Hypothyreose
- Hyper-/Hypoparathyreoidismus
- Hämochromatose
- Renale Erkrankungen
- Chronische Niereninsuffizienz mit Urämie (urämischer Pruritus)
- Akute tubulo-interstitielle Nephritis (z.B. Analgetika-Nephritis)
- Hämatologische und onkologische Erkrankungen
- Neurologische Erkrankungen
- Polyneuropathie
- Tabes dorsalis
- Degeneration/Kompression von sensiblen Nervenfasern
- Multiple Sklerose
- Psychiatrische Erkrankungen
- Waschzwang
- Taktile Halluzinationen (Auftreten insb. bei organischen Psychosen)
- Dermatozoenwahn (organische Halluzinose)
- Sonstige
- Pruritus senilis
- Angst, Stress
- Alkohol, Nikotin
- Insektenstiche
- Mangelernährung
- Idiopathisch
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
- Allgemeine und symptomatische Maßnahmen
- Topische Anwendung von Glucocorticoiden, Calcineurininhibitoren, Capsaicin, Cannabinoidrezeptor-Antagonisten, Naltrexon
- Systemische Anwendung von
- H1-Antihistaminika der 2. Generation (z.B. Cetirizin, Loratadin)
- Naltrexon (Opioidantagonist)
- Gabapentin
- Bei schweren entzündlichen Hautveränderungen und hohem Leidensdruck: Glucocorticoide p.o.
- Phototherapie als Therapieoption prüfen (Dermatologisches Zentrum)
- Bei Schlafstörungen: Benzodiazepinanaloga (z.B. Zolpidem), niedrig potente Antipsychotika (z.B. Melperon) oder SSRIs (Sertralin, Paroxetin)
- Alternativ Umstellung des Antihistaminikums auf sedierende H1-Antihistaminika der 1. Generation (z.B. Dimenhydrinat)
- Bei Verdacht auf somatoformen Pruritus und/oder psychische Komorbiditäten: Psychosomatische Mitbeurteilung, ggf. Therapieeinleitung
- Spezifische Maßnahmen
- Therapie der Grunderkrankung
- Bei einigen Erkrankungen oder Symptomen bestehen spezifische Behandlungsmöglichkeiten
- Cholestatischer Pruritus → siehe auch: Therapie des cholestatischen Pruritus
- Pruritus unter Zytostatika-Therapie → siehe auch: Tumortherapie-induzierte Hauttoxizität
- Nephrogener Pruritus
- Aktivkohle
- Gabapentin oder Nalfurafin nach Dialyse
- Pregabalin
- UV-Therapie
- Paraneoplastischer Pruritus
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
- L29.-: Pruritus
- Exklusive: Neurotische Exkoriation (L98.1), Psychogener Pruritus (F45.8)
- L29.0: Pruritus ani
- L29.1: Pruritus scrotalis
- L29.2: Pruritus vulvae
- L29.3: Pruritus anogenitalis, nicht näher bezeichnet
- L29.8: Sonstiger Pruritus
- L29.9: Pruritus, nicht näher bezeichnet
- Juckreiz o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.