Abstract
Die Elektrokardiografie (EKG) ist ein bedeutendes Standarddiagnostikum in der Erkennung kardialer Erkrankungen. Durch Anlage externer Elektroden wird die kardiale Erregungsausbreitung abgeleitet und in Form einer charakteristischen Linie festgehalten. Zu den Beurteilungskriterien gehören Lagetyp, Frequenz und Regelmäßigkeit des Ausschlags sowie Abstände und Amplituden der einzelnen Komplexe (z.B. P-Welle, PQ-Strecke, QRS-Komplex, ST-Strecke). In diesem Kapitel erfolgt ein Überblick über die wichtigsten Beurteilungskriterien, während spezielle Befunde im Rahmen der jeweiligen Erkrankungen abgehandelt werden.
Grundlagen
- Prinzip des EKG: Aufzeichnung von elektrischer Spannung zwischen Kardiomyozyten über einen Zeitraum
- x-Achse: Zeit
- Umrechnung von mm in ms abhängig von der Schreibgeschwindigkeit
- Siehe auch: Papiervorschub
- y-Achse: Spannung
- Standard-Kalibrierung: 10 mm ≙ 1 mV
- Eichzacke: Ausschlag, der durch eine Spannung von 1 mV entsteht
- Ableitung: Messung der Spannung zwischen 2 oder mehr Elektroden
- Entspricht der Spannung in einer bestimmten Richtung
- Durch Wahl verschiedener Elektroden entstehen unterschiedliche Ableitungen
- Bipolare Ableitung: Ableitung zwischen einer differenten und einer indifferenten Elektrode
- Unipolare Ableitung: Ableitung zwischen einer differenten Elektrode und einer als Referenz dienenden Zusammenschaltung mehrerer Elektroden
- Schreibgeschwindigkeit (Papiervorschub): Legt fest, wie viele mm auf der x-Achse einer Sekunde entsprechen
- Standard in Deutschland für 12-Kanal-EKGs: 50 mm/s
- Alternativ (insb. zur Überwachung und Rhythmusanalyse) und in vielen anderen Ländern: 25 mm/s
- Praxistipp: Anhand der Kästchen des Millimeterpapiers lassen sich die Zeiten unter Beachtung der Schreibgeschwindigkeit auszählen
- Bei 25 mm/s
- Ein kleines Kästchen = 1 mm ≙ 40 ms
- Ein großes Kästchen = 5 kleine Kästchen = 5 mm ≙ 200 ms
- 10 große Kästchen = 50 kleine Kästchen = 50 mm ≙ 2 s
- Bei 50 mm/s
- Kleines Kästchen = 1 mm ≙ 20 ms
- Großes Kästchen = 5 kleine Kästchen = 5 mm ≙ 100 ms
- 10 große Kästchen = 50 kleine Kästchen = 50 mm ≙ 1 s
- Bei 25 mm/s
- x-Achse: Zeit
Bei der Zeitmessung im EKG muss unbedingt die Schreibgeschwindigkeit beachtet werden!
Wenn nicht explizit angegeben, kann man die Schreibgeschwindigkeit bspw. anhand der QRS-Komplexe erkennen: Sie sind normalerweise ca. 100 ms lang, passen also bei einer Schreibgeschwindigkeit von 50 mm/s ungefähr in ein großes Kästchen (5 mm).
Ableitungen
Damit EKGs vergleichbar sind, haben sich aus der Vielzahl an theoretisch möglichen Ableitungen standardisierte Kombinationen ergeben. Am bedeutendsten ist das sog. 12-Kanal-EKG.
12-Kanal-EKG
- Definition: Standardisierte Kombination von 12 Ableitungen, die sich für die meisten klinischen Fragestellungen eignet
- Elektroden: 9 Messelektroden plus eine Erdungselektrode → 10 Elektroden insg.
- Praxistipp zur Anlage eines EKG: In Deutschland sind die Elektroden des 12-Kanal-EKGs standardisiert farbcodiert, sowohl bei den Extremitätenelektroden als auch bei der Brustwand beginnt man mit den „Ampelfarben“ rot, gelb, grün
- Extremitätenelektroden: Rechter Arm rot, linker Arm gelb, linkes Bein grün, rechtes Bein (Erdungselektrode) schwarz
- Brustwandelektroden: V1 rot, V2 gelb, V3 grün, V4 braun, V5 schwarz, V6 violett
Zur Aufzeichnung eines 12-Kanal-EKG werden inkl. der Erdung 10 Elektroden benötigt.
In der Praxis ist mit „EKG“ meist ein 12-Kanal-EKG gemeint.
Ableitungen des 12-Kanal-EKG
- Extremitätenableitungen: 6 Ableitungen in der Frontalebene
- Einthoven-Ableitungen: 3 bipolare Extremitätenableitungen
- Ableitung I: Rechter Arm zu linkem Arm
- Ableitung II: Rechter Arm zu linkem Bein
- Ableitung III: Linker Arm zu linkem Bein
- Goldberger-Ableitungen: 3 unipolare Extremitätenableitungen
- aVL: Rechter Arm und linkes Bein zu linkem Arm
- aVR: Linker Arm und linkes Bein zu rechtem Arm
- -aVR: An der x-Achse gespiegelte Ableitung aVR
- aVF: Linker Arm und rechter Arm zu linkem Bein
- Cabrera-Kreis: Zusammenfassende Darstellung der verschiedenen Extremitätenableitungen
- Einthoven-Ableitungen: 3 bipolare Extremitätenableitungen
- Brustwandableitungen
- Wilson-Ableitungen: 6 unipolare Ableitungen in der Horizontalebene
- V1: 4. ICR parasternal rechts und Wilson-Sammelelektrode
- V2: 4. ICR parasternal links und Wilson-Sammelelektrode
- V3: Punkt zwischen V2 und V4 und Wilson-Sammelelektrode
- V4: 5. ICR medioklavikulär links und Wilson-Sammelelektrode
- V5: Vordere Axillarlinie Höhe V4 und Wilson-Sammelelektrode
- V6: Mittlere Axillarlinie Höhe V4 und Wilson-Sammelelektrode
- Wilson-Ableitungen: 6 unipolare Ableitungen in der Horizontalebene
- Benachbarte Ableitungen: Anatomisch direkt nebeneinander liegende Ableitungen
- Extremitäten: Winkel von 30°, am einfachsten über den Cabrera-Kreis beurteilbar
- Brustwand: Entsprechend der Nummerierung
Bei Frauen sollten die Brustwandelektroden nicht wegen der Mammae nach unten verschoben werden! Falls die Ableitungsqualität bei korrekter Lage auf der Mamma zu schlecht ist, kann die Empfindlichkeit am Gerät erhöht werden.
3-Kanal-EKG
- Definition: Kombination von 3 Ableitungen, die sich insb. für die Rhythmusanalyse, Überwachung und in Notfallsituationen eignet
- Elektroden: 3 Elektroden, Position variabel
- Ableitungen: Häufig Nutzung der Einthoven-Ableitungen
Das 3-Kanal-EKG dient primär der Rhythmusanalyse und -überwachung, die Platzierung der Elektroden ist variabel.
Spezielle Ableitungen
- Lewis-Ableitung [1]
- Modifizierte Ableitung I zur Hervorhebung der P-Wellen
- Elektroden: Rot (rechter Arm) ans Manubrium sterni, gelb (linker Arm) 5. ICR rechts parasternal
- Skalierung: 20 mm/mV
- Linksdorsale Ableitungen: Bei V.a. proximalen oder lateralen Hinterwandinfarkt z.B. durch Verschluss des proximalen R. circumflexus
- V7: Hintere Axillarlinie auf Höhe von V4 und Wilson-Sammelelektrode
- V8: Skapularlinie auf Höhe von V4 und Wilson-Sammelelektrode
- V9: Paravertebral links auf Höhe von V4 und Wilson-Sammelelektrode
- Rechtsthorakale Ableitungen: V3–V6 spiegelbildlich auf der rechten Seite : Bei V. a. Myokardinfarkt des rechten Ventrikels oder Situs inversus
- V3R: Punkt zwischen V1 und V4r und Wilson-Sammelelektrode
- V4R: 5. ICR medioklavikulär rechts und Wilson-Sammelelektrode
- V5R: Vordere Axillarlinie Höhe V4r und Wilson-Sammelelektrode
- V6R: Mittlere Axillarlinie Höhe V4r und Wilson-Sammelelektrode
Zur verbesserten Ableitungsqualität bei Lungenemphysem und damit einhergehendem „Fassthorax“ können die Brustwandelektroden versuchsweise einen ICR tiefer angelegt werden!
Projektionen der Extremitätenableitungen [2]
Projektionen der Extremitätenableitungen | ||
---|---|---|
Ableitungen | Bezeichnung | Projektion |
I, aVL | Hohe laterale Ableitungen | Hohe Seitenwand des linken Ventrikels |
II, III, aVF | Inferiore (diaphragmale) Ableitungen | Inferiore Wand („Hinterwand“) des linken Ventrikels |
Projektionen der Brustwandableitungen [2]
Projektionen der Brustwandableitungen | ||
---|---|---|
Ableitung | Bezeichnung | Projektion |
V1 | Septale Ableitungen | Septum, Vorderwand linker Ventrikel |
V2 | ||
V3 | Anteriore Ableitungen | Vorderwand linker Ventrikel, Apex |
V4 | ||
V5 | Tiefe linkslaterale Ableitungen | Seitenwand linker Ventrikel |
V6 | ||
V7 | Linksdorsale Ableitungen | Hinterwand linker Ventrikel |
V8 | ||
V9 | ||
V3R–V6R | Rechtsseitige Ableitungen | Rechter Ventrikel |
Befundung
Bei der Befundung eines EKG ist es wichtig, die Befunde sowohl im Zusammenhang mit der klinischen Präsentation als auch (wenn möglich) im Vergleich zu vorherigen EKGs zu beurteilen . Es ist sinnvoll, einem festen Schema zu folgen, um alle Aspekte der elektrischen Herzaktivität zu beachten und keine Pathologie zu übersehen. Die Reihenfolge der folgenden Abschnitte zeigt ein beispielhaftes systematisches Vorgehen .
- Rhythmus
- Herzfrequenz
- Lagetyp
- Morphologie
- Zeiten
- Siehe auch: Praxistipp EKG-Befundung
Rhythmusanalyse und Frequenzbestimmung
Rhythmusanalyse
- Regelmäßige P-Wellen vorhanden?
- Folgt auf jede P-Welle ein QRS-Komplex?
- Normale PQ-Zeit?
Ein Sinusrhythmus liegt vor, wenn regelmäßige P-Wellen vorhanden sind, auf die immer ein QRS-Komplex folgt.
Übersicht wichtiger Herzrhythmusstörungen | |
---|---|
Rhythmusstörung | EKG-Zeichen |
| |
AV-Block III° |
|
Vorhofflimmern |
|
Kammerflimmern |
|
Asystolie |
|
Herzfrequenz
- Berechnung
- Papiervorschub 50 mm/s: HF = 300/RR-Abstand in cm
- Papiervorschub 25 mm/s: HF = 150/RR-Abstand in cm
- Grobe Abschätzung: Anzahl der QRS-Komplexe, die sich innerhalb einer Ableitung auf dem DIN-A4-Blatt im Querformat befindet, mit 10 multipliziert
- Interpretation
- Normale Herzfrequenz: 50–100/min
- Tachykardie: >100/min (siehe auch: Tachykarde Rhythmusstörungen)
- Bradykardie: <50–60/min (siehe auch: Bradykarde Rhythmusstörungen)
Die automatische Frequenzberechnung durch das EKG-Gerät ist gerade bei pathologischen EKGs unzuverlässig, sodass im Zweifel eine manuelle Bestimmung erfolgen sollte!
Bestimmung der Herzfrequenz im EKG (Rechner)
Bestimmung der Zykluslänge im EKG (Rechner)
Lagetyp
Grundlagen
- Definition: Einteilung nach Richtung der elektrischen Herzachse in der Frontalebene
- Relevante Ableitungen: Nur Ableitungen der Frontalebene
- Normale Lagetypen: Die Herzachse verschiebt sich im Laufe des Lebens nach links
- Rechtstyp: Nur bei Kindern und Jugendlichen
- Steiltyp: Bei Jugendlichen und schlanken Erwachsenen
- Indifferenztyp (Normaltyp): Klassischer Lagetyp bei Erwachsenen
- Linkstyp: Bei älteren Personen
- Sonderfälle
- SISIISIII-Typ: In allen Extremitätenableitungen sind sowohl R- als auch S-Zacken vorhanden
- Sagittaltyp: Zusätzlich haben R- und S-Zacken eine ähnlich hohe Amplitude
- SIQIII-Typ: Tiefe S-Zacke in Ableitung I und tiefe Q-Zacke in Ableitung III
- SISIISIII-Typ: In allen Extremitätenableitungen sind sowohl R- als auch S-Zacken vorhanden
Ein QRS-Vektor von 0° bedeutet, dass die elektrische Herzachse horizontal nach links zeigt, und entspricht einem Linkstyp!
Die sagittalen Lagetypen (SISIISIII-Typ und SIQIII-Typ) können Folge einer Rechtsherzbelastung wie bspw. bei einer Lungenembolie sein!
Lagetypbestimmung
Bestimmung mittels Cabrera-Kreis
- Prinzipien
- Ableitung mit größtem positiven Ausschlag → Herzachse zeigt ungefähr in die Richtung dieser Ableitung
- Positiver Anteil des QRS-Komplexes ist in einer Ableitung größer als der negative Anteil („überwiegend positive Ableitung“) → Herzachse liegt auf der Hälfte des Cabrera-Kreises, in die diese Ableitung zeigt
- Positiver Anteil des QRS-Komplexes ist in einer Ableitung kleiner als der negative Anteil („überwiegend negative Ableitung“) → Herzachse liegt auf der Hälfte des Cabrera-Kreises, in die die betrachtete Ableitung nicht zeigt
- Ableitung mit etwa gleich großen positiven und negativen Anteilen des QRS-Komplexes → Herzachse liegt ca. im rechten Winkel zu dieser Ableitung
- Mögliches Vorgehen
- Ableitung mit größtem positiven Ausschlag in der Frontalebene suchen → Elektrische Herzachse entspricht ungefähr der Richtung dieser Ableitung
- Betrachten der anderen Ableitungen → Auf welcher Seite der in Schritt 1 gefundenen Ableitung liegt der Hauptvektor?
Vereinfachte Lagetypbestimmung
In der Praxis haben sich vereinfachte Methoden bewährt, die ohne den Cabrera-Kreis und ohne Messung auskommen. Die hier vorgestellte Methode basiert ausschließlich auf den Ableitungen I, II und III.
- Einteilung der Ableitungen I, II und III in überwiegend positiv („+“) und überwiegend negativ („-“)
- Zuordnung gemäß folgender Tabelle
Vereinfachte Lagetypbestimmung über die Einthoven-Ableitungen | |||
---|---|---|---|
Lagetyp | Ableitung | ||
I | II | III | |
Überdrehter Linkstyp (ÜLT) | + | - | - |
Linkstyp (LT) | + | + | - |
Indifferenztyp* (IT) | +* | + | + |
Steiltyp* (ST) | + | + | +* |
Rechtstyp (RT) | - | + | + |
Überdrehter Rechtstyp (ÜRT) | - | - /+ | + |
*Wenn alle Ableitungen positiv sind, gilt: I>III = Indifferenztyp, III>I = Steiltyp |
Klinische Bedeutung
- Im Laufe des Lebens physiologische Änderung des Lagetyps von rechts nach links (bis etwa +90°)
- Verschiebung der Herzachse nach links oder rechts → Hypertrophie des entsprechenden Herzanteils möglich
- Rechtsverschiebung oder sagittale Herzachse → Rechtsherzbelastungszeichen, bspw. bei Lungenembolie
- Störungen der ventrikulären Erregungsausbreitung → Häufig Veränderungen der elektrischen Herzachse
Sensitivität und Spezifität von Lagetypveränderungen sind sehr gering, bei der Interpretation müssen andere Befunde einbezogen werden!