Abstract
Die Anämie ("Blutarmut") ist ein häufiger Befund in der Medizin. Klinisch können sich Blässe und Abgeschlagenheit zeigen, insbesondere bei Belastung aufgrund einer verminderten Sauerstoffversorgung. Bei einem langsamen, chronischen Geschehen führen allerdings Adaptationsvorgänge dazu, dass die Betroffenen trotz zum Teil deutlich erniedrigter Hämoglobin- und/oder Erythrozytenwerte lange keine Beschwerden empfinden und die Diagnose häufig als Zufallsbefund im Rahmen einer Routineblutuntersuchung gestellt wird. Der weitaus häufigste Grund für die Entstehung einer Anämie ist ein Eisenmangel, der wiederum viele Ursachen haben kann wie beispielsweise chronische Blutverluste, Malnutrition oder -assimilation.
Differentialdiagnostisch ist die Einteilung in mikro-, normo- und makrozytäre Anämien der hilfreichste erste Schritt, da die möglichen Ursachen einer Anämie diesbezüglich zu charakteristischen Veränderungen führen. Liegt beispielsweise ein Eisenmangel vor, kann nicht genügend Hämoglobin gebildet werden und es zeigen sich "zu kleine" Erythrozyten ("mikrozytär"). Liegt dagegen ein Folsäure- oder Vitamin B12-Mangel vor, können nicht genügend Zellen gebildet werden, sodass eine Überladung der Erythrozyten erfolgt und diese ein größeres Volumen aufweisen ("makrozytär").
Die Abklärung einer chronischen Anämie stellt keinen Notfall dar, gefährlich ist dagegen eine akute Blutung. Hier darf man sich in keinem Fall auf Laborwerte verlassen, da sich erst verzögert ein Abfall der Blutwerte zeigt (durch kompensatorische Flüssigkeitsretention, die zur Verdünnung führt). Aussagekräftig sind hingegen die Vitalparameter (Blutdruck und Herzfrequenz), die engmaschig zu überwachen sind. Eine zügige und adäquate Einleitung weiterer diagnostischer und therapeutischer Schritte muss erfolgen.
Definition
Eine Anämie besteht bei Verminderung des Hämoglobinwertes, der Erythrozytenzahl und/oder des Hämatokrits
Normwerte für Erwachsene (nach der Referenzliste des IMPP)
♂ | ♀ | |
---|---|---|
Hämoglobin | 136-172 g/L | 120-150 g/L |
Erythrozytenzahl | 4,3-5,9/pL | 3,5-5,0/pL |
Hämatokrit | 0,39-0,49 | 0,33-0,43 |
cHb | 2,11-2,67 mmol/L | 1,86-2,33 mmol/L |
cHb(Fe) | 8,44-10,68 mmol/L | 7,45-9,31 mmol/L |
Ätiologie
Verlust
- Akute oder chronische Blutung
- Vermehrter Abbau
- Hämolytische Anämie jedweder Genese
- Hypersplenismus
Verminderte Bildung
Verminderte Hämoglobinsynthese
- Eisenmangel
- Mit Abstand häufigste Ursache einer Anämie überhaupt!
- Ursachen
- Zu geringe Aufnahme (Malnutrition oder Malabsorption)
- Verlust (chronische Blutverluste jedweder Art)
- Chronische Erkrankung → "anemia of chronic disease" (ACD)
- Zweithäufigste Anämieursache!
- Definition: Eisenverwertungsstörung und verringerte Erythrozytenbildung bei chronischer Erkrankung
- Ätiologie
- Tumor, Entzündungsgeschehen (wie Infektionen, Autoimmunerkrankungen)
- Folge: Normo- oder mikrozytäre Anämie
- Pathophysiologie → Vermittelt durch Zytokine und vor allem Hepcidin (Typ-II-Akute-Phase-Protein)
- Verminderte Speicherung (und geringere Freigabe) von Eisen im retikuloendothelialen System, geringere intestinale Resorption
- Verminderte Synthese und zusätzlich geringeres Ansprechen auf Erythropoetin
- (Weiterhin verkürzte Überlebenszeit der Erythrozyten)
Auch bei bekannter chronischer Erkrankung können zusätzlich ein "echter" Eisenmangel oder andere Anämieursachen vorliegen!
Verminderte Zellbildung
- Renale Anämie
- Myelodysplastisches Syndrom
- Aplastische Anämie
- Megaloblastäre Anämie
- Ursache: Folsäuremangel, Vitamin B12-Mangel
- Kurzbeschreibung: Folsäure und Vitamin B12 sind für die Zellteilung essentiell. Bei einem Mangel kommt es zu einer beeinträchtigten Zellteilung, wovon alle Zellreihen betroffen sein können (Panzytopenie). Ein Folsäuremangel tritt schneller zutage, da die Körperspeicher ohne weitere Zufuhr nur etwa 3 Monate ausreichen, die körpereigenen Vitamin B12-Speicher den Bedarf dagegen für 2-3 Jahre decken können
- Diagnostik
Pathophysiologie
- Pathophysiologische Überlegungen helfen bei der Ursachenfindung einer Anämie weiter
- Kann nicht genügend Hämoglobin hergestellt werden , werden die ausreichend vorhandenen Erythrozyten weniger beladen → mikrozytär, hypochrom
- Können nicht genügend Zellen gebildet werden , werden die wenigen Erythrozyten stärker beladen → makrozytär, hyperchrom
- Liegen zwar ausreichend Substrate zur Bildung von Hämoglobin und Zellen vor, aber die Synthese wird nicht initiiert oder durchgeführt , zeigen sich meist zu wenig "normale" Erythrozyten → normozytär, normochrom
- Liegt dagegen eine Blutung vor, kann der Verlauf der Laborparameter in drei Stadien unterteilt werden
- Bei hochakutem Blutverlust sind Hb-, Hämatokrit- und Erythrozytenwerte normal, da die Konzentration im "verbleibenden" Blut zunächst gleich bleibt - eine Anämie kann laborchemisch noch nicht festgestellt werden
- Durch Einstrom von Gewebsflüssigkeit entwickelt sich anschließend auch laborchemisch eine Anämie (Verdünnung ohne Veränderung der Erythrozytenzusammensetzung) → normozytär, normochrom
- Im Verlauf (bei chronischer Blutung) kommt es meist zu einem relevanten Eisenverlust, sodass nicht genügend Hämoglobin hergestellt werden kann (siehe Punkt 1.) → mikrozytär, hypochrom
Symptome/Klinik
- (Belastungs‑)Dyspnoe, Müdigkeit
- Blässe (gut an den Schleimhäuten zu erkennen)
- Evtl. Tachykardie
- Begünstigtes Auftreten von Angina pectoris
Verlaufs- und Sonderformen
Aplastische Anämie
- Definition: Meist Panzytopenie (Erythro-, Thrombo- und Leukozytopenie) oder Bizytopenie unterschiedlicher Ausprägung aufgrund einer Knochenmarksinsuffizienz
- Ätiologie
- Idiopathisch (in >80%)
- Medikamentös/Toxisch
- Parainfektiös
- Selten angeboren (z.B. Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita)
- Differentialdiagnosen (mit möglicher Panzytopenie)
- Auf Ebene des Knochenmarks: Maligne Erkrankungen des Blutes, myelodysplastisches Syndrom, megaloblastäre Anämie
- Periphere Zellzerstörung (häufig nicht alle Zellreihen betroffen): Hypersplenie-Syndrom, Autoimmunerkrankung mit Antikörperbildung, Agranulozytose
Eine Knochenmarkinsuffizienz infolge ionisierender Strahlung oder obligat myelotoxischer Substanzen stellt definitionsgemäß keine Aplastische Anämie dar!
Für detailliertere Informationen zum Thema, siehe: Aplastische Anämie.
Diagnostik
Einstieg in die Diagnostik über den Hämoglobinwert zum Nachweis der Anämie. Wichtigste Folgewerte sind anschließend MCV (Normwert: 81-100fL) und/oder MCH (Normwert: 27-34pg).
Anämie | MCV, MCH | Mögliche Erkrankungen | Weitere Befunde | Anmerkung | |
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Mikrozytär, hypochrom | Erniedrigt |
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Normozytär, normochrom | normal |
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Makrozytär, hyperchrom | Erhöht |
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- Weitere Laborparameter: RDW (Red Blood Cell Distribution Width, Erythrozytenverteilungsbreite)
- Definition: Maß für die Größenverteilung der Erythrozyten
- Aussage: Erhöhter RDW bei starken Größenunterschieden der Erythrozyten (Anisozytose), z.B. bei Eisenmangelanämie
- Weitere diagnostische Schritte
- Auskultation: Funktionelles Systolikum
- Blutausstrich aus venösem Blut mit EDTA-Zusatz (auffällige Erythrozytenmorphologie, Hämoglobinvarianten)
- Knochenmarkpunktion
Therapie
- Jeweilige Therapie hängt von der Grunderkrankung ab, Beispiele:
- Substitution bei Eisen-, Folsäure- oder Vitamin B12-Mangel
- Absetzen von schädigenden Medikamenten bei aplastischer Anämie (z.B. Zytostatika)
- Interventionelle oder operative Blutstillung bei akutem Blutverlust
- Evtl. Bluttransfusion - Indikation jedoch insbesondere bei chronischer Anämie (Adaptation) restriktiv zu stellen
Studientelegramme zum Thema
- HOMe Studientelegramme Innere Medizin
- Studientelegramm 195-2021-3/3: ASN I – ASCEND-ND: HIF-Stabilisatoren bei renaler Anämie
- Studientelegramm 05-2017-1/4: Hypophosphatämie nach intravenöser Eisengabe – Subgruppenanalyse aus der FIRM-Studie
- One-Minute Telegram (aus unserer englischsprachigen Redaktion)
- One-Minute Telegram 31-2021-1/3: Bariatric surgery associated with very high risk of long-term anemia
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SOP (Standard Operating Procedure)
In den Ergänzungen dieser Sektion können individuelle SOPs eingefügt werden. Diese Sektion ist über die AMBOSS-Suchfunktion mittels dem Begriff „SOP Anämie“ unmittelbar auffind- und ansteuerbar.
Patienteninformationen
- Eisenmangel und Eisenmangel-Anämie
Meditricks
In Kooperation mit Meditricks bieten wir durchdachte Merkhilfen an, mit denen du dir relevante Fakten optimal einprägen kannst. Dabei handelt es sich um animierte Videos und Erkundungsbilder, die auf AMBOSS abgestimmt oder ergänzend sind. Die Inhalte liegen meist in Lang- und Kurzfassung vor, enthalten Basis- sowie Expertenwissen und teilweise auch ein Quiz sowie eine Kurzwiederholung. Eine Übersicht aller Inhalte findest du im Kapitel „Meditricks“. Meditricks gibt es in unterschiedlichen Paketen – für genauere Informationen empfehlen wir einen Besuch im Shop.
Anämien-Grundlagen: Pathologie und Diagnostik
Eisenmangelanämie
Megaloblastäre Anämie
Hämolytische Anämie
Paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie (PNH)
Sphärozytose
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2023
Alimentäre Anämien
- D50.-: Eisenmangelanämie (Siehe Kapitel: Eisenmangel)
- D51.-: Vitamin-B12-Mangelanämie (Siehe Kapitel: Vitamin-B12-Mangel)
- D52.-: Folsäure-Mangelanämie
- D53.-: Sonstige alimentäre Anämien
- Inklusive: Megaloblastäre Anämie, resistent gegenüber Vitamin-B12- oder Folsäure-Therapie
- D53.0: Eiweißmangelanämie
- Aminosäuremangelanämie
- Anämie bei Orotazidurie
- Exklusive: Lesch-Nyhan-Syndrom (E79.1)
- D53.1: Sonstige megaloblastäre Anämien, anderenorts nicht klassifiziert
- Megaloblastäre Anämie o.n.A.
- Exklusive: Di-Guglielmo-Krankheit (C94.0‑)
- D53.2: Skorbutanämie
- Exklusive: Skorbut (E54)
- D53.8: Sonstige näher bezeichnete alimentäre Anämien
- D53.9: Alimentäre Anämie, nicht näher bezeichnet
- Einfache chronische Anämie
- Exklusive: Anämie o.n.A. (D64.9)
Hämolytische Anämien (siehe auch Kapitel: Hämolytische Anämie)
- D55.-: Anämie durch Enzymdefekte
- Exklusive: Arzneimittelinduzierte Enzymmangelanämie (D59.2)
- D55.0: Anämie durch Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase[G6PD]-Mangel
- D55.1: Anämie durch sonstige Störungen des Glutathionstoffwechsels
- Anämie (durch):
- Enzymmangel mit Bezug zum Hexosemonophosphat[HMP]-Shunt, ausgenommen G6PD-Mangel
- hämolytisch, nichtsphärozytär (hereditär), Typ I
- Anämie (durch):
- D55.2: Anämie durch Störungen glykolytischer Enzyme
- Anämie (durch):
- hämolytisch, nichtsphärozytär (hereditär), Typ II
- Hexokinase-Mangel
- Pyruvatkinase[PK]-Mangel
- Triosephosphat-Isomerase-Mangel
- Anämie (durch):
- D55.3: Anämie durch Störungen des Nukleotidstoffwechsels
- D55.8: Sonstige Anämien durch Enzymdefekte
- D55.9: Anämie durch Enzymdefekte, nicht näher bezeichnet
- D56.-: Thalassämie (Siehe Kapitel: Thalassämie)
- D57.-: Sichelzellenkrankheiten (Siehe Kapitel: Sichelzellkrankheit)
- D58.-: Sonstige hereditäre hämolytische Anämien
- D59.-: Erworbene hämolytische Anämien
Aplastische und sonstige Anämien (siehe auch Kapitel: Aplastische Anämie)
- D60.-: Erworbene isolierte aplastische Anämie [Erythroblastopenie] [pure red cell aplasia]
- Inklusive: Isolierte aplastische Anämie (erworben) (beim Erwachsenen) (bei Thymom)
- D60.0: Chronische erworbene isolierte aplastische Anämie
- D60.1: Transitorische erworbene isolierte aplastische Anämie
- D60.8: Sonstige erworbene isolierte aplastische Anämien
- D60.9: Erworbene isolierte aplastische Anämie, nicht näher bezeichnet
- D61.-: Sonstige aplastische Anämien
- Exklusive: Agranulozytose (D70.‑)
- D61.0: Angeborene aplastische Anämie
- Blackfan-Diamond-Anämie
- Familiäre hypoplastische Anämie
- Fanconi-Anämie
-
Isolierte aplastische Anämie:
- angeboren
- im Kindesalter
- primär
- Panzytopenie mit Fehlbildungen
- D61.1-: Arzneimittelinduzierte aplastische Anämie
- Arzneimittelinduzierte Panzytopenie
- D61.10: Aplastische Anämie infolge zytostatischer Therapie
- D61.18: Sonstige arzneimittelinduzierte aplastische Anämie
- D61.19: Arzneimittelinduzierte aplastische Anämie, nicht näher bezeichnet
- D61.2: Aplastische Anämie infolge sonstiger äußerer Ursachen
- D61.3: Idiopathische aplastische Anämie
- D61.8: Sonstige näher bezeichnete aplastische Anämien
- D61.9: Aplastische Anämie, nicht näher bezeichnet
- Hypoplastische Anämie o.n.A.
- Knochenmarkinsuffizienz
- Panmyelopathie
- Panmyelophthise
- D62: Akute Blutungsanämie
- Inklusive: Anämie nach intra- und postoperativer Blutung
- Exklusive: Angeborene Anämie durch fetalen Blutverlust (P61.3)
- D63.-:* Anämie bei chronischen, anderenorts klassifizierten Krankheiten
- D63.0*: Anämie bei Neubildungen (C00-D48†)
- D63.8*: Anämie bei sonstigen chronischen, anderenorts klassifizierten Krankheiten
- Anämie bei chronischer Nierenkrankheit größer oder gleich Stadium 3 (N18.3–N18.5†)
- D64.-: Sonstige Anämien
- Exklusive: Refraktäre Anämie: mit Blastenüberschuss [RAEB] (D46.2); mit Blastenüberschuss in Transformation (C92.0‑); mit Ringsideroblasten (D46.1); ohne Ringsideroblasten (D46.0); o.n.A. (D46.4)
- D64.0: Hereditäre sideroachrestische [sideroblastische] Anämie
- X-chromosomal-gebundene hypochrome sideroachrestische Anämie
- D64.1: Sekundäre sideroachrestische [sideroblastische] Anämie (krankheitsbedingt)
- D64.2: Sekundäre sideroachrestische [sideroblastische] Anämie durch Arzneimittel oder Toxine
- D64.3: Sonstige sideroachrestische [sideroblastische] Anämien
- Sideroachrestische Anämie:
- pyridoxinsensibel, anderenorts nicht klassifiziert
- o.n.A.
- Sideroachrestische Anämie:
- D64.4: Kongenitale dyserythropoetische Anämie
- Dyshäm(at)opoetische Anämie (angeboren)
- Exklusive: Blackfan-Diamond-Anämie (D61.0); Di-Guglielmo-Krankheit (C94.0‑)
- D64.8: Sonstige näher bezeichnete Anämien
- Infantile Pseudoleukämie
- Leukoerythroblastische Anämie
- D64.9: Anämie, nicht näher bezeichnet
P61.- Sonstige hämatologische Krankheiten in der Perinatalperiode
- P61.2: Anämie bei Prämaturität
- P61.3: Angeborene Anämie durch fetalen Blutverlust
- P61.4: Sonstige angeborene Anämien, anderenorts nicht klassifiziert
- Angeborene Anämie o.n.A.
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2023, DIMDI.