Zusammenfassung
Mitochondriale Erkrankungen sind eine klinisch, biochemisch und genetisch heterogene Gruppe von Krankheitsbildern, die sich häufig mit neurologischen Symptomen präsentieren. Ihr gemeinsames Kennzeichen sind Störungen mitochondrial lokalisierter Stoffwechselwege. Es handelt sich überwiegend um Multisystemerkrankungen, bei denen die Skelettmuskulatur häufig, aber nicht immer, beteiligt ist. Das klinische Spektrum ist breit und reicht von schweren Multiorganaffektionen im frühen Kindesalter bis zu milden, monosymptomatischen Verläufen im Erwachsenenalter. Auch zunächst als unspezifisch imponierende Beschwerden, insb. der Skelettmuskulatur, oder isolierte Symptome des zentralen Nervensystems wie Epilepsie können im Rahmen mitochondrialer Erkrankungen des Erwachsenenalters auftreten. Ursächlich für mitochondriale Funktionsstörungen können Mutationen des mitochondrialen Genoms (mtDNA) oder in nukleären Genen sein. Diagnostik und Therapie sollten in spezialisierten neuromuskulären Zentren erfolgen. Eine kurative Behandlung steht bislang nicht zur Verfügung. In erster Linie zielt die Therapie daher auf Prävention und symptomatische Behandlung typischer Beschwerden und Komplikationen.
Epidemiologie
- Gesamtprävalenz für mitochondriale Erkrankungen bei Erwachsenen: Ca. 1:4.300
- Zählen zu den häufigsten hereditären neurologischen Erkrankungen bei Erwachsenen
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Basisdiagnostik
- Anamnese und Familienanamnese
- Klinische Untersuchung: Neurologischer, allgemeiner und internistischer Status
- Labor
- Liquordiagnostik
- Neurophysiologische Untersuchungen: EMG, Neurografie, EEG
- Kardiale Diagnostik: EKG, TTE
- Genetische Diagnostik
- Für Details siehe jeweiliges Krankheitsbild
- Muskelbiopsie
- Histologie/Enzymhistochemie: Ggf. Nachweis von Ragged-Red-Fasern (RRF), COX-negativen/SDH-positiven Fasern
- Biochemische Analytik: Isolierte Aktivitäten von Atmungskettenkomplexen I–V, Citratsynthase, ggf. Pyruvatdehydrogenase-Komplex, evtl. Coenzym-Q10-Konzentration
- Kraniale Bildgebung (MRT/CT)
Zusatzuntersuchungen nach Diagnosestellung
- Kardiologie
- 24-h-EKG
- Herzultraschall
- Ggf. Kardio-MRT
- Ophthalmologie
- Bulbusmotilitätsstörungen
- Fundoskopie
- HNO
- Hörtest
- Bei Dysphagie: Videofluoroskopie
- Endokrinologische Laboruntersuchungen
Allgemeine Therapieempfehlungen
Supportive Therapieversuche
- Häufig verwendete Substanzen
- Ubiquinon (Coenzym-Q10) 50–300 mg/d p.o.: Bei allen mitochondrialen Erkrankungen
- Kreatin-Monohydrat 80–150 mg/kgKG/d p.o.: Bei Skelettmuskelbeteiligung
- L-Carnitin 2–4 g/d verteilt auf 3 Einzeldosen p.o. oder 2–4 g/d i.v.: Bei Kardiomyopathie, Carnitinmangel
- Einsatz verschiedener Vitamine: Keine ausreichende Evidenz
Es existiert keine kurative Therapie!
Prävention einer Krankheitsverschlechterung
- Vermeidung krankheitsverschlechternder Faktoren, bspw.
- Höhenaufenthalte
- Starke Hitze/Kälte
- Allgemeinanästhesie
- Bestimmte Medikamente
- Katabole Zustände
- Unterstützende Maßnahmen, bspw.
- Ernährung
- Sport
- Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie
- Hilfsmittel, bspw. Hörgeräte/Cochlea-Implantat bei Innenohrschwerhörigkeit
- Notfallpass bzw. Anästhesie-Ausweis für Muskelkranke
Symptomatische Behandlungsoptionen
- Bei episodischer schwerer Lactatazidose
- Korrektur mit Bicarbonat
- Dialyse
- Dichloroacetat
- Prävention: U.a. Vermeidung von Ringer-Lactat-Lösung, Linezolid, Biguaniden wie Metformin
- Bei endokrinologischen Krankheiten
- Hormonersatztherapie
- Konventionelle Therapie eines Diabetes mellitus, jedoch keine Biguanide anwenden
- Bei respiratorischer Insuffizienz/Atemmuskelschwäche
- Atemphysiotherapie, Atemtraining
- Hustenassistent (Cough Assist)
- Einleitung einer nicht-invasiven Ventilationstherapie
- Bei gastroenterologischen Komplikationen
- Malnutrition/schwere Dysphagie: Modifizierte Kost, Logopädie, PEG/PEJ
- Schwere Kachexie: Parenterale Ernährung
- Gastrointestinale Motilitätsstörungen: Ablauf-PEG
- Krikopharyngeale Achalasie
- Krikopharyngeale Myotomie
- Parenterale Ernährung
- Entblähende Mittel, ggf. Laxanzien
- Ernährungsberatung
- Bei kardiologischen Komplikationen
- Kardioverter-Defibrillator oder Herzschrittmacher bei Reizleitungsstörungen
- Selten: Herztransplantation
- Bei ophthalmologischen Beschwerden
- Trockene Augen: Befeuchtende Augentropfen, Augensalbe/-gel zur Nacht
- Prismenbrillen, selten Schiel-OP
- Lid-Frontalis-Suspensions-OP
- Kataraktchirurgie
- Bei neuromuskulären Schmerzsyndromen: Gezielte, multimodale Schmerztherapie
Krankheitsbilder (Auswahl)
Im Folgenden werden häufige mitochondriale Erkrankungen mit Relevanz im Erwachsenenalter aufgeführt.
Chronisch-progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO)
Kurzbeschreibung
- Mitochondriale Erkrankung mit meist beidseitiger, oft asymmetrischer Ptosis und fortschreitender Lähmung der äußeren Augenmuskeln
- Bei CPEOplus: Zusätzlich weitere systemische Symptome
Ätiologie
- Genetische Ursachen
- Sporadisch
- Singuläre Deletionen der mitochondrialen DNA: >50% der CPEO-/CPEOplus-Fälle
- Duplikationen der mtDNA
- Punktmutationen der mtDNA
- Maternaler Erbgang: Verschiedene Punktmutationen der mtDNA
- Autosomaler Erbgang: Mutationen in nukleären Genen, die für die mtDNA-Erhaltung wichtig sind (mtDNA Maintenance Disorders)
- Autosomal-dominant: Mutationen in POLG, C10orf2 (Twinkle), RRM2B, SLC25A4 (ANT1), DNA2, OPA1 , POLG2 (selten)
- Autosomal-rezessiv: Mutationen in POLG, C10orf2 (Twinkle), DGUOK, MGME1, RNASEH1, SPG7, TK2, SLC25A4 (ANT1), RRM2B (selten)
- Sporadisch
Symptomatik
- Leitsymptome
- Oberlidptosis: Meist bilateral, oft asymmetrisch
- Progrediente externe Ophthalmoplegie
- Häufige Begleitsymptome
- Muskuläre Belastungsintoleranz
- Bein- und proximal betonte Paresen
- CPEOplus
- Fatigue
- Facies myopathica
- Dysphagie
- Kardiale Reizleitungsstörungen, seltener Kardiomyopathien
- Endokrine Störungen
- Kleinwuchs
- Innenohrschwerhörigkeit
- Polyneuropathie
- Ataxie
- Pigmentretinopathie, Netzhautdystrophie
- Optikusatrophie
- Neuropsychologische Auffälligkeiten, milde kognitive Störungen
- Respiratorische Dysfunktion
- Klinisches Kontinuum zum Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Molekulargenetik: Untersuchungsmaterial abhängig vom Erbgang
- Endokrinologische Untersuchung
- Neuropsychologische Testung
Therapie
Kearns-Sayre-Syndrom (KSS)
Kurzbeschreibung
- Mitochondriale Multisystemerkrankung mit frühem Beginn (vor dem 20. Lebensjahr)
Ätiologie
- Nahezu ausschließlich sporadisches Auftreten
- Genetische Defekte
- Über 80% der Fälle: Singuläre mtDNA-Deletionen, seltener Duplikationen
- Häufig Nachweis der sog. „Common Deletion“ (4977 Basenpaare)
- Sehr selten: mtDNA-Punktmutationen oder Mutationen in nukleären Genen (bspw. RRM2B)
- Über 80% der Fälle: Singuläre mtDNA-Deletionen, seltener Duplikationen
Symptomatik
- Mit Diagnoserelevanz
- Obligate Symptome
- Externe Ophthalmoplegie (CPEO) mit Ptosis
- Pigmentretinopathie
- Symptombeginn vor dem 20. Lebensjahr
- Zusätzliche Symptome (mind. 1)
- Kardiale Reizleitungsstörungen
- Zerebelläre Ataxie
- Liquoreiweißerhöhung ≥100 mg/dL
- Obligate Symptome
- Weitere typische Begleitsymptome
- Kleinwuchs
- Innenohrschwerhörigkeit
- Kachexie
- Endokrine Störungen
- Nephro- und Tubulopathien (renales Debré-de-Toni-Fanconi-Syndrom)
- Dysphagie
- Hypophonie
- Respiratorische Dysfunktion
- (Axonale) Polyneuropathie
- Neuropsychologische und kognitive Störungen
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Molekulargenetik
- Weitere
- Liquor: Ggf. Nachweis einer 5-MTHF-Defizienz
- Serum: Folsäurebestimmung
- Endokrinologische Abklärung (Schilddrüse, Nebenschilddrüse, Hypothalamus/Hypophyse)
- Neuropsychologische Testung
Erkrankungsspezifische Therapie
- Zerebraler Folatmangel: Supplementation mit Folinsäure bei zerebralem Folatmangel (Off-Label Use)
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Differenzialdiagnosen
- Chronisch-progressive externe Ophthalmoplegie plus (CPEOplus)
- Pearson-Syndrom
MELAS-Syndrom
Kurzbeschreibung
- Mitochondriale Enzephalomyopathie, Laktatazidose und schlaganfallähnliche Episoden (MELAS)
Ätiologie
- Genetik: Überwiegend maternaler Erbgang
Symptomatik
- Manifestationsalter: Überwiegend <40 Jahre
- Leitsymptom: Wiederholte schlaganfallähnliche Episoden
- Häufige Begleitsymptome: Migräneartige Kopfschmerzen mit Erbrechen, epileptische Anfälle
- Häufige Erstmanifestation: Hemianopsie oder kortikale Blindheit
- Weitere Symptome
- Innenohrschwerhörigkeit
- Retinale Veränderungen (Netzhautdystrophie, Pigmentretinopathie)
- Kleinwuchs
- Diabetes mellitus
- Gastrointestinale Beschwerden
- Untergewicht
- Muskuläre Belastungsintoleranz
- Kardiomyopathie
- Im Verlauf: Entwicklung kognitiver Störungen bis hin zur Demenz
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Charakteristische Befunde
- Labor: Lactatazidose
- Muskelbiopsie: Mitochondriale Myopathie (oft mit COX-positiven Ragged-Red-Fasern)
- Weitere Untersuchungen
- cMRT
- Akut: Läsionsnachweis, Besonderheiten
- Lokalisation unabhängig von vaskulären Territorien
- Morphologieverlauf: Zunächst Ausbreitung, dann partielle Rückbildung
- I.d.R. erhöhter ADC-Wert in der DWI
- Im Intervall: Oft fokale Substanzdefekte, v.a. parieto-okzipital
- Akut: Läsionsnachweis, Besonderheiten
- EEG: Ggf. mit Fotostimulation, 24-h-EEG
- Endokrinologische Untersuchung: Schilddrüse, Hypothalamus-Hypophysen-Achse
- Neuropsychologische Testung
- Molekulargenetik
- cMRT
Erkrankungsspezifische Therapie
- Reduktion der schlaganfallähnlichen Episoden
- Migränöse Kopfschmerzen: Sumatriptan
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Valproat kann die schlaganfallähnlichen Episoden provozieren und bei POLG-Mutationen Leberversagen auslösen!
MERRF-Syndrom
Kurzbeschreibung
- Myoklonusepilepsie mit Ragged-Red-Fasern in der Muskelbiopsie (MERRF)
Ätiologie
- Genetische Ursache: Überwiegend Mutationen der mtDNA in tRNA-Genen
- Häufigste Mutation: Heteroplasmische m.8344A>G-Punktmutation im MT-TK-Gen (ca. 80% der Patient:innen)
- Seltenere Mutationen
- Punktmutationen von m.8356T>C, m.8363G>A, m.8361G>A (MT-TK-Gen) oder in MT-TF, MT-TP, MT-TS1
- Rezessive Mutation in nukleärem Gen POLG
Symptomatik
- Typisches Erkrankungsalter: Ca. 10–30 Jahre
- Leitsymptom: Myoklonusepilepsie (fokale und generalisierte epileptische Anfälle, Myoklonien)
- Weitere typische Symptome
- Zerebelläre Ataxie
- Optikusatrophie
- Innenohrschwerhörigkeit
- Polyneuropathie
- Kleinwuchs
- Muskuläre Belastungsintoleranz
- Psychiatrische Auffälligkeiten
- Demenzentwicklung
- Kutane Lipome (insb. im Nacken)
- Overlap-Syndrome: Atypische MERRF- und MELAS/MERRF-Overlap-Syndrome sind beschrieben
Die Erkrankungsschwere beim MERFF-Syndrom zeigt eine hohe interindividuelle Variabilität!
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Muskelbiopsie: I.d.R. Nachweis von Ragged-Red-Fasern (RRF)
- Bildgebung: cMRT
- Zerebelläre Atrophie
- Läsionen in den Stammganglien
- Molekulargenetik (Muskel- oder Blut-DNA)
- EEG: Ggf. mit Fotostimulation, 24-h-EEG
- Endokrinologische Untersuchung: Schilddrüse, Hypothalamus-Hypophysen-Achse
- Neuropsychologische Testung
Erkrankungsspezifische Therapie
- Myoklonien und epileptische Anfälle: Levetiracetam, Clonazepam, Zonisamid
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Differenzialdiagnosen
NARP-Syndrom
Kurzbeschreibung
- Neuropathie, Ataxie und Retinitis pigmentosa (NARP)
Ätiologie
- Vererbung: Maternal
- Genetische Ursache: Meist heteroplasmische Punktmutationen im mitochondrialen Gen MT-ATP6
- Häufigste Mutationen: m.8993T>G oder m.8993T>C
- Seltenere Mutationen: m.8618insT, m.8839G>C, m.8989G>C, m.9032T>C, m.9127-9128delAT, m.9185T>C
- Heteroplasmie: Eher klinisches Kontinuum statt eindeutige Korrelation zwischen Genotyp und Phänotyp
- Mutationslast <70%: Oft asymptomatisch
- Mutationslast 70–100%: Häufig assoziiert mit NARP-Phänotyp
- Mutationslast >90%: Meist maternal vererbtes Leigh-Syndrom (MILS)
Viele Personen mit MT-ATP6-Mutation zeigen Phänotypen mit Überlappung von NARP und MILS!
Symptomatik
- Manifestationsalter: Meist Kindes- oder frühes Erwachsenenalter
- Kernmerkmale: Namensgebende Trias
- Häufige Begleitsymptome
- Entwicklungsverzögerungen
- Kardiomyopathie
- Sensorineurale Schwerhörigkeit
- Dysarthrie
- Dysphagie
- Epileptische Anfälle
- Kleinwuchs
- Progressive externe Ophthalmoplegie
- Optikusatrophie
- Kognitive Einbußen (bis zur Demenz)
- Pyramidale und extrapyramidale Symptome
- Proximale Muskelschwäche
- Lactatazidose
- Renale Beteiligung
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Klinische Diagnosestellung: Keine exakten diagnostischen Kriterien vorhanden
- Molekulargenetik (aus Blut-DNA): Nachweis einer pathogenen Mutation im MT-ATP6-Gen
- Bildgebung: cMRT
- Weitere Untersuchungen
- Elektrophysiologie
- Elektromyografie, Neurografie
- EEG (ggf. 24-h-EEG)
- Neuropsychologische Testung
- Ophthalmologische Untersuchung
- Elektrophysiologie
Erkrankungsspezifische Therapie
- Symptomatische Behandlung
- Neuropathische Schmerzen: Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin, Oxcarbazepin
- Dystonie: Tetrabenazin, Gabapentin; Botulinumtoxin
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Prognose
- Abhängig von Heteroplasmiegrad und Phänotyp
Hereditäre Leber-Optikus-Neuropathie (LHON)
Kurzbeschreibung
- Mitochondriale Erkrankung mit zentraler Visusminderung
- Benennung nach dem Erstbeschreiber Theodor von Leber (1840–1917)
Ätiologie
- Genetik: I.d.R. maternaler Erbgang
- Penetranz: Inkomplett
- Männer: Ca. 50%
- Frauen: Ca. 10%
- Risikofaktoren für eine Krankheitsmanifestation
Symptomatik
- Manifestationsalter: Ca. 10–50 Jahre
- Leitsymptom: Visusminderung, v.a. zentrales Gesichtsfeld
- Begleitsymptome (selten): Neurologische Defizite, insb.
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Ophthalmologische Untersuchung
- Fundoskopie
- Farbkontrastsehen
- Optische Kohärenztomografie (OCT)
- Ggf. Fluoreszenzangiografie
- Perimetrie
- Molekulargenetik (Blut-DNA)
- Untersuchung auf Mutationen in: m.11778G>A, m.14484T>C, m.3460G>A
- Bei negativem Befund: Komplettsequenzierung der mtDNA
- Bei negativem Befund: Sequenzierung von DNAJC30
- Bei negativem Befund: Komplettsequenzierung der mtDNA
- Untersuchung auf Mutationen in: m.11778G>A, m.14484T>C, m.3460G>A
- Neurophysiologie: Visuell evozierte Potenziale (VEP)
Abklärung von Differenzialdiagnosen
- Bildgebung
- cMRT : Ausschluss von bspw. entzündlichen ZNS-Erkrankungen, Raumforderung
- Vereinbar mit LHON: Zerebrale Multiple-Sklerose-ähnliche Läsionen („White Matter Lesions“)
- Orbitasonografie
- Farbduplexsonografie: Karotiden und A. temporalis superficialis
- cMRT : Ausschluss von bspw. entzündlichen ZNS-Erkrankungen, Raumforderung
- Lumbalpunktion mit Liquordruckmessung: Ausschluss von bspw. entzündlichen ZNS-Erkrankungen, idiopathischer intrakranieller Hypertension
- Vereinbar mit LHON: Oligoklonale Banden im Liquor
- Labor: Bspw. Schilddrüsen-, Vaskulitisparameter, BSG, CRP
Erkrankungsspezifische Therapie
- Prävention: Insb. Vermeidung von Rauchen (Mutationsträger)
- Medikamentöse Therapie
- Idebenon
- Dosierung: 900 mg/d
- Behandlungsdauer: Mind. 1 Jahr
- Zulassung: Ab 12 Jahren
- Idebenon
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Differenzialdiagnosen
- Autosomal vererbte Optikusatrophie (bspw. OPA1-Mutation, autosomal-dominanter Erbgang)
Prognose
- Meist permanente, ausgeprägte Visusminderung
- Partielle Remissionen: 4–40% der Fälle
Mitochondriale neurogastrointestinale Enzephalomyopathie (MNGIE)
Kurzbeschreibung
- Multisystemerkrankung mit einer Mischung aus neurologischen und gastrointestinalen Symptomen
Ätiologie
- Mutationen im TYMP-Gen (autosomal-rezessive Vererbung)
- Kodiert für das zytosolische Enzym Thymidinphosphorylase
- Mutationen führen zu stark reduzierter Enzymaktivität
- Folgen
- Anreicherung von Thymidin und Desoxyuridin in Blut und Extrazellularflüssigkeit
- Störung des Gleichgewichts des intramitochondrialen Nukleosid-Pools
- Störungen der mtDNA-Replikation und -Reparatur mit Deletionen, Depletion und Punktmutationen der mtDNA
Symptomatik
- Manifestationsalter: In >75% der Fälle in der ersten und zweiten Lebensdekade
- Charakteristische Befundkonstellation
- Gastrointestinale Motilitätsstörung
- Episodisch auftretende Diarrhöen
- Völlegefühl
- Übelkeit/Erbrechen
- Obstipation
- Intestinale Pseudoobstruktion
- Gastroparese
- Folgen: Chronische Malnutrition, Kachexie
- Externe Ophthalmoplegie und/oder Ptosis
- Sensomotorische Polyneuropathie
- Asymptomatische Leukenzephalopathie
- Gastrointestinale Motilitätsstörung
- Weitere mögliche Symptome
- Ataxie
- Hörminderung
- Myopathie
- Optikusatrophie
- Pigmentretinopathie
- Dysphagie
- Tremor
- Lactatazidose
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Laborchemie
- Thymidinphosphorylase-Aktivität im „Buffy Coat“ (Goldstandard)
- ≤8%: „Typische“ MNGIE-Patient:innen
- 15%: „Late-Onset“-Patient:innen
- Bis 35%: Asymptomatische Träger:innen
- Konzentrationen von Thymidin und Desoxyuridin im Serum
- Diagnostisch für MNGIE
- Thymidin: >3 μmol/L
- Desoxyuridin: >5 μmol/L
- Niedrigere Werte bei „Late-Onset“-Patient:innen möglich
- Thymidin: >0,4 μmol/L
- Desoxyuridin: >1,0 μmol/L
- Diagnostisch für MNGIE
- Thymidinphosphorylase-Aktivität im „Buffy Coat“ (Goldstandard)
- Molekulargenetik
- Muskelbiopsie: Nachweis mitochondrialer Auffälligkeiten (RRF, COX-negative Fasern, morphologisch abnorme Mitochondrien)
- cMRT: Nachweis einer Leukenzephalopathie
- Gastroenterologische Abklärung
- Magen-Darm-Passage
- Ggf. Gastro-, Duodeno-, Koloskopie
- Lumbalpunktion: Erhöhtes Liquoreiweiß
Erkrankungsspezifische Therapie
- Symptomatische Maßnahmen
- Sicherung einer ausreichenden Flüssigkeits- und Kalorienzufuhr
- Bei parenteraler Ernährung: Ohne Thymidin
- Bei starker Ausprägung von Diarrhöen oder Obstipation: Pharmakotherapie
- Bei neuropathischen Schmerzen: Behandlung mit bspw. Gabapentin, Plexus-coeliacus-Blockade
- Kausale Therapieansätze (bisher nur Einzelfälle)
- Hämodialyse
- Kontinuierliche Peritonealdialyse (CAPD)
- Transfusion von Thrombozyten gesunder Spender
- Transplantation allogener hämatopoetischer Stammzellen (HSCT)
- Erythrozyten-verkapselte Thymidinphosphorylase (EE-TP)
- Lebertransplantation
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Differenzialdiagnosen
- Myasthenia gravis
- Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
- Zöliakie
- Morbus Crohn
- Anorexia nervosa (insb. bei jüngeren Frauen)
Prognose
- Verlauf: Chronisch-progredient
- Lebenserwartung: Deutlich reduziert (aufgrund der meist schweren gastrointestinalen Symptome)
Mitochondriale DNA-Depletionssyndrome (MDS)
Kurzbeschreibung
- Gruppe klinisch heterogener Erkrankungen
- Variable Phänotypen mit vorrangig myopathischer, kardialer, enzephalomyopathischer, hepatozerebraler oder neurogastrointestinaler Präsentation
Ätiologie
- Genetische Ursache: Autosomal-rezessive Mutationen in >15 (bekannten) nukleären Genen
- Pathomechanismen: mtDNA-Depletion/-Deletionen aufgrund unterschiedlicher Störungen
- mtDNA-Replikation und -Erhaltung (Maintenance)
- Verantwortliche Gene: U.a. POLG, C10orf2 (Twinkle), SLC25A4 (ANT1), MGME1, TFAM
- Gleichgewicht des mitochondrialen Nukleosid-/Nukleotid-Pools
- Betrifft die De-novo-Synthese oder Salvage Pathways
- Verantwortliche Gene: TK2, DGUOK, RRM2B, TYMP, MPV17, SUCLA2, SUCLG1
- Mitochondriale Dynamik und Qualitätskontrolle
- Verantwortliche Gene
- Dynamik: OPA1, MFN2, DRP1
- Qualitätskontrolle: SPG7, AFG3L2
- Verantwortliche Gene
- Ungeklärte Mechanismen
- Bei organspezifischen, sich früh manifestierenden Syndromen
- Verantwortliche Gene: FBXL4, GFER, ABAT, AGK, SLC25A21
- mtDNA-Replikation und -Erhaltung (Maintenance)
Symptomatik
- Klinisches Spektrum: Sehr variabel
- Reicht von milder externer Ophthalmoplegie bis zu schweren Multisystemerkrankungen
- Manifestation auch mit isolierter CPEO möglich
- Zunehmend auch mildere Late-Onset-Phänotypen beschrieben
- Phänotypen nach Hauptbeteiligung
- Myopathisch
- Kardial
- Enzephalomyopathisch
- Hepatozerebral
- Neurogastrointestinal
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Molekulargenetik
- Bildgebung: cMRT zur Detektion von Signalveränderungen in Marklager und Basalganglien
- Labor: Organische Säuren im Urin (Methylmalonsäure↑ bei SUCLA2- und SUCLG1-Defekten)
- Weitere Untersuchungen
- Gastroenterologischer Status
- Ggf. Leberbiopsie (CAVE: Gerinnungsstörungen!)
Erkrankungsspezifische Therapie
- Strenge Kontraindikation: Valproat (Gefahr eines akuten Leberversagens)
- In Einzelfällen: Lebertransplantation
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Mitochondriale Myopathie
Kurzbeschreibung
- Mitochondriale Erkrankung mit Skelettmuskelbeteiligung ohne Zuordnung zu den klassischen Syndromen
Ätiologie
- Nukleäre Mutationen oder primäre mtDNA-Mutationen
- Beispiele für Gene/Mutationen, die zu einer mitochondrialen Myopathie führen können
- Coenzym-Q10-Defizienz mit autosomalem Erbgang (ETFDH-Mutationen)
- Mutationen im nukleären TK2-Gen mit Thymidinkinase-2(TK2)-Defizienz
- Rezessive Mutationen im POLG-Gen
Symptomatik
- Dominierende Muskelsymptomatik
- Belastungsabhängige muskuläre Symptomatik
- Rhabdomyolysen
- Gliedergürtelsyndrom
- Mögliche Begleitsymptome
- Externe Ophthalmoplegie
- Ptosis
- Leichte Multisystembeteiligung
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Molekulargenetische Diagnostik
Erkrankungsspezifische Therapie
- Körperliches Training
- Bei belastungsabhängiger Symptomatik
- Regelmäßiges Training sehr empfehlenswert
- Individuelle Belastungsgrenze nicht überschreiten
- Bei belastungsabhängiger Symptomatik
- Bei Myoglobinurie
- Ärztliche Überwachung der Nierenfunktion
- Ausgiebige Flüssigkeitszufuhr, ggf. forcierte Diurese
- Bei TK2-Defizienz: Hinweise auf Wirksamkeit einer Nukleosid-Therapie
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Coenzym-Q10-Defizienz
Kurzbeschreibung
- Heterogene Erkrankungsgruppe durch eine gestörte Biosynthese von Coenzym-Q10
Ätiologie
- Primäre Coenzym-Q10-Defizienz
- Mutationen in Genen, die für die Coenzym-Q10-Biosynthese notwendig sind , u.a.
- PDSS1, PDSS2
- COQ2, COQ4, COQ6
- ADCK3/COQ8A, ADCK4
- COQ9
- Mutationen in Genen, die für die Coenzym-Q10-Biosynthese notwendig sind , u.a.
- Sekundäre Coenzym-Q10-Defizienz
- Tritt unabhängig von einer gestörten Coenzym-Q10-Biosynthese auf
- Mögliche Ausprägungen
- Defekte der Atmungskette
- Multiple Acyl-CoA-Dehydrogenase-Defizienz (ETFDH-Mutationen)
- Ataxie mit oder ohne okulomotorische Apraxie
Symptomatik
- Variables Erstmanifestationsalter: Von früher Kindheit bis zur 7. Lebensdekade
- Klinisches Spektrum
- Fatale multisystemische Erkrankungen
- Isolierte Organmanifestationen, bspw.
- Steroidresistentes nephrotisches Syndrom
- Isolierte ZNS-Beteiligung
Erkrankungsspezifische Diagnostik
- Beachte auch: Basisdiagnostik bei mitochondrialen Erkrankungen
- Molekulargenetik
-
Next-Generation Sequencing (NGS) mit Gen-Panel-Diagnostik aus Blut-DNA
- Zielgene: PDSS1, PDSS2, COQ2, COQ4, COQ6, ADCK3/COQ8A, ADCK4, COQ9, ETFDH, APTX, ANO10
-
Next-Generation Sequencing (NGS) mit Gen-Panel-Diagnostik aus Blut-DNA
- Biochemische Analysen
- Indikation: Insb. bei unklarem genetischen Befund
- Untersuchungen
- Bestimmung der Coenzym-Q10-Konzentration im Muskel
- Messung der Atmungskettenkomplexe im Muskel
Erkrankungsspezifische Therapie
- Coenzym-Q10-Supplementation
- Präparate
- Ubiquinon
- Ubiquinol
- Wirkmechanismus
- Mobiler Elektronen-Carrier (Komplex I/II zu Komplex III)
- Antioxidative Eigenschaften
- Anwendung
- Ubiquinon 300–1000 mg/d oral , im Bedarfsfall ggf. höher
- Alternativ: Ubiquinol (modifizierte Äquivalenzdosis)
- Nebenwirkungen: Keine
- Bei ETFDH-Defekt: Kombination mit Riboflavin (Off-Label Use)
- Präparate
- Siehe auch: Allgemeine Therapieempfehlungen für mitochondriale Erkrankungen
Prognose
- Bei primärer Coenzym-Q10-Defizienz: Krankheitsprogress kann bei frühzeitiger Diagnosestellung und Therapie gestoppt werden
- Bei sekundärer Coenzym-Q10-Defizienz: Therapieeffekte i.d.R. weniger stark ausgeprägt
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- G31.-: Sonstige degenerative Krankheiten des Nervensystems, anderenorts nicht klassifiziert
- G31.8-: Sonstige näher bezeichnete degenerative Krankheiten des Nervensystems
- G31.81: Mitochondriale Zytopathie
- G31.8-: Sonstige näher bezeichnete degenerative Krankheiten des Nervensystems
- G71.-: Primäre Myopathien
- G71.3: Mitochondriale Myopathie, anderenorts nicht klassifiziert
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.