Abstract
Beim Guillain-Barré-Syndrom (GBS) handelt es sich um eine meist nach Infekten auftretende Erkrankung des peripheren Nervensystems. Es ist von aufsteigenden, symmetrischen Lähmungen gekennzeichnet, denen pathologisch eine durch Autoantikörper verursachte, akute, entzündliche und demyelinisierende Polyneuropathie zugrunde liegt. Diagnostisch wegweisend sind eine starke Eiweißerhöhung ohne Zellvermehrung im Liquor sowie Demyelinisierungszeichen in den elektrodiagnostischen Verfahren. In der Mehrzahl der Fälle entwickeln sich die Symptome in umgekehrter Reihenfolge unter Therapie wieder zurück. In schweren Fällen kommen Immunglobuline oder Plasmapheresen gegen die Autoantikörper zum Einsatz. Gefürchtet sind akut einsetzende autonome Komplikationen.
Epidemiologie
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Nicht abschließend geklärt
- Angenommen wird eine (postinfektiöse) Autoimmunreaktion
- ⅔ der Fälle ist eine virale oder bakterielle Infektion (meist des Magen-Darm- oder Respirationstraktes) vorausgegangen
- Autoantikörper gegen Myelin und Ganglioside (GM1–3) vorhanden
- Gesicherte auslösende Erreger
Pathophysiologie
Infektion → Autoantikörper → Vorwiegend segmentale Demyelinisierung (bei sehr schweren Verläufen sekundäre axonale Degeneration)
Symptome/Klinik
- Beginn: Meist mit Schmerzen im Rücken und den Gliedern, v.a. akrodistale Parästhesien
- Im Verlauf
- Periphere, symmetrische Parästhesien an Füßen und Händen, häufig aber auch keine Sensibilitätsausfälle
- Distal beginnende, meist symmetrische, im Verlauf aufsteigende schlaffe Paresen (in Stunden bis Tagen)
- Verlust oder starke Verminderung der Muskeleigenreflexe
- Kann Atemmuskulatur erreichen (sog. Landry-Paralyse)
- Hirnnervenausfälle, insb. N. facialis (VII, häufig bilateral = Diplegia facialis), aber auch N. glossopharyngeus (IX) und N. vagus (X)
- Autonome Störungen der Herz- und Kreislaufregulation, sowie Blasen- und Darmstörungen
- Wechsel von gesteigerter oder verminderter Sympathikus- (Tachykardie, Extrasystolen, Vasokonstriktion, Schwitzen) und Parasympathikusaktivität (dramatische Bradykardie, reduzierte Reflextachykardie, plötzlicher Herztod)
Bei einer Landry-Paralyse ist eine Beatmung erforderlich!
Verlaufs- und Sonderformen
Miller-Fisher-Syndrom
- Beschreibung: Variante des Guillain-Barré-Syndroms, die insb. die Hirnnerven schädigt
- Klinik: Symptomtrias aus Ophthalmoplegie, Ataxie und Areflexie
- Diagnostik: Nachweis von Autoantikörpern gegen das Gangliosid GQ1b im Blut, eine zytoalbuminäre Dissoziation kann fehlen oder erst im Verlauf auftreten
- Therapie: Wie Guillain-Barré-Syndrom
Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP)
- Beschreibung: Die CIDP gilt gewissermaßen als chronische Form des Guillain-Barré-Syndroms, wird heutzutage aber als eigenständiges Krankheitsbild betrachtet
- Weniger häufig mit Infekten assoziiert als GBS
- Klinik: Persistenz der Symptomatik >2 Monate
- Therapie: Glucocorticosteroide, Immunglobuline, alternativ Plasmapherese
Akute Pandysautonomie
- Beschreibung: Die akute Pandysautonomie wird als Variante des Guillain-Barré-Syndroms mit exklusivem Befall des autonomen Nervensystems diskutiert
- Klinik: Schwere Störung sämtlicher autonomer Funktionen
- Störungen der Kreislaufregulation, der Schweiß-, Tränen- und Speichelsekretion; zudem Lähmungen der inneren Augenmuskeln und Blasen- und Mastdarmstörungen
Diagnostik
Klinische Chemie
- Liquorpunktion
- Erste Erkrankungswoche: Liquor-Gesamteiweiß häufig noch normwertig
- Ab zweiter bis dritter Erkrankungswoche: Zytoalbuminäre Dissoziation (= starke Vermehrung des Gesamteiweißes im Liquor aufgrund einer Schrankenstörung der Blut-Hirn-Schranke und fehlende Pleozytose)
- Blutuntersuchung
- Evtl. Serologie zur Suche nach möglicherweise auslösenden Erregern (bspw. Campylobacter jejuni)
- Evtl. Nachweis von Antikörpern gegen Ganglioside (bspw. Anti-GM1-AK, selten Anti-GQ1b-AK)
- Evtl. leichte Myoglobin- und Gesamt-CK-Erhöhung
Apparative Untersuchungen
- Elektroneurographie
- Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) aufgrund der Demyelinisierung : Verlängerung der F-Wellen-Latenz
- Elektromyogramm
- Kann Denervierungszeichen wie auch pathologische Spontanaktivität zeigen (prognostisch ungünstiger)
- EKG
- Einschränkung der Herzfrequenzvariabilität aufgrund autonomer Störungen
- Lungenfunktionsuntersuchung
-
Messung der Vitalkapazität
- Ausschluss einer (beginnenden) Landry-Paralyse
-
Messung der Vitalkapazität
Therapie
- Allgemeine Therapie
- Kontrolle der Atemfunktion, ggf. Behandlung auf Intensivstation und rechtzeitige Intubation mit maschineller Beatmung
- Dekubitus- und Thromboseprophylaxe
- Ggf. passagere Herzschrittmacher-Implantation
- Medikamentöse Therapie
- Gabe von hochdosierten Immunglobulinen
- Alternativ: Plasmapherese
- Trotz der vermutlich autoimmunen Genese der Erkrankung: Glucocorticoide nicht wirksam!
Prognose
- Bei 70% der Patienten ist der Verlauf günstig: Die Symptome entwickeln sich in umgekehrter Reihenfolge wieder komplett zurück (über Monate), nachdem der Höhepunkt etwa 2–4 Wochen nach Beginn erreicht worden ist
- 5% der Patienten versterben an plötzlichen Komplikationen, darunter v.a. Atemlähmungen, Lungenembolien und kardiale Komplikationen
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Kodierung nach ICD-10-GM Version 2021
- G61.-: Polyneuritis
- G61.0: Guillain-Barré-Syndrom
- Akute (post‑)infektiöse Polyneuritis
- Miller-Fisher-Syndrom
- G61.1: Serumpolyneuropathie
- G61.8: Sonstige Polyneuritiden
- G61.9: Polyneuritis, nicht näher bezeichnet
- G61.0: Guillain-Barré-Syndrom
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2021, DIMDI.