Zusammenfassung
Der Morbus Wilson ist eine autosomal-rezessiv vererbte Stoffwechselerkrankung, die u.a. durch eine gestörte Kupferausscheidung über die Galle eine Akkumulation des Metalls im Körper bewirkt. Folge sind leberspezifische (Hepatitis, Leberzirrhose) sowie neurologisch-psychiatrische Symptome (Demenz, Parkinsonoid), die oft in Kombination zu der Verdachtsdiagnose führen. Diagnostisch sollten die Kupferausscheidung im 24-h-Sammelurin und die Konzentration des Coeruloplasmins (Transportprotein) im Serum bestimmt werden. Zudem kann bei unklaren Fällen eine Probebiopsie der Leber einen erhöhten Kupferanteil zeigen. Die Therapie besteht in einer kupferarmen Diät sowie der frühzeitigen Gabe von Chelatbildnern (z.B. D-Penicillamin). Unter adäquater Therapie ist die Prognose günstig.
Epidemiologie
- Manifestation: Im Alter zwischen 4 und 45 Jahren [1]
- Prävalenz: Ca. 1:30.000 [2]
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die epidemiologischen Daten auf Deutschland.
Ätiologie
- Genetisch bedingte Erkrankung: Ursächlich sind Mutationen im Wilson-Gen [1]
- Über 800 Mutationen im Wilson-Gen bekannt, die krankheitsursächlich sein können
- Autosomal-rezessiver Erbgang
Pathophysiologie
- Dysfunktion des Wilson-Proteins [1]
- Unzureichende Inkorporation von Kupfer in Coeruloplasmin
- Verminderung der biliären Kupferausscheidung
- Folge: Erhöhung des freien Kupfers im Serum und Ablagerungen von Kupfer in Leber, Cornea, ZNS (Basalganglien, Hirnstamm, Kleinhirn) und Erythrozyten
Symptomatik
Allgemeines [1]
- Heterogene Symptomatik und unterschiedlich schwere Verläufe
- Durch Kupferablagerung klinische Manifestation in allen Organen möglich (Multisystemerkrankung)
- Reversibilität nach Therapiebeginn möglich
Typische Symptome
- Leber: Symptombeginn i.d.R. im Alter von 4–10 Jahren
- Ggf. asymptomatische Transaminasenerhöhung
- Hepatosplenomegalie
-
Steatosis hepatis → Hepatitis (fulminant/akut/chronisch) → Leberzirrhose
- Schmerzen im Oberbauch, Aszites, Ikterus, Pruritus, siehe auch: Symptome der Leberzirrhose
- Hepatische Enzephalopathie: U.a. vermehrte Schläfrigkeit und evtl. Asterixis (Flapping Tremor)
- Akutes Leberversagen
- Nervensystem: Symptombeginn typischerweise erst ab einem Alter von 10 Jahren
- Neurologische Symptome
- Meist akinetisch-rigides Parkinson-Syndrom
- Auch choreatisch-hyperkinetische Bewegungsstörung möglich
- Dysarthrie mit skandierender Sprache
- Dysphagie
- Tremor
- Zerebelläre Ataxie
- Nystagmus
- Störung der Feinmotorik
- Gangstörung
- Dystonie
- Selten: Spastische Symptome, epileptische Anfälle
-
Neuropsychiatrische Symptome
- Initial: Affektive Störungen, Affektlabilität, Impulskontrollstörungen, Aggressivität, Reizbarkeit, Psychosen, kognitive Symptome möglich
- Später: Gleichgültige oder euphorische Demenz
- Neurologische Symptome
- Auge: Kayser-Fleischer-Kornealring
- Kardiovaskulär: Arrhythmie, Kardiomegalie, autonome Funktionsstörungen
- Niere: Nierenfunktionsstörungen, Nierensteine
- Endokrinium: Störungen der Sexualhormone, Spontanaborte, selten: Hypoparathyreoidismus
- Muskuloskeletal: Muskelschmerzen, Muskelschwäche, Rhabdomyolyse, Arthralgien, Osteoporose
Jede unklare, nicht-infektiöse Lebererkrankung und jede unklare extrapyramidale Bewegungsstörung vor dem 45. Lebensjahr sollten an einen Morbus Wilson denken lassen! [1]
Diagnostik
Allgemeines [1]
- Diagnosestellung mittels Scoring-System (sog. Leipzig-Score) aufgrund i.d.R. heterogener Befundkonstellation
- Labordiagnostik und molekulargenetische Untersuchungen essenziell und wichtigste Untersuchungen nach Erheben der klinischen Verdachtsdiagnose
Anamnese und körperliche Untersuchung [1]
- Familienanamnese
- Unklare Transaminasenerhöhung in vergangenen Blutuntersuchungen
- Aufgefallene Veränderungen, insb.
- Allgemeinsymptome einer Leberzirrhose
- Neuropsychiatrische Veränderungen
- Vollständige Untersuchung mit Fokus auf
- Internistisch: Zeichen einer Leberzirrhose
- Neurologisch: Bewegungsstörung, insb. extrapyramidalmotorische Störung wie Parkinson-Syndrom oder Kleinhirnsymptome wie Ataxie
- Spaltlampenuntersuchung: Kayser-Fleischer-Kornealring (nicht obligat) und selten Sonnenblumenkatarakt
Labordiagnostik [1]
- Internistisches Basislabor
- Parameter des Kupferstoffwechsels
- Coeruloplasmin im Serum↓ (pathologische Erniedrigung bei <20 mg/dL)
- Ggf. auch normal oder erhöht (da Akute-Phase-Protein)
- Gesamtkupfer im Serum↓ (pathologische Erniedrigung bei <70 μg/dL)
- Freies Kupfer im Serum↑ (pathologische Erhöhung bei >10 μg/dL)
- Relative Exchangeable Copper (REC): Verhältnis des nicht an Coeruloplasmin gebundenen Kupfers (austauschbares Kupfer) zum Gesamtkupfer im Serum↑ (pathologische Erhöhung bei >15%, Werte >18,5% machen die Diagnose eines Morbus Wilson sehr wahrscheinlich)
- Kupferausscheidung im 24-h-Sammelurin↑ (pathologische Erhöhung bei >100 μg/24 h bzw. ≥40 μg/24 h bei pädiatrischen Patient:innen)
- Coeruloplasmin im Serum↓ (pathologische Erniedrigung bei <20 mg/dL)
Molekulargenetische Untersuchung [1][3]
- Indikation
- Standard zur Diagnosesicherung bei V.a. Morbus Wilson (aber kein alleiniger Goldstandard)
- Grundlage der humangenetischen Beratung und zum Familienscreening
- Limitation
- Keine Genotyp-Phänotyp-Korrelation → Bestimmung der Mutation erlaubt keine Voraussage über klinischen Verlauf
- Als Ergebnis Genvarianten mit unklarer klinischer Signifikanz möglich
- >800 bekannte Mutationen → Je nach Verwendung des eingesetzten Verfahrens Übersehen seltener Mutationen möglich
- Verfahren
- Gezielte Mutationsanalysen (Einzelgentests oder Multigen-Panel)
- Vollständige Sequenzierung des ATP7B-Gens
- Befund: Krankheitsursächliche Genvariante auf beiden Allelen (homozygot) des ATP7B-Gens bestätigt Diagnose
Bildgebende Verfahren [1]
- cMRT
- Indikation
- Bei Diagnosestellung (insb. zum Ausschluss von Differenzialdiagnosen)
- Zur Verlaufskontrolle initial nach 2 Jahren, dann alle 4–6 Jahre zur Therapiekontrolle
- Bei akuter Verschlechterung der neurologischen Symptomatik
- Typische Befunde
- Signalveränderungen in den Basalganglien (insb. Putamen), Thalamus und Kleinhirn
- Atrophie (insb. im Mittelhirn, Kleinhirn und Hirnstamm)
- Evtl. spezielle Anordnung der Kupferablagerungen und Atrophie im Mittelhirn (sog. Face-of-the-giant-panda-Zeichen )
- Indikation
- Sono-Abdomen: Beurteilung von Leber und Milz hinsichtlich Hepato- und/oder Splenomegalie sowie Zeichen einer Leberzirrhose
- Ggf. weitere, bspw. IBZM-SPECT, FDG-PET oder 64Cu-PET/CT-Bildgebung
Weitere Zusatzuntersuchungen
- Leberbiopsie [1]
- Intravenöser Radiokupfertest: Gabe des kurzlebigen Kupferisotops 64Cu und Beobachtung seiner Kinetik [1]
- D-Penicillamin-Belastungstest: Starker Anstieg der Kupferausscheidung im 24-h-Sammelurin [1]
Pathologie
- Leberbiopsat mit Kupferfärbung (Rhodanin- oder Timms-Silber-Färbung): Hepatische Kupferkonzentration↑
Differenzialdiagnosen
- Alle chronischen Lebererkrankungen mit zunächst unklaren Transaminasenerhöhungen
- Andere Erkrankungen, die mit extrapyramidalen Bewegungsstörungen einhergehen, bspw.
- Kleinhirnsyndrom anderer Ursache
- Wernicke-Enzephalopathie
- Bei Beginn im Kindesalter: Störungen des Harnstoffzyklus, Adrenoleukodystrophie
AMBOSS erhebt für die hier aufgeführten Differenzialdiagnosen keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Therapie
Medikamentöse Therapie [1]
Chelatbildner
- Prinzip: Erhöhung der renalen Kupferausscheidung durch Bildung wasserlöslicher Komplexe
- Indikation: Initialtherapie und Erhaltungstherapie symptomatischer Verläufe
- Substanzen
- D-Penicillamin
- Mittel der Wahl (sehr effektiv zur Kupferausscheidung)
-
Nebenwirkungen: Häufig und oft therapielimitierend, insb.
- Initiale Verschlechterung der EPMS
- Dosisabhängig im Verlauf: Blutbildveränderungen, Vitamin-B6-Mangel, Proteinurie, Hautveränderungen (Erytheme, Elastosis perforans serpiginosa)
- Besonderheiten
- Trientine (Triethylentetramin)
- Zulassung als Zweitlinientherapie bei D-Penicillamin-Unverträglichkeit
- Im Vergleich zu D-Penicillamin nebenwirkungsarm bei etwa gleicher Wirksamkeit
- Als Triethylentetramin-Dihydrochlorid und Triethylentetramin-Tetrahydrochlorid verfügbar
- Nebenwirkungen: Überempfindlichkeitsreaktionen und leichte Eisenmangelanämie
- D-Penicillamin
Zinksalze
- Prinzip: Reduktion der intestinalen Kupferresorption
- Indikation: Bei asymptomatischen Verläufen, in der Schwangerschaft und als Erhaltungstherapie nach Phase der mehrjährigen „Kupferausleitung“ mittels Chelatbildnern
- Substanzen: Verschiedene Salze verfügbar (Zinkacetat, Zinksulfat, Zinkhistidin, Zinkgluconat)
Eine Therapie mit Chelatbildnern muss einschleichend über 3–6 Monate begonnen werden, da eine zu rasche Mobilisation des Kupferdepots zu einer neurologischen Verschlechterung führen kann!
Weitere Therapieansätze [1]
- Supportiv zur medikamentösen Therapie: Kupferarme Diät
- Bei fulminantem Leberversagen: Lebertransplantation
- Notfalltherapie überbrückend bis zur Lebertransplantation: Infusion von Albumin oder FFP (bindet freies Kupfer) und anschließende Hämofiltration, Peritonealdialyse oder Plasmapherese erwägen
Kodierung nach ICD-10-GM Version 2025
- E83.-: Störungen des Mineralstoffwechsels
- E83.0: Störungen des Kupferstoffwechsels
- Menkes-Syndrom (kinky hair) (steely hair)
- Wilson-Krankheit
- E83.0: Störungen des Kupferstoffwechsels
- F02.-:* Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- F02.8*: Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheitsbildern
-
Demenz (bei):
- Epilepsie (G40.-†)
- Hepatolentikulärer Degeneration [Morbus Wilson] (E83.0†)
- Hyperkalziämie (E83.5-†)
- Hypothyreose, erworben (E01.-†, E03.-†)
- Intoxikationen (T36-T65†)
- Lewy-Körper-Krankheit (G31.82†)
- Multipler Sklerose (G35.-†)
- Neurosyphilis (A52.1†)
- Niazin-Mangel [Pellagra] (E52†)
- Panarteriitis nodosa (M30.0†)
- Systemischem Lupus erythematodes (M32.-†)
- Trypanosomiasis (B56.-†, B57.-†)
- Urämie (N18.-†)
- Vitamin-B12-Mangel (E53.8†)
- Zerebraler Lipidstoffwechselstörung (E75.-†)
-
Demenz (bei):
- F02.8*: Demenz bei anderenorts klassifizierten Krankheitsbildern
- N16.-:* Tubulointerstitielle Nierenkrankheiten bei anderenorts klassifizierten Krankheiten
- N16.3*: Tubulointerstitielle Nierenkrankheiten bei Stoffwechselkrankheiten
- Tubulointerstitielle Nierenkrankheiten bei:
- Glykogenspeicherkrankheit (E74.0†)
- Wilson-Krankheit (E83.0†)
- Zystinose (E72.0†)
- Tubulointerstitielle Nierenkrankheiten bei:
- N16.3*: Tubulointerstitielle Nierenkrankheiten bei Stoffwechselkrankheiten
Quelle: In Anlehnung an die ICD-10-GM Version 2025, BfArM.